Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufenthalt des versicherten geschiedenen Mannes von der Scheidung bis zu seinem Tode in Ost-Berlin
Leitsatz (redaktionell)
1. Der erkennende Senat läßt offen, ob der Entscheidung des 4. Senats vom 1967-06-29 4 RJ 383/66 - zu RVO § 1265 S 1 zu folgen wäre und ob die vom 4. Senat für seine Rechtsauffassung angegebenen Gründe auch für AVG § 42 S 2 gelten könnten.
2. Die Angemessenheit des Unterhalts der geschiedenen Frau richtet sich nach den Lebensverhältnissen zur Zeit der Scheidung. Allerdings muß die inzwischen eingetretene allgemeine Erhöhung der Lebenshaltungskosten berücksichtigt werden.
3. Der Auffassung, der Unterhaltsbedarf der Klägerin sei daran zu messen, was der Versicherte möglicherweise in der Bundesrepublik Deutschland verdient hätte, kann nicht gefolgt werden.
4. Eine geschiedene Frau kann trotz eigenen Erwerbseinkommens unterhaltsbedürftig sein.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 42 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1265 S. 2 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Oktober 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob die Klägerin als frühere Ehefrau des im August 1966 in der DDR verstorbenen Versicherten R H Hinterbliebenenrente beanspruchen kann (§ 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Die 1911 geborene Klägerin hatte im Jahre 1940 den Versicherten geheiratet. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, von denen das jüngere im Jahre 1944 geboren wurde. Die Ehe wurde durch rechtskräftiges Urteil des Kreisgerichts Halle vom 4. Mai 1962 ohne Schuldausspruch geschieden. Der im Jahre 1913 geborene Versicherte ging anschließend eine zweite Ehe ein, die im November 1965 ebenfalls geschieden wurde.
Bereits im Dezember 1954 hatte der Versicherte - gelernter Drogist und bis zur Beendigung des 2. Weltkrieges Berufssoldat - seinen Wohnsitz vom Bundesgebiet in die DDR verlegt. Nach seinen Angaben im Scheidungsverfahren hatte er im Februar 1962 einen monatlichen Nettoverdienst von ca. 410,- DM Ost. Die Klägerin ist als Blumenbinderin selbständig. Ihr Einkommen betrug im Jahre 1966 5.357,- DM.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab. Zwar könne nach den Gründen des Scheidungsurteils die überwiegende Schuld des Versicherten an der Scheidung unterstellt werden. Der Versicherte habe jedoch vor seinem Tode ein monatliches Bruttoentgelt von 405,- DM Ost und vom 25. November 1965 an nur noch Krankengeld bezogen.
Auch habe er Unterhalt für seinen Sohn aus zweiter Ehe leisten müssen. Da andererseits die Klägerin in der gleichen Zeit ein monatliches Einkommen von ca. 480,- DM gehabt habe, müsse ihre Unterhaltsbedürftigkeit verneint werden. Eine Unterhaltspflicht des Versicherten zur Zeit seines Todes habe daher nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) nicht bestanden.
Die Klage hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) billigte die Rechtsansicht der Beklagten.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 42 AVG.
Die Klägerin beantragt, die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 29. Oktober 1970 und des Sozialgerichts (SG) Koblenz vom 12. November 1969 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Januar 1969 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr vom 1. November 1967 an Geschiedenen-Witwenrente nach § 42 AVG zu gewähren;
hilfsweise beantragt sie,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie stimmt der Entscheidung des LSG im Ergebnis zu.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß das Scheidungsurteil des Kreisgerichts Halle vom Mai 1962 auch im Bundesgebiet wirksam ist, nachdem bisher ein Gericht der Bundesrepublik in einem Verfahren nach den §§ 606 ff der Zivilprozeßordnung (ZPO) den Fortbestand der Ehe über den Scheidungszeitpunkt hinaus bis zum Tode des Versicherten nicht festgestellt hat (vgl. BSG 21, 10 und die dortigen Hinweise auf die einschlägige ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - BGH -; vgl. neuerdings ebenso Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 24.11.1970 in VersorgB 1971, 65).
Der Klageanspruch ist daher nach § 42 AVG zu beurteilen. Da nach den von der Revision nicht angegriffenen und somit für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tod keinen Unterhalt geleistet hat und auch eine Verpflichtung zur Unterhaltsleistung aus sonstigen Gründen i.S. des § 42 Satz 1 AVG nicht in Betracht kommt, hängt der Rentenanspruch der Klägerin allein davon ab, ob ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte. Im Hinblick auf § 42 Satz 2 AVG ist dabei die Leistungsfähigkeit des Versicherten zu unterstellen.
Der 4. Senat des BSG hat im Urteil vom 29. Juni 1967 - 4 RJ 383/66 (FamRZ 1967, 624, 626) entschieden, daß ein versicherter geschiedener Mann, der sich von der Scheidung an bis zu seinem Tode in O aufgehalten hat, der ehegesetzlichen Unterhaltspflicht, wie sie in der Bundesrepublik normiert ist, nicht unterworfen war. Der erkennende Senat läßt offen, ob dieser lediglich zu § 1265 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (= § 42 Satz 1 AVG) ergangenen Entscheidung zu folgen wäre und ob die vom 4. Senat für seine Rechtsauffassung angegebenen Gründe auch für § 42 Satz 2 AVG gelten könnten. Selbst wenn man nämlich mit der Rechtsprechung des BGH zum interzonalen Privatrecht für Scheidungsfolgen (vgl. BGHZ 34, 142; 38, 1; 42, 103, 108) den Sachverhalt dem EheG zuordnet und dabei mit den Ausführungen des LSG die Unterhaltspflicht des Versicherten zugunsten der Klägerin - trotz Fehlens eines Schuldausspruchs im Scheidungsurteil - nach § 58 Abs. 1 EheG prüft, kann die Revision keinen Erfolg haben.
Der Revision ist insoweit zwar zuzugeben, daß der für die geschiedene Frau angemessene Unterhalt keine absolute Größe ist, sondern sich gemäß § 58 Abs. 1 EheG nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten richtet. Die Unterhaltsbedürftigkeit der Frau kann deshalb auch nicht losgelöst von den Einkommensverhältnissen des geschiedenen Mannes beurteilt werden. Wenn die Revision aber weiter meint, das LSG hätte für die Frage, ob die Erträgnisse der Erwerbstätigkeit der Klägerin für deren angemessenen Unterhalt i.S. des § 58 Abs. 1 EheG ausreichend gewesen sind, auf den (vom LSG nicht näher abgegrenzten) letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten abstellen müssen, so verkennt sie, daß sich die Angemessenheit des Unterhalts der geschiedenen Frau nach den Lebensverhältnissen zur Zeit der Scheidung richtet. Allerdings muß - im Hinblick auf den zwischen der Scheidung im Jahre 1962 und dem Tod des Versicherten im Jahre 1966 liegenden Zeitraum - die inzwischen eingetretene allgemeine Erhöhung der Lebenshaltungskosten berücksichtigt werden (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 7. Juli 1970 - 12 RJ 446/66 mit weiteren Nachweisen).
Auszugehen ist dabei in der Regel von den tatsächlichen Einkommensverhältnissen der Ehegatten zur Zeit der Scheidung. Der Auffassung der Revision, der Unterhaltsbedarf der Klägerin sei daran zu messen, was der Versicherte möglicherweise in der Bundesrepublik verdient hätte, kann nicht gefolgt werden.
Der Hinweis der Revision auf das Urteil des erkennenden Senats vom 31. Mai 1967 (BSG 27, 1, 4) geht schon deswegen fehl, weil hier - entgegen dem jener Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt - keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Versicherte zur Zeit der Scheidung es unterlassen hat, einer ihm zuzumutenden und sich ihm bietenden Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der Versicherte war vielmehr damals in der DDR als Arbeitnehmer berufstätig. Es ist auch eine durch nichts bewiesene Annahme, daß der zur Zeit der Scheidung fast 49 Jahre alte und seit geraumer Zeit dem erlernten Beruf entwöhnte Versicherte damals als Drogist überhaupt noch einen Arbeitsplatz gefunden und gegebenenfalls den von der Revision behaupteten Verdienst erzielt hätte.
Das LSG hat auch die für die Beurteilung des angemessenen Unterhalts der Klägerin notwendigen Feststellungen über die Einkommensverhältnisse beider Ehegatten im Zeitpunkt der Scheidung getroffen. In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils wird zwar nur das Nettoeinkommen der Klägerin im Todesjahr des Versicherten (1966) ausdrücklich mit rund 400,- DM beziffert. Aus dem Gesamtinhalt des Urteils - insbesondere unter Berücksichtigung der Bezugnahme auf die Verhandlungsniederschriften im Scheidungsverfahren - läßt sich indes entnehmen, daß das LSG von einem seit der Ehescheidung im Jahre 1962 gleichbleibenden monatlichen Nettoeinkommen der Klägerin von ca. 400,- DM und auch vom gleichen Nettoeinkommen des Versicherten zur Zeit der Scheidung ausgegangen ist. Dies um so mehr, als die Abschrift der Verhandlungsniederschrift des Kreisgerichts Halle vom 12. Januar 1962, in welcher der Versicherte das monatliche Bruttoeinkommen der beiden Ehegatten mit jeweils ca. 450,- DM angegeben hat, dem LSG vom Prozeßbevollmächtigten der Klägerin übergeben worden ist.
Zur Ermittlung des angemessenen Unterhalts zur Zeit der Scheidung sind die somit aus dem angefochtenen Urteil ausreichend feststellbaren Nettoeinkünfte der beiden Ehegatten von jeweils 400,- DM zusammenzurechnen, wobei zugunsten der Klägerin DM-Ost gleich DM-West gesetzt werden kann. Aus dem Gesamteinkommen von 800,- DM ist als angemessener Unterhalt der geschiedenen Frau ein Betrag in Höhe von 1/3 bis 3/7 dieses Gesamteinkommens anzusetzen (vgl. BSG-Urteil vom 9.2.1971 - SozR Nr. 58 zu § 1265 RVO mit weiteren Nachweisen). Selbst wenn man danach den maximalen Betrag von 345,- DM als angemessenen monatlichen Unterhalt der Klägerin zur Zeit der Scheidung zugrunde legt, erreicht der auf die Zeit des Todes des Versicherten durch Berücksichtigung der zwischenzeitlich erhöhten Lebenshaltungskosten zu übertragene Unterhalt nicht einen so hohen Betrag, daß die Klägerin ihn damals nicht aus den Erträgnissen ihrer Erwerbstätigkeit hätte bestreiten können. Dabei ist die Steigerung der Lebenshaltungskosten in der Zeit von der Scheidung (1962) bis zum Tode des Versicherten (1966) mit der Entscheidung des 4. Senats vom 29. Oktober 1968 (SozR Nr. 47 zu § 1265 RVO) nach den vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Preisindexzahlen zu bemessen. Danach stieg der Preisindex für die Lebenshaltung einer mittleren Verbrauchergruppe von 1962 bis 1966 um 12,1 % (vgl. Wirtschaft und Statistik 1963, S. 4 und 1966, S. 337). Aus dem Ausgangsbetrag des angemessenen Unterhalts der Klägerin im Scheidungsjahr 1962 von höchstens 345,- DM errechnet sich hiernach bis zum Tode des Versicherten im Jahre 1966 ein Unterhalt von rund 387,- DM. Dieser liegt somit noch unter dem vom LSG für das Jahr 1966 festgestellten Nettoeinkommen der Klägerin von 400,- DM.
Den weiteren Ausführungen des LSG, die Erträgnisse der Erwerbstätigkeit seien der Klägerin bei der Anwendung des § 58 Abs. 1 EheG auch anzurechnen, ist zuzustimmen. Zwar kann eine geschiedene Frau trotz eigenen Erwerbseinkommens unterhaltsbedürftig sein, wenn ausnahmsweise die Verweisung der Frau auf die Erträgnisse ihrer Erwerbstätigkeit durch den auf Unterhalt in Anspruch genommenen früheren Mann unbillig wäre. Dies ist nach den jeweiligen Gesamtumständen zu beurteilen (vgl. Urteil des Senats vom 25.11.1970 in FamRZ 1971, 90 mit weiteren Nachweisen). Ein solcher Ausnahmefall ist vom LSG aber zutreffend verneint worden.
Die Klägerin war während und nach ihrer Ehe im Blumengeschäft berufstätig. Sie hatte im Zeitpunkt der Ehescheidung auch kein Kind im schulpflichtigen Alter mehr zu betreuen. Die Revision hat lediglich unsubstantiiert und ohne Begründung vorgetragen, daß die Klägerin zur Zeit der Scheidung gesundheitlich erheblich angegriffen gewesen sei. Allein deswegen können jedoch die erfahrungsgemäß überwiegend leichten Tätigkeiten einer Blumenbinderin und Blumenverkäuferin nicht als gesundheitlich unzumutbar angesehen werden. Insgesamt sind somit Tatsachen weder vom LSG festgestellt noch von der Revision vorgebracht worden, die den Versicherten billigerweise gehindert hätten, die Klägerin auf ihre Berufstätigkeit und ihr Arbeitseinkommen zu verweisen.
Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß auch der Hinweis der Revision, im Falle der Scheidung in der Bundesrepublik hätte sie eine angemessene Unterhaltsvereinbarung erreichen können, für den Rentenanspruch rechtlich unerheblich ist, zumal auch dann die Voraussetzungen des § 42 AVG für die begehrte Hinterbliebenenrente im maßgebenden letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten durchaus hätten fehlen können (vgl. BSG 20, 1). Schließlich ist entgegen den Ausführungen der Revision der Rentenanspruch auch nicht von einer in der Zukunft etwa eintretenden Bedürftigkeit der Klägerin (für die der gestellte Revisionsantrag ohnehin nicht passen würde), sondern davon abhängig, daß die Voraussetzungen des Unterhaltsanspruchs in der Person der Klägerin erfüllt waren, als der Versicherte starb (§ 42 AVG). Dies hat das LSG zutreffend verneint.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen