Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz beim Besuch von Ausstellungen
Leitsatz (redaktionell)
Entsendet der Unternehmer einen nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO Versicherten zu einer Ausstellung oder Wirtschaftsmesse, so gehört dieser Besuch zur versicherten Tätigkeit.
Orientierungssatz
1. Der Besuch einer Ausstellung oder Messe ist grundsätzlich versichert, wenn der Besucher für sein Unternehmen aus dem Besuch Nutzen ziehen kann, sei es auch nur einen solchen allgemeiner Art, ohne daß es zu einem konkreten Kaufabschluß gekommen oder ein solcher nur ins Auge gefaßt ist.
2. Maßgeblich ist, daß der Besuch objektiv berufsbedingt und berufsbezogen und subjektiv berufsbestimmt ist (vgl BSG 1971-12-16 2 RU 100/71 = USK 71206).
3. Auch Reisen, die sowohl den Interessen des Unternehmens als auch privatwirtschaftlichen Interessen des Versicherten dienen und sich nicht eindeutig abgrenzen lassen, sind als gemischte Tätigkeiten versichert, wenn sie dem Unternehmen wesentlich dienen; daß dies überwiegend der Fall ist, wird nicht verlangt (vgl BSG 1975-07-30 2 RU 3/73 = BSGE 40, 113).
4. Es ist für eine formgerechte Verfahrensrüge einer Verletzung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) unzureichend, wenn die Revision lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG setzt.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.08.1980; Aktenzeichen L 5 U 105/78) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 24.07.1978; Aktenzeichen S 20 U 76/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger auf der Fahrt von seiner Wohnung zur Bergbau-Ausstellung in D. versichert gewesen ist.
Der Kläger war 1976 als Schlosser und Stellvertreter des Meisters in einem Unternehmen für die Herstellung von Hydraulik-Anlagen (Werk I) - es umfaßt ferner Maschinen- und Apparatebau (Werk II) - beschäftigt. Gleichzeitig war er Betriebsratsvorsitzender in beiden Werken für 68 Arbeitnehmer. Anläßlich der Internationalen Bergbauausstellung in D. gab das Unternehmen durch Aushang bekannt, dort seien vom 22. bis 29. Mai 1976 die Hydraulikprodukte des Werkes I ausgestellt; um die Möglichkeit des Ausstellungsbesuches zu geben, würden die Eintrittskosten und Tagesspesen von 15,-- DM erstattet.
Von der Möglichkeit machten 21 Betriebsangehörige, die überwiegend dem Werk I zugehörten, Gebrauch. Auch der Kläger wollte zusammen mit drei Arbeitskollegen am 27. Mai 1976 (Feiertag - Christi Himmelfahrt) die Ausstellung besuchen, um von Konkurrenzunternehmen Verbesserungsanregungen zu erfahren. Auf der Fahrt vom Wohnort des Klägers in O. nach D. kam es zu einem Verkehrsunfall, wobei alle vier Insassen des benützten Pkw verletzt wurden. Die Unfallfolgen des Klägers bewertete das Versorgungsamt mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vH.
Die Beklagte lehnte eine Entschädigung des Klägers ab, weil der Messe-Besuch mit der betrieblichen Tätigkeit nicht in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe (Bescheid vom 27. April 1977).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Juli 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG abgeändert, den Bescheid der Beklagten aufgehoben und festgestellt, daß die Verletzungen des Klägers Folgen eines Arbeitsunfalls sind (Urteil vom 19. August 1980).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte sinngemäß eine Verletzung des § 548 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO); außerdem beanstandet sie die Beweiswürdigung des LSG.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern und die Berufung des
Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet; sie ist daher zurückzuweisen.
Der Kläger war auf der Fahrt von seiner Wohnung in O. zum Ausstellungsort in D. entgegen der Auffassung der Revision versichert (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO). Das LSG hat zu Recht festgestellt, daß die Verletzungen, die er durch einen Verkehrsunfall auf diesem Weg erlitten hat, die Folgen eines Arbeitsunfalles sind (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO).
Der Besuch einer Ausstellung oder Messe ist grundsätzlich versichert, wenn der Besucher für sein Unternehmen aus dem Besuch Nutzen ziehen kann, sei es auch nur einen solchen allgemeiner Art, ohne daß es zu einem konkreten Kaufabschluß gekommen oder ein solcher nur ins Auge gefaßt ist. Schickt ein Unternehmer einen im Unternehmen Beschäftigten und nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO Versicherten zu einer Ausstellung, gehört dieser Besuch zum versicherten Beschäftigungsverhältnis (Lauterbach, Unfallversicherung, Bd 1, 3. Aufl 1980, Anm 43 zu § 548; BSG SozR Nr 29 zu § 548 RVO). Die Reise muß allerdings wesentlich dem Ausstellungsbesuch dienen und darf nicht nur Nebenzweck einer überwiegend privaten Interessen dienenden Reise sein (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd II, 9. Aufl 1981, S 482 b). Maßgeblich ist, daß der Besuch objektiv berufsbedingt und berufsbezogen und subjektiv berufsbestimmt ist (LSG Schleswig, Breithaupt 1971, 732, bestätigt durch BSG-Urteil vom 16. Dezember 1971 - 2 RU 100/71 -). Sogar Reisen, die sowohl den Interessen des Unternehmens als auch privatwirtschaftlichen Interessen des Versicherten dienen und sich nicht eindeutig abgrenzen lassen, sind als gemischte Tätigkeiten versichert, wenn sie dem Unternehmen wesentlich dienen; daß dies überwiegend der Fall ist, wird nicht verlangt (Lauterbach, aaO, Anm 46, 65 zu § 548; BSGE 40, 113 = SozR 2200 § 545 Nr 2).
Das LSG hat von der Revision unangefochten und daher bindend festgestellt (§ 163 SGG), die Unternehmensleitung habe durch den Besuch sowohl allgemeine, sich unmittelbar auf das Betriebsergebnis auswirkende Vorteile, wie auch im Einzelfall konkreten Nutzen durch Verbesserungsvorschläge erwartet. Das betriebliche Interesse habe durch teilweise Übernahme der Besuchskosten (Eintritt und Tagesspesen) Ausdruck gefunden. Lediglich wegen der Auftragslage sei der ursprüngliche Plan eines Gemeinschaftsbesuches durch die gesamte Belegschaft auf Kosten des Unternehmens fallengelassen worden. Bei der Wertung des betrieblichen Interesses am Ausstellungsbesuch als wesentlich hat es auf eine erwartete Qualitätssteigerung durch Kenntnisnahme vom Verwendungszweck der hergestellten Produkte und der Zusammenwirkung mit von anderen Unternehmen gefertigten Teilen in einer Gesamtanlage samt ihrer Beanspruchung abgehoben und dabei herausgestellt, daß das Unternehmen keine Konstruktionsabteilung hat, weshalb Verbesserungsvorschläge nur von den Facharbeitern zu erwarten seien.
Soweit die Revision glaubt, das Beweisergebnis anders würdigen zu müssen, setzt sie lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG. Das ist indes für eine formgerechte Verfahrensrüge einer Verletzung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) unzureichend. So genügt es für eine substantiierte Rüge nicht zu behaupten, die geringfügige Betriebszuwendung habe nur einen Anreiz geben sollen; Beobachtung der Konkurrenz und der Entwicklung der Marktlage seien Aufgabe des Unternehmers, Betriebsleiters und der Leitenden Angestellten, zu denen der Kläger nicht gehört habe, und die Entwicklung neuer Technologien während eines Messebesuches lasse sich kaum erlernen, weil dort grundsätzlich nur Fertigprodukte ausgestellt würden.
Die Revision läßt bei diesem Vorbringen unbeachtet, daß gerade für den Kläger als Vorsitzenden des Betriebsrates und Stellvertreters des Meisters in Werk I ein besonderes betriebliches Interesse bestanden haben konnte, zusammen mit drei weiteren Arbeitskollegen der Anregung der Unternehmensleitung zum Ausstellungsbesuch zu folgen. Für Verbesserungsvorschläge, zu denen die Betriebsmitglieder angehalten werden, sind gerade in einem Betrieb ohne eigene Konstruktionsabteilung, insbesondere Techniker, Meister und qualifizierte Facharbeiter berufen. Sie sind vor allem in der Lage, in Ausstellungen Detailkenntnisse über die Wirkungsweise der Produkte zu erwerben und diese durch Änderungsvorschläge im Betriebsinteresse zu realisieren. All dies hat das Berufungsgericht unter Berücksichtigung der oa Rechtsprechung ohne Rechtsfehler festgestellt. Im übrigen hat das LSG sogar eine "gemischte Tätigkeit" unterstellt, bei der aber dem betrieblichen Anteil eine wesentliche Bedeutung zugekommen sei (S 8 des angefochtenen Urteils).
Das LSG hat daher zu Recht den Kläger auf der Fahrt von seinem Wohnort zur Ausstellung in D. für versichert erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen