Leitsatz (redaktionell)
Für die von der Leistungspflicht der KK ausgeschlossenen Krankheiten steht den versicherungsberechtigten Rentnern wieder ein Anspruch zu, wenn sie wegen dieser Erkrankungen nach ihrem Beitritt nicht mehr behandlungsbedürftig gewesen, aber wieder behandlungsbedürftig geworden sind.
Normenkette
RVO § 310 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Februar 1962 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin bezieht seit dem 1. November 1956 ein Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit (Bescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte - BfA - vom 19. Mai 1958). Sie gehört nicht zu dem in § 165 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) genannten Personenkreis, der mit der Rentenantragstellung in der gesetzlichen Krankenversicherung (KrV) pflichtversichert ist.
Am 24. Juni 1958 erklärte sie bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) ihren Beitritt zur KrV als freiwillig Versicherte. Der Beratungsarzt der beklagten AOK stellte bei der Klägerin behandlungsbedürftige " anginoide Beschwerden, Cholecystopathie, Osteochondrose der Wirbelsäule" fest. Daraufhin wies die beklagte AOK den Beitritt der Klägerin zurück (Bescheid vom 26. Juni 1958). Ihr Widerspruch hatte keinen Erfolg. In dem anschließenden gerichtlichen Verfahren erstritt die Klägerin ein obsiegendes Urteil des Landessozialgerichts (LSG), das rechtskräftig wurde, nachdem die beklagte AOK nach Kenntnis des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. März 1960 (BSG 12, 47) die Revision zurückgenommen hatte.
Die beklagte AOK schloß nunmehr die beim Beitritt im Juni 1958 festgestellten Erkrankungen "Herzbeschwerden, Gallenerkrankung, Osteochondrose der Wirbelsäule" von den Kassenleistungen aus (Bescheid vom 9. August 1960). Der Widerspruch der Klägerin wurde von der Widerspruchsstelle der beklagten AOK zurückgewiesen (Bescheid vom 30. August 1960).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Februar 1961). Es ist der Auffassung, der von der beklagten AOK festgestellte Ausschluß bestimmter Erkrankungen von den Kassenleistungen folge aus § 310 Abs. 2 Satz 1 RVO.
Mit der Berufung hat die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil und den Bescheid der beklagten AOK vom 9. August 1960 idF des Widerspruchsbescheids vom 30. August 1960 aufzuheben.
Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 22. Februar 1962). Es hält den Ausschluß der in den angefochtenen Bescheiden näher bezeichneten Erkrankungen von den Kassenleistungen für rechtmäßig: Die "Grundentscheidung" des Gesetzgebers in § 176 Abs. 3 RVO bestimme zwar auch die Grenzen des der Krankenkasse in § 310 Abs. 3 Satz 2 RVO eingeräumten Ermessens. Der Leistungsausschluß für beim Beitritt bereits bestehende Erkrankungen folge aber zwingend aus § 310 Abs. 2 Satz 1 RVO. Hierbei stehe der Krankenkasse kein Ermessensspielraum zu. Der Gesetzgeber habe mit der Neugestaltung des § 176 RVO durch das Gesetz über Krankenversicherung der Rentner (KVdR) nur das Recht zum Beitritt, aber nicht die in § 310 Abs. 2 Satz 1 RVO geregelten Ansprüche beigetretener Versicherungsberechtigter auf Leistungen neu geordnet. Es sei nicht ersichtlich, daß die mit der Einführung der Versicherungsberechtigung für bestimmte Rentnergruppen verfolgte sozialpolitische Zielsetzung des Gesetzgebers dahin gegangen sei, den Geltungsbereich des § 310 Abs. 2 Satz 1 RVO für diese Rentner einzuschränken. Der Versicherungsschutz der versicherungsberechtigten Rentner werde auch nicht "praktisch entwertet" (BSG 12, 53), wenn die Krankenkasse wegen aller beim Beitritt bereits bestehenden Erkrankungen einschließlich der Rentenleiden nicht zur Leistung verpflichtet sei. Der Begriff des "Rentenleidens" sei der Sozialversicherung fremd. Noch schwieriger sei der Begriff des "Altersleidens" abzugrenzen. Folge man der in BSG 12, 53 vertretenen Auffassung, so würden sogar innerhalb des vom Gesetzgeber in § 176 Abs. 1 Nr. 4 RVO zusammengefaßten Personenkreises beim Leistungsausschluß Unterschiede auftauchen, die im Gesetz keine Stütze finden.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem Berufungsantrag zu erkennen.
Sie hat unrichtige Anwendung des § 310 Abs. 2 Satz 1 RVO gerügt: Würden die beim Beitritt zur KrV bestehenden Rentenleiden von den Kassenleistungen ausgeschlossen, so würde die Versicherungsberechtigung für Rentner aus eigener Versicherung "sozial kaum eine Bedeutung" haben. Die Rentenversicherungsträger hätten Beitragszuschüsse zu leisten, die den Krankenkassen zugute kämen, ohne daß die Krankenkassen nennenswerte Leistungen zu erbringen hätten.
Die beklagte AOK hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Ausführungen der Revision nicht für geeignet, die angefochtene Entscheidung zu erschüttern. Das Gesetz habe zwischen pflichtversicherten und freiwillig versicherten Personen wesentliche Unterschiede gemacht, wie aus der unterschiedlichen Regelung des Beginns des Leistungsanspruchs (§§ 206, 207 RVO) und auch aus dem Leistungsausschluß nach § 310 Abs. 2 Satz 1 RVO hervorgehe. Die Einschränkungen für die Versicherungsberechtigten seien notwendig, um die Interessen der Versichertengemeinschaft zu wahren.
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Zu Recht hat das angefochtene Urteil die Feststellung der beklagten AOK in ihrem Bescheid vom 9. August 1960 für rechtmäßig angesehen, daß die in dem genannten Bescheid aufgeführten Krankheiten von den Kassenleistungen ausgeschlossen seien.
Dieser Leistungsausschluß folgt aus § 310 Abs. 2 Satz 1 RVO, wonach eine Erkrankung, die beim Beitritt Versicherungsberechtigter zur KrV bereits besteht, für diese Krankheit keinen Anspruch auf Kassenleistung begründet: Wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom gleichen Tage - 3 RK 3/64 - näher dargelegt hat, gilt die genannte Vorschrift uneingeschränkt auch für versicherungsberechtigte Rentner. Der Gesetzgeber hat dem in § 176 Abs. 1 Nr. 4 RVO aufgeführten Personenkreis, zu dem auch die Klägerin gehört, nur eine Versicherungsberechtigung eingeräumt, bei der zwar "das Recht zum Beitritt" (§ 176 Abs. 3 Satz 1 RVO) ohne Rücksicht auf den Gesundheitszustand des Versicherungsberechtigten gegeben ist, so daß die Krankenkasse den Beitritt versicherungsberechtigter Rentner nicht wegen ihres Gesundheitszustandes zurückweisen darf (BSG 12, 47, 50 ff). Diese Sonderstellung der versicherungsberechtigten Rentner bei ihrem Beitritt hat aber nicht zur Folge, daß sie auch im Hinblick auf Erkrankungen, die beim Eintritt bereits bestehen oder während der satzungsmäßigen Wartezeit eintreten (vgl. § 207 RVO; bei der beklagten AOK besteht eine Wartezeit von sechs Wochen), von den allgemein für Versicherungsberechtigte geltenden Regelungen ausgenommen sind.
Wie die beklagte AOK in ihrem angefochtenen Bescheid zutreffend berücksichtigt hat, beschränkt sich der Leistungsausschluß nach § 310 Abs. 2 Satz 1 RVO auf Erkrankungen, die beim Beitritt behandlungsbedürftig waren (vgl. die Entscheidung vom heutigen Tage - 3 RK 76/61 -). Nach den Feststellungen des LSG ist die Klägerin wegen der im Bescheid der beklagten AOK festgestellten Krankheiten zur Zeit ihres Beitritts behandlungsbedürftig gewesen. Demnach ist der Bescheid zu Recht ergangen. Zutreffend ist ferner der Hinweis der beklagten AOK in ihrem Bescheid, daß der Klägerin Ansprüche auf Kassenleistungen auch wegen der im Bescheid genannten Erkrankungen zustehen, wenn sie wegen dieser Krankheiten nach ihrem Beitritt nicht behandlungsbedürftig gewesen, aber wieder behandlungsbedürftig geworden ist.
Demnach mußte die Revision der Klägerin zurückgewiesen werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen