Leitsatz (redaktionell)
Bei der Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ist die tatsächliche Gestaltung zu untersuchen. Dabei sind sämtliche Umstände zu beachten; die Entscheidung kann nicht allein auf die Angaben des Kindes und der als Pflegeeltern in Betracht kommenden Personen gestützt werden.
Orientierungssatz
Pflegekindschaftsverhältnis iS von § 2 Abs 1 S 1 Nr 6 BKGG:
1. Volljährigkeit als solche schließt nicht von vornherein die Entstehung eines Pflegschaftsverhältnisses aus (vgl BSG 1982-01-20 10 RKg 14/81 = SozR 5870 § 2 Nr 28).
2. Zur Beurteilung der Begründung eines Pflegschaftsverhältnisses.
Normenkette
BKGG § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Fassung: 1964-04-14
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, ob der Klägerin Kindergeld für eine als Volljährige in ihren Haushalt aufgenommene Vollwaise zusteht.
Die im Jahre 1927 geborene, geschiedene Klägerin bezieht Kindergeld für zwei eigene Kinder und zwei Enkelkinder.
Die am 12. Dezember 1959 geborene Ingeborg Halbritter (I.H.), für die von der Klägerin Kindergeld begehrt wird, ist seit dem Tod ihrer Adoptivmutter (28. Februar 1976) Vollwaise. Von da ab lebte sie zunächst bei ihrem 1943 geborenen Adoptivbruder, der auch ihr Vormund war. Im Oktober 1979 nahm die Klägerin sie in ihren Haushalt auf. Im Januar 1980 verließ sie das Gymnasium, ohne das Abitur abgelegt zu haben. Sie ist nicht erwerbstätig, steht aber der Arbeitsvermittlung seit dem 28. April 1980 zur Verfügung. Arbeitslosengeld (Alg) oder Arbeitslosenhilfe (Alhi) erhielt sie bisher nicht; sie lebt von Sozialhilfe.
Den Antrag der Klägerin, ihr Kindergeld für I.H. zu gewähren, lehnte die Beklagte ab. Vor dem Sozialgericht (SG) Speyer hatte die Klägerin keinen Erfolg. Dagegen hat ihr das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz Kindergeld für I.H. ab April 1980 zugesprochen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, nach den glaubhaften Angaben der Klägerin und der glaubhaften Aussage von I.H. nehme I.H. im Haushalt der Klägerin die Stellung einer Pflegetochter ein. Ein Pflegekindschaftsverhältnis könne nicht deshalb verneint werden, weil I.H. bereits volljährig gewesen sei, als sie von der Klägerin aufgenommen worden sei. Sie habe sich voll in deren Familie eingegliedert, so daß ein Pflegekindschaftsverhältnis zu bejahen sei. Auch das Bundessozialgericht (BSG) nehme nicht ausnahmslos, sondern nur für den Regelfall an, daß ein Pflegekind bei der Begründung des Pflegekindschaftsverhältnisses noch im Kindesalter stehen müsse. Mit der Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen § 2 Abs 1 Nr 6 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) idF der Bekanntmachung vom 31. Januar 1975. Zur Begründung bezieht sie sich auf zwei Urteile des erkennenden Senats vom 20. Januar 1982 (10/8b RKg 19/80 und 10 RKg 14/81). Der erkennende Senat habe dort bekräftigt, daß die Begründung eines echten Pflegekindschaftsverhältnisses bei Volljährigen nur unter besonderen Umständen in Betracht gezogen werden könne. Dabei sei vor allem auf die Unfähigkeit des Jugendlichen zur eigenen Lebensgestaltung abzuheben. Eine solche Unfähigkeit von I.H. zur eigenen Lebensgestaltung habe das LSG jedoch nicht festgestellt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. November
1981 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des
Sozialgerichts Speyer vom 19. Mai 1981 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Rechtsstreit ist unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen.
Nach § 2 Abs 1 Nr 6 BKGG idF der Bekanntmachung vom 31. Januar 1975 (BGBl I S 412) werden als Kinder im Sinne dieses Gesetzes auch Pflegekinder berücksichtigt. Das sind solche Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat.
Das LSG hat den Anspruch der Klägerin auf Kindergeld ab April 1980 bejaht, weil zwischen ihr und I.H. ein Pflegekindschaftsverhältnis bestanden habe. Es wurde dabei jedoch nicht in jeder Hinsicht dem Begriff des Pflegekindes gerecht, wie ihn die Rechtsprechung des BSG entwickelt hat (vgl neben den vom LSG erwähnten Entscheidungen BSGE 13, 265; 15, 239; 17, 265 auch 20, 91, 93; 32, 94 f; BSG SozR 5870 § 1 BKGG Nr 16; BSGE 45, 68 f; BSG Sozr § 1258 RVO aF Nr 7).
Dem LSG ist darin beizupflichten, daß Volljährigkeit als solche nicht von vornherein die Entstehung eines Pflegschaftsverhältnisses ausschließt (vgl dazu die Entscheidung des erkennenden Senats vom 20. Januar 1982 - 10 RKg 14/81 - SozR 5870 § 2 Nr 28 und 10/8b RKg 19/80 SozR 5870 § 2 Nr 27). Da jedoch Pflegeverhältnisse üblicherweise schon im Kindesalter begründet werden (es muß sich eben um ein "Pflegekind" handeln), sind diejenigen Tatsachen, auf denen sich die Annahme einer derartigen Beziehung gründen soll, besonders sorgfältig zu ermitteln. Zwar treten die Elemente der Aufsicht, Erziehung und Betreuung, die sonst ein Kindschaftsverhältnis prägen, bei Volljährigen - falls überhaupt noch möglich - stark in den Hintergrund, was wegen der erforderlichen aber auch ausreichenden Familienähnlichkeit des Bandes auch bei der Beurteilung der Pflegekindschaft zu berücksichtigen ist. Doch läßt sich auf die Grundlage der ideellen Dauerbindung (BSGE 17, 265, 167; BSG SozR 5870 § 2 Nr 16 S 66) keinesfalls verzichten. Da es sich bei der Beurteilung der Begründung des Pflegschaftsverhältnisses insoweit nur um eine Prognose handeln kann, ist vermehrt auf tatsächliche Merkmale abzuheben. Für die Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts sind daher sämtliche Umstände heranzuziehen, die für oder gegen einen derartigen - beiderseitigen - Willen zur Dauerbindung sprechen. Der erkennende Senat hat in der erwähnten Entscheidung vom 20. Januar 1982 (10/8b RKg 19/80 - SozR 5870 § 2 Nr 27 -) eine von vornherein auf die Zeit der Schul- und Berufsausbildung begrenzte Aufnahme in den Familienverband als ein Anzeichen dafür angesehen, daß eine ideelle Dauerbindung nicht beabsichtigt war. Er hat dabei auf die ständige Rechtsprechung des BSG hingewiesen, wonach es für die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses nicht ausreichen kann, daß das Pflegekind nur "Kostgänger" sei, es müsse vielmehr wie "zur Familie zugehörig" angesehen und behandelt werden. Auch emotionale Bindungen, insbesondere wenn sie schon längere Zeit zuvor entstanden sind, und die psychische Verfassung des Pfleglings (zB Unfähigkeit zu eigener Lebensgestaltung, vgl Urteil vom 20. Januar 1982 - 10 RKg 14/81 - Sozr 5870 § 2 Nr 28) können eine solche Indizwirkung haben. Sie müssen allerdings, um eine Ausnahme von der Regel zu rechtfertigen, besonders einschneidend sein.
Die Tatsachen, die das LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, sind danach nicht ausreichend. Sie tragen die von ihm gezogene Schlußfolgerung nicht. Seinen Feststellungen hat es im wesentlichen lediglich die eigenen Angaben der Klägerin und die Aussage der als Zeugin vernommenen I.H. zugrunde gelegt; beide sind aber unmittelbar betroffen und am Ausgang des Rechtsstreits interessiert. Der vom LSG vertretenen Auffassung, I.H. habe sich freiwillig der ihr angebotenen mütterlichen Obhut der Klägerin unterstellt, sich ganz wie eine Tochter in deren Hausgemeinschaft eingegliedert und sich wie die übrigen Kinder dem von der Klägerin geleiteten Haushalt angepaßt, liegt allein die Angabe der Klägerin zugrunde, I.H. habe bei ihr familiäre Geborgenheit gesucht und gefunden. I.H. selbst hat dazu lediglich geäußert, sie sei beim Tod der Mutter erst 16 Jahre alt gewesen; als "Nesthäkchen" sei sie sehr verwöhnt worden, weswegen sie noch mütterlichen Rat gesucht und geglaubt habe, die Klägerin könne sich um sie besser kümmern, als dies im Haus ihres Bruders der Fall gewesen sei. Irgendwelche auch nach außen in Erscheinung tretende Fakten, die den Rückschluß erlaubten, I.H. habe sich der "mütterlichen Obhut" der Klägerin unterstellt und sich in deren Hausgemeinschaft "wie eine Tochter" eingegliedert, sind nicht ersichtlich. Vor allem aber fehlt es an Anhalt dafür, daß die zwischen der Klägerin und I.H. begründete Beziehung als familienähnliche Dauerbindung und nicht bloß als vorübergehende Überbrückung gedacht war. In diesem Zusammenhang sind genauere Feststellungen darüber bedeutsam, ob und wann I.H. ihre leiblichen Eltern verloren hat (nach den Feststellungen des LSG starb die Adoptivmutter am 24. Februar 1972, während die Klägerin selbst angab, I.H. habe "vom Tod ihrer Mutter im Februar 1976 an" bei ihrem Bruder gewohnt), ab wann die Adoptivelternschaft bestanden hat, welches Vermögen die Mutter und/oder die Adoptivmutter hinterlassen haben, wovon das Kostgeld von 300,-- DM monatlich bestritten wurde, ob, seit wann und in welcher Höhe Waisenrente bezogen wird, seit wann und in welcher Höhe I.H. Sozialhilfe erhält, weshalb I.H. schon kurz nach ihrem Umzug zur Klägerin aus dem Gymnasium ausgeschieden ist und bisher weder eine Neuausbildung begonnen noch sonst im Berufsleben Fuß zu fassen vermocht hat, und ob die Klägerin ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der Aufnahme von I.H. in ihren Haushalt hatte. Aufschluß darüber könnte das LSG unter anderem durch die Vernehmung der noch in ihrem Haushalt lebenden älteren Kinder der Klägerin, des Adoptivbruders von I.H. und dessen Frau sowie durch Ausschöpfung des Inhalts der vorhandenen Verwaltungsakten gewinnen.
Die noch fehlenden Feststellungen zur Beurteilung eines Pflegekindschaftsverhältnisses wird das LSG zu treffen haben. Auch werden ggf die Änderungen durch das 9. Gesetz zur Änderung (Streichung von Absatz 4a des § 2 BKGG durch Art 1 Nr 1 Buchst g mit Wirkung vom 1. Januar 1982 und Neufassung der Übergangsvorschrift des § 44 durch Art 1 Nr 7) durch das 9. Gesetz zur Änderung des BKGG vom 20. September 1981 (BGBl I 1566) zu beachten sein.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen