Verfahrensgang
SG Münster (Urteil vom 03.08.1978) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 3. August 1978 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Waisenrente für die Zeit vom 1. November 1974 bis 30. September 1975.
Der am 8. März 1950 geborene Kläger arbeitete während der streitigen Zeit als Verwaltungsangestellter und erhielt Bezüge nach der Vergütungsgruppe V c des Bundesangestellten-Tarifvertrages (BAT). Zum Wintersemester 1974/75 nahm er an der pädagogischen Hochschule in Münster ein Studium auf.
Seinen Antrag auf Wiedergewährung der Waisenrente aus der Versicherung seines verstorbenen Vaters lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 13. Januar 1975 ab mit der Begründung, die Schulausbildung umfasse nicht den wesentlichen Teil der Arbeitskraft. Nach Aufgabe der Berufstätigkeit bewilligte die Beklagte dem Kläger Waisenrente für die Zeit ab 1. Oktober 1975.
Durch Urteil vom 3. August 1978 hat das Sozialgericht Münster (SG) die Beklagte zur Gewährung von Waisenrente für die Zeit vom 1. November 1974 bis 30. September 1975 verurteilt mit der Begründung, als Student der pädagogischen Hochschule in Münster befinde sich der Kläger in einer Berufsausbildung. Diese beanspruche Zeit und Arbeitskraft des Klägers jedenfalls überwiegend. Die Gesamtbelastung des Klägers durch die Berufsausbildung belaufe sich auf mindestens 43–44 Wochenstunden. Deswegen sei ihm auch eine Halbtagsbeschäftigung nicht zuzumuten. Wenn er eine Doppelbelastung auf sich nehme, um seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, dürfe dies nicht zum Verlust der Waisenrente führen.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision trägt die Beklagte vor, im Vordergrund stehe hier nicht die Berufsausbildung, sondern das Beschäftigungsverhältnis. Mit seinem Arbeitseinkommen könne der Kläger den vollen Lebensunterhalt decken. Bei diesem Arbeitseinkommen handele es sich auch nicht um einen Unterhaltszuschuß. Zeit und Arbeitskraft des Klägers würden nicht überwiegend durch die Ausbildung, sondern durch die versicherungspflichtige Beschäftigung beansprucht. Es sei nicht Sinn der Bestimmung des § 1267 Reichsversicherungsordnung (RVO), eine über 18 Jahre alte Waise während einer Ausbildung bei gleichzeitiger voller Beschäftigung finanziell besser zu stellen als eine Waise, die nur einer Beschäftigung ohne Ausbildung nachgehe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Münster vom 3. August 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, das Bestehen einer Berufsausbildung wie hier reiche zur Begründung des Anspruches auf Waisenrente auch dann aus, wenn neben der Ausbildung ein Beschäftigungsverhältnis bestehe.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Waisenrente nach § 1267 Abs. 1 RVO. Die in § 1267 Abs. 2 RVO aufgeführten Einkommensgrenzen gelten für den vorliegenden Fall nicht, weil diese Vorschrift erst durch das 20. Rentenanpassungsgesetz vom 27. Juni 1977 (BGBl I S 1040) eingefügt wurde und zum anderen die Einkommensgrenzen nur für Bezüge aus dem Ausbildungsverhältnis, Unterhaltsgeld oder Übergangsgeld gelten. Bei dem Einkommen des Klägers aus seiner Beschäftigung handelt es sich indessen um ein Arbeitsentgelt, das ihm für die geleistete Arbeit gewährt wurde. Die Ausbildung des Klägers wurde außerhalb dieses Beschäftigungsverhältnisses durchgeführt; sie wurde vom Arbeitgeber des Klägers weder betrieben noch veranlaßt.
Nach den Feststellungen des SG war die Ausbildung des Klägers während der streitigen Zeit ihrer Art nach zumindest geeignet, Zeit und Arbeitskraft eines Studierenden überwiegend in Anspruch zu nehmen (vgl. BSG, Urteil vom 5.7.1961 – 4 RJ 209/59 = BSGE 14, 285, 287). Es handelte sich um eine Berufsausbildung iSd § 1267 Abs. 1 RVO. Diesem Umstand hat die Beklagte auch dadurch Rechnung getragen, daß sie dem Kläger nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses ab 1. Oktober 1975 Waisenrente gewährte.
Indessen muß das Vorliegen einer Berufsausbildung nicht in jedem Falle den Anspruch auf Gewährung der Waisenrente nach § 1267 Abs. 1 RVO begründen. Insbesondere kann der Bezug von Arbeitsentgelt während der Ausbildung dem Rentenanspruch entgegenstehen. Dies ist der Fall, wenn sich die Ausbildung im Rahmen einer Erwerbstätigkeit vollzieht, die den vollen Unterhalt der Waise sicherstellt (BSG, Urteil vom 16. Februar 1971 – 1/11 RA 52/69 = SozR Nr. 44 zu § 1267 RVO Bl Aa 48), wenn das Arbeitsentgelt für die jeweilige wirtschaftliche Situation der Waise beherrschend ist, so daß demgegenüber die Besonderheit des Ausbildungsverhältnisses zurücktritt (BSG, Urteil vom 11. Juli 1974 – 4 RJ 321/73 – SozR 2200 § 1267 Nr. 2 S 7; vgl. auch Urteil vom 23. November 1966 – 11 RA 329/65 = BSGE 25, 289 = SozR Nr. 25 zu § 1267 RVO; Urteil vom 6. April 1965 – 4 RJ 479/61 = SozR Nr. 15 zu § 1267 RVO). In diesen Fällen bedarf es nicht der Gewährung von Waisenrente zur Sicherung des Lebensunterhaltes, weil dieser durch das Arbeitseinkommen ausreichend gedeckt ist. Die Waisenrente würde hier ihren sich aus der Unterhaltsersatzfunktion ergebenden Zweck verfehlen.
Ein von der Waise bezogenes Entgelt wurde nur dann als rentenunschädlich behandelt, wenn es sich um eine Vergütung aus dem Ausbildungsverhältnis (zB Unterhaltszuschuß) handelte (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 1974 – 5 RJ 77/73 = SozR 2200 § 1267 Nr. 5 S 18; BSG, Urteil vom 6. Februar 1975 – 1 RA 63/74 = SozR 2200 § 1262 Nr. 4 S 10 f). Der wesentliche Unterschied zwischen einer Ausbildungsvergütung und einem Arbeitsentgelt liegt darin, daß jenes nach seiner Funktion nicht den Lebensunterhalt sicherstellen muß und im übrigen vom Inhalt, Verlauf und Erfolg der Ausbildung abhängen kann, während das Arbeitsentgelt bei vollwertiger Arbeit und üblichen Arbeitsbedingungen unabhängig von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Ausbildungsverhältnisses regelmäßig zur Sicherung des Lebensunterhaltes bestimmt ist. Dieser Unterschied zwischen Ausbildungsvergütung und Arbeitsentgelt rechtfertigt auch eine unterschiedliche Behandlung im Rahmen eines Anspruches auf Waisenrente unter dem Gesichtspunkt der Bedarfssituation, des sozialen Betroffenseins der Waise.
Indessen steht der Bezug von Arbeitsentgelt nicht schlechthin dem Anspruch auf Waisenrente entgegen. Dem SG ist darin zu folgen, daß eine Vielzahl von Studenten während des Studiums je nach den gebotenen Möglichkeiten lohnbringende Arbeiten verrichten. Das hierdurch erzielte Arbeitsentgelt kann durchaus im Einzelfall den Lebensunterhalt sicherstellen. Dennoch muß die Höhe dieses Entgeltes im Einzelfall nicht einen Rentenanspruch ausschließen (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 1974 – 5 RJ 77/73 – SozR 2200 § 1267 Nr. 5). Das Gesetz (§ 1267 Abs. 1 RVO) enthält insoweit weder Einkommensgrenzen noch Regelungen über die Anrechnung von Arbeitseinkommen.
Von den Gelegenheitseinkünften, die vielfach nur von den vorhandenen Möglichkeiten abhängen und der Höhe nach kaum für die Lebensführung eines Studenten fest eingeplant werden können, sind jedoch die Einkünfte aus einem Dauerarbeitsverhältnis mit voller Arbeitsleistung zu unterscheiden, für die das volle Entgelt wie bei einem vergleichbaren, nicht in Berufsausbildung befindlichen Arbeitnehmers gewährt wird. In einem solchen Fall wird die wirtschaftliche und soziale Situation eines Studenten weniger durch das Studium als durch das Arbeitsverhältnis und das damit erzielte Arbeitseinkommen geprägt. Bestand dieses Arbeitsverhältnis schon vor Aufnahme des Studiums, so entsteht hierdurch keine Bedarfssituation, kein sozialer Nachteil, der durch eine Waisenrente ganz oder teilweise auszugleichen wäre.
Die Stellung der Waise in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht wird dann nicht durch ihre Berufsausbildung, sondern durch ihre Tätigkeit im Erwerbsleben geprägt; der Status als Arbeitnehmer überlagert den der Berufsausbildung als Student. Steht ein solcher Arbeitnehmer in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis, so führt das auch im Beitragsrecht dazu, seine Erwerbstätigkeit dem Studium gegenüber als dominant anzusehen und ihn demgemäß zur Beitragsleistung daraus zu verpflichten (vgl. BSG, Urteil vom 12. November 1975 – 3/12 RK 13/74 = BSGE 41, 24 f).
Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Kläger befand sich auch nach Aufnahme seines Studiums weiter in einem festen Arbeitsverhältnis, leistete dort vollwertige Arbeit und bezog weiter sein volles Arbeitsentgelt. Seine Arbeitsleistung hat er nach eigenem Vorbringen den Bedürfnissen seines Studiums angepaßt und nicht umgekehrt. Dies geschah durch Ausnutzung der Möglichkeiten der gleitenden Arbeitszeit sowie durch Aufwendung seines Jahresurlaubs. Damit gab das Arbeitsverhältnis auch weiterhin den wirtschaftlichen und sozialen Status des Klägers das Gepräge. Ein Unterhaltsbedarf, der durch die Gewährung der Waisenrente auszugleichen wäre, ist nicht eingetreten. Der Inhalt des schon vorher bestehenden Arbeitsverhältnisses hat sich nicht geändert. Wegen dieses, das Studium überlagernden Arbeitsverhältnisses lag keine Berufsausbildung iSd § 1267 Abs. 1 RVO vor. Eine Waisenrente war demnach nicht zu gewähren (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 19. Dezember 1974 – 8/7 RKg 6/73 = SozR 5870, § 2 Nr. 2 und Urteil vom 29. November 1967 – 1 RA 217/66 – SozR Nr. 31 zu § 1267 RVO). Beim Kläger bestand aufgrund der vollen Eingliederung ins Erwerbsleben nicht die vom Gesetzgeber für den Bezug von Waisenrente unterstellte Bedarfssituation, Diese trat erst ein, als der Kläger sein Beschäftigungsverhältnis aufgab, um sich ganz dem Studium widmen zu können, für diese Zeit hat die Beklagte dem Kläger aber Waisenrente gewährt.
Nach alldem war auf die Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen