Leitsatz (amtlich)
Eine Versicherte hat nicht in den letzten 20 Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit iS des RVO § 1248 Abs 3 ausgeübt, wenn sie zwar eine ihrer Art nach rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, aus persönlichen Gründen aber versicherungsfrei war (Anschluß an die Urteile des 1. Senats BSG 1962-03-29 1 RA 24/60 = BSGE 16, 284 und BSG 1963-01-29 1 RA 322/61 = SozR Nr 14 § 1248 RVO). Dies gilt auch dann, wenn für diese Zeit Beiträge in der irrtümlichen Annahme der Versicherungspflicht entrichtet sind, die nach den RVO §§ 1446 aF, RVO 1422 nF als freiwillige Beiträge gelten.
Normenkette
RVO § 1248 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 1446 Fassung: 1937-12-21, § 1422 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 16. August 1961 und das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 7. September 1960 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die am ... 1899 geborene, in Bremen wohnende Klägerin war von 1915 bis 1927 invalidenversicherungspflichtig beschäftigt. Von 1927 bis 1941 versah sie den eigenen Haushalt und entrichtete keine Beiträge. Seit 1941 war sie wieder versicherungspflichtig beschäftigt, und zwar von August 1941 bis April 1945 bei der A. G.-W, von August 1946 bis Dezember 1946 bei der B-V ...-G und von Oktober 1950 bis 30. April 1952 wieder bei der A. G.-W. Anschließend war sie bis Ende Oktober 1958 zwar weiter als Arbeiterin bei der A. G.-W gegen Entgelt beschäftigt, auch wurden für sie in der Annahme, sie sei rentenversicherungspflichtig, Beiträge entrichtet, sie war aber wegen Bezuges einer Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes bis zum Erlaß des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) versicherungsfrei. Seit Januar 1959 ist sie arbeitslos und hat sich der Meldekontrolle beim Arbeitsamt unterzogen. Es sind für die letzten 20 Jahre vor der Antragstellung, d. h. für die Zeit vom 5. März 1939 bis zum 4. März 1959, mehr als 120 Monatsbeiträge entrichtet worden. Ohne Berücksichtigung der für die Zeit der Versicherungsfreiheit infolge des Witwenrentenbezugs entrichteten Beiträge sind dagegen nicht mehr als 120 Monatsbeiträge entrichtet.
Am 4. März 1959 beantragte die Klägerin die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes nach § 1248 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 25. Juni 1959 mit folgender Begründung ab: Die Klägerin habe zwar am 7. Februar 1959 das 60. Lebensjahr vollendet, die Wartezeit von 180 Kalendermonaten erfüllt und ihre letzte versicherungspflichtige Beschäftigung am 31. Oktober 1958 aufgegeben, sie habe aber in den letzten zwanzig Jahren nicht überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt, weil ihre Beschäftigung bei der A. G.-W vom 1. Mai 1952 an auf Grund des Bezuges der Witwenrente versicherungsfrei gewesen sei. Die während dieser Zeit verwendeten Beiträge könnten nur als freiwillige Beiträge angesehen werden.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 13. Juli 1959 Klage erhoben.
Nachdem die Klägerin ein Jahr arbeitslos gewesen war, gewährte ihr die Beklagte durch Bescheid vom 2. Mai 1960 das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 2 RVO in Höhe von DM 100,80 monatlich für die Zeit vom 1. Januar 1960 an. Die Beklagte nahm dabei die Berechnung der Rente nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften gemäß Art. 2 § 42 ArVNG nicht vor, weil für die Klägerin nicht, wie diese Vorschrift es verlangt, für das Jahr 1959 neun Monatsbeiträge entrichtet sind.
Durch Urteil vom 7. September 1960 hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt - unter Aufhebung der Bescheide vom 25. Juni 1959 und 2. Mai 1960 -, der Klägerin vom 1. Februar 1959 an Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 3 RVO unter Anwendung des Art. 2 § 42 ArVNG zu zahlen; es hat die Berufung zugelassen.
Durch Urteil vom 16. August 1961 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß das Altersruhegeld mit dem 1. März 1959 beginnt; es hat die Revision zugelassen.
Das LSG hat die Voraussetzungen des § 1248 Abs. 3 RVO für gegeben angesehen. Insbesondere sei die Klägerin während der letzten 20 Jahre überwiegend rentenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen, denn auch von 1952 bis 1957 sei dies der Fall gewesen. Der Umstand, daß sie während dieser Zeit wegen des Bezuges von Witwenrente versicherungsfrei gewesen sei, ändere nichts daran, daß sie im Sinne dieser Vorschrift versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision mit dem Antrag eingelegt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Bremen und des Urteils des Sozialgerichts Bremen die Klage abzuweisen.
Sie ist entgegen dem Berufungsgericht der Auffassung, daß eine versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 1248 Abs. 3 RVO auch dann nicht gegeben sei, wenn die Beschäftigung deshalb versicherungsfrei sei, weil der Versicherten persönliche Befreiungsgründe zur Seite stünden. Aus § 25 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) - den das Berufungsgericht entsprechend angewendet hatte - müsse gefolgert werden, daß nur in diesen besonderen Fällen der Versicherungsfreiheit wegen Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze etwas anderes gelte.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die zulässige Revision ist auch begründet.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen steht der Klägerin ein Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO für die Zeit vom 1. März 1959 bis zum 31. Dezember 1959, d. h. vom Beginn des Antragsmonats bis zum Schluß des Zeitraums, der dem Beginn des inzwischen gewährten vorzeitigen Altersruhegeldes nach § 1248 Abs. 2 RVO - 1. Januar 1960 - vorausgeht, nicht zu.
Das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO könnte für die streitige Zeit nur gewährt werden, wenn die Klägerin in den letzten 20 Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hätte. Die Klägerin war zwar in den letzten 20 Jahren - mag man diesen Zeitraum vom Zeitpunkt der Antragstellung oder vom Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres an zurückrechnen - überwiegend, d. h. mehr als zehn Jahre, als Arbeiterin gegen Entgelt beschäftigt, hat also eine ihrer Art nach versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt, war aber von 1952 bis 1957 wegen Bezuges einer Witwenrente rentenversicherungsfrei. Die während dieser Zeit ausgeübte Beschäftigung war daher keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Ohne diese Zeit aber war die Klägerin in den letzten 20 Jahren nicht überwiegend rentenversicherungspflichtig beschäftigt, so daß diese Voraussetzung des § 1248 Abs. 3 RVO für die Gewährung vorzeitigen Altersruhegeldes nicht erfüllt ist.
Daß für diese Auffassung der Wortlaut der Vorschrift spricht, hat auch das Berufungsgericht nicht verkannt. Es hat aber geglaubt, aus dem Sinn, den die Vorschrift nach dem Willen des Gesetzgebers habe, zu einer anderen Auslegung der Vorschrift gelangen zu sollen. Dem konnte der erkennende Senat jedoch nicht beitreten. Es trifft nicht zu, wie das Berufungsgericht aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes geschlossen hat, daß der Grund der in § 1248 Abs. 3 RVO getroffenen gesetzlichen Regelung allein der ist, daß der frühzeitigen Abnutzung berufstätiger Frauen durch ihre doppelte Belastung mit Beruf und Haushalt Rechnung getragen werden soll. Wie das Bundessozialgericht (BSG) schon wiederholt mit eingehender Begründung ausgesprochen hat, macht § 1248 Abs. 3 RVO zur Voraussetzung für die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes außerdem auch noch das Vorhandensein einer konkreten, engen Bindung der Versicherten an die gesetzliche Rentenversicherung dadurch, daß eine tatsächliche Verpflichtung zur Beitragsentrichtung für sie bestanden hat und solche Beiträge auch geleistet worden sind. Dabei hat das BSG auch schon ausdrücklich entschieden, daß es deshalb nicht genügt, um die Voraussetzung rentenversicherungspflichtiger Beschäftigung in den letzten 20 Jahren zu erfüllen, daß die Beschäftigung der Versicherten ihrer Art nach rentenversicherungspflichtig gewesen sein könnte und dies, wie im vorliegenden Falle, nur wegen des Bezuges einer Witwenrente nicht war. (Zu vgl. Urt. vom 29. März 1962, BSG 16, 284 = SozR RVO § 1248 Nr. 11; Urt. vom 14. Juni 1962 SozR RVO § 1248 Nr. 13; Urt. vom 29. Januar 1963 aaO Nr. 14; Urt. vom 3. März 1964 aaO Nr. 20; Urt. vom 23. Juni 1964 aaO Nr. 24.) Diesen Entscheidungen hat sich der erkennende Senat angeschlossen. Im vorliegenden Falle ging man zwar auch bei der Beitragsentrichtung für die strittige Zeit von 1952 bis 1957 davon aus, es bestehe Versicherungspflicht, und es sind deshalb Beiträge als Pflichtbeiträge entrichtet worden. Diese Meinung war aber mit Rücksicht auf die Versicherungsfreiheit der Klägerin irrig, und die in der irrtümlichen Annahme der Versicherungspflicht entrichteten Beiträge gelten als freiwillige (§§ 1446 RVO aF; 1422 RVO). Die Entrichtung von Beiträgen allein ohne das Bestehen von Versicherungspflicht aber reicht nicht aus, um jene enge Bindung der Versicherten an die gesetzliche Rentenversicherung herzustellen, die das Gesetz durch die Worte "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung" unmißverständlich fordert. Es geht auch nicht an, auf Fälle der vorliegenden Art die Vorschrift des § 25 Abs. 3 Satz 2 AVG entsprechend anzuwenden, wie das Berufungsgericht gemeint hat. In dieser Vorschrift ist für die Rentenversicherung der Angestellten bestimmt, daß mit freiwilligen Beiträgen belegte Beschäftigungszeiten, soweit die Versicherte während dieser Zeiten nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfrei war, eine versicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne des § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG gleichstehen. Hier hat der Gesetzgeber für eine bestimmte Gruppe von Fällen persönlicher Versicherungsfreiheit angeordnet, daß derartige Beschäftigungen wie versicherungspflichtige Beschäftigungen und Tätigkeiten zu behandeln sind, obwohl nicht Pflicht- sondern nur freiwillige Beiträge entrichtet worden sind. Es handelt sich hierbei aber nur um eine Ausnahmeregelung für eine bestimmte Gruppe von Fällen, die nicht auf die übrigen Fälle persönlicher Versicherungsfreiheit anwendbar ist. Man kann nicht annehmen, daß der Gesetzgeber dieser Vorschrift die übrigen Fälle persönlicher Versicherungsfreiheit übersehen hätte, sondern muß davon ausgehen, daß er nur diese besonders gelagerte Gruppe von Fällen begünstigen wollte. Wenn auch diese Vorschrift nur für die Angestelltenversicherung gilt, so muß doch dieser Schluß ebenfalls bei Auslegung des § 1248 Abs. 3 RVO gezogen werden. Zwar enthält diese letztere Vorschrift einen dem Satz 2 des § 25 Abs. 3 AVG entsprechenden Satz nicht, aber doch nur deshalb nicht, weil es in der Rentenversicherung der Arbeiter eine Versicherungspflichtgrenze nicht gibt, sonst aber stimmen beide Vorschriften wörtlich überein. Es kann insoweit also hier nichts anderes gelten als in § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG.
Ob etwa aus Gründen des Vertrauensschutzes anderes gelten müßte, soweit solche Zeiten nach dem 31. Dezember 1956 liegen, weil die Versicherte auf Grund solcher Beiträge mit der Möglichkeit der Gewährung eines vorzeitigen Altersruhegeldes nach § 1248 Abs. 3 RVO bei Vollendung des 60. Lebensjahres rechnen durfte, bedarf keiner Entscheidung, da es sich hier im wesentlichen um vorhergehende Zeiten handelt.
Die Klage auf Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes für die Zeit vom Beginn des Antragsmonats bis zum 31. Dezember 1959 war daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Bremen vom 7. September 1960 abzuweisen.
Darüber hinaus mußte auch die Klage auf Gewährung einer höheren als der gewährten Rente für die Zeit vom 1. Januar 1960 an abgewiesen werden. Denn es sind nicht alle Voraussetzungen des Art. 2 § 42 ArVNG erfüllt, wie die Beklagte zu Recht angenommen hat. Die Klägerin hat es nämlich unterlassen, für das Jahr 1959 die nach Art. 2 § 42 ArVNG vorgeschriebenen neun Monatsbeiträge zu entrichten. Sie hätte diese Beiträge entrichten müssen, weil der allein vorliegende Versicherungsfall des § 1248 Abs. 2 RVO erst im Januar 1960 eingetreten ist.
Sollte die Klägerin diese Beiträge allerdings noch nachentrichten, wird die Beklagte zu prüfen haben, ob diese Beiträge nach § 1420 Abs. 2 RVO noch wirksam sind und, falls sie dies bejaht, ob auch die sonstigen Voraussetzungen des Art. 2 § 42 ArVNG vorliegen. Gegebenenfalls muß sie, soweit die Berechnung der Rente für die Zeit vom 1. Januar 1950 an in Frage steht, einen neuen Bescheid erteilen. Die Rechtskraft des vorliegenden Urteils würde einer Neufeststellung der Rentenhöhe nicht entgegenstehen, da dieses Urteil über einen Anspruch ergangen ist, der auf einem teilweise anderen Sachverhalt - d. h. dem vor der etwaigen Beitragsnachentrichtung gegebenen - beruht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen