Leitsatz (amtlich)
Die Nichtzulassung der Revision ist für das BSG bindend; sie kann auch nicht auf dem Weg der Rüge eines wesentlichen Mangels des Verfahrens zum Gegenstand der Prüfung durch das BSG gemacht werden.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29.Juni 1954 wird als unzulässig verworfen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die Klägerin bezog von 1938 bis 1945 Witwenrente aus der Angestelltenversicherung. Am 6. April 1945 ging sie eine zweite Ehe ein. Am 8. August 1945 beantragte sie bei der Landesversicherungsanstalt Hamburg die Zahlung der Witwenabfindung. Der Antrag wurde von der Landesversicherungsanstalt Hamburg durch die Bescheide vom 27. September 1945, 7. Juni 1950 und 21. Juli 1950 abgelehnt mit der Begründung, die Britische Militärregierung habe zunächst durch Schreiben vom 18. September 1945 und dann durch die Sozialversicherungsdirektive (SVD Nr.3) vom 14. Oktober 1945 angeordnet, daß im Fall der Wiederheirat von Witwen keine Abfindung gezahlt werden dürfe, die Zahlung von Abfindungen sei erst wieder durch das Sozialversicherungsanpassungsgesetz vom 17.Juni 1949 ermöglicht worden, danach sei jedoch Voraussetzung der Abfindung, daß die Heirat erst nach dem 31. Mai 1949 stattgefunden habe. Die Berufung der Klägerin gegen den Bescheid vom 21. Juli 1950 wies das Oberversicherungsamt Hamburg mit Urteil vom 14. Dezember 1950 zurück. Die Klägerin legte dagegen mit Schreiben vom 9. Februar 1951 Rekurs beim Oberversicherungsamt Hamburg ein, außerdem am 8. April 1953 auch noch Berufung beim Oberverwaltungsgericht Hamburg. Nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes wurden beide Rechtsmittel an das Landessozialgericht Hamburg abgegeben. Dieses sah die Berufung als das Rechtsmittel an, das auch den Rekurs in sich schließe, und wies mit Urteil vom 29. Juni 1954 die Berufung als unbegründet zurück; es führte aus, die Landesversicherungsanstalt sei nicht mehr berechtigt gewesen, die Witwenabfindung zu zahlen, nachdem die Britische Militärregierung die SVD Nr. 3 vom 14. Oktober 1945 erlassen habe. Die Revision wurde in dem Urteil nicht zugelassen. Mit Schriftsätzen vom 2. August und 17. August 1954 legte die Klägerin aber trotzdem Revision ein und beantragte, die Urteile des Oberversicherungsamts Hamburg vom 14. Dezember 1950 und des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. Juni 1954 aufzuheben und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, auf die inzwischen die Aufgaben der Rentenversicherung der Angestellten übergegangen waren, zu verurteilen, ihr Witwenabfindung aus der Angestelltenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes zu zahlen. Zur Begründung trug sie vor, sie habe den Antrag auf Abfindung am 8. August 1945, also vor Erlaß der SVD Nr. 3, gestellt; die SVD Nr.3 habe keine rückwirkende Kraft. Die Revision sei statthaft; die Nichtzulassung der Revision stelle einen wesentlichen Mangel des Verfahrens dar; die Ausführungen, die das Bayerische Landessozialgericht in seinem Urteil vom 8. Oktober 1954, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit 1955 S. 28 B, darüber gemacht habe, daß die Nichtzulassung der Berufung ein wesentlicher Mangel des Verfahrens sei, seien hier entsprechend anzuwenden.
Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Sie führte dazu aus, das Landessozialgericht habe die Revision nicht zugelassen, es sei auch nicht ersichtlich, daß das Verfahren der Vorinstanzen an einem wesentlichen Mangel leide.
II.
In dem Urteil des Landessozialgerichts ist die Revision nicht zugelassen; die Revision ist deshalb nur statthaft (§ 162 SGG), wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, der tatsächlich vorliegt (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 14.7.1955, 8 RV 177/54), gerügt ist.
Die Klägerin ist der Auffassung, ein wesentlicher Mangel des Verfahrens liege darin, daß das Landessozialgericht die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr.1 SGG zugelassen habe; das Landessozialgericht habe verkannt, daß eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Streit sei. Ob das Landessozialgericht in diesem Punkt tatsächlich geirrt hat, kann und muß dahingestellt bleiben. Auch wenn das Landessozialgericht zu Unrecht angenommen haben sollte, der Rechtsstreit beziehe sich nicht auf eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, und deswegen die Revision nicht zugelassen hat, so liegt darin kein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Ein solcher Mangel liegt nur vor, wenn infolge einer unrichtigen Anwendung oder infolge Nichtanwendung einer verfahrensrechtlichen Vorschrift das Verfahren des Landessozialgerichts fehlerhaft geworden ist. § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG enthält nun zwar auch eine das Verfahren des Landessozialgerichts betreffende Vorschrift, nämlich soweit, als dem Landessozialgericht im ersten Halbsatz die Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision übertragen wird; der zweite Halbsatz dieser Vorschrift, dessen angeblich unrichtige Anwendung die Klägerin rügt, betrifft dagegen nicht das Verfahren vor dem Landessozialgericht. Er bestimmt nicht, unter welchen Voraussetzungen das Landessozialgericht zur Entscheidung berufen ist oder wie es dabei verfahren soll, vielmehr regelt er die Voraussetzungen für den Inhalt der Entscheidung. Diese Entscheidung berührt aber das Verfahren vor dem Landessozialgericht nicht mehr. Auch wenn sie sachlich falsch ist, ist sie daher kein Mangel des Verfahrens vor dem Landessozialgericht, der nach § 162 Abs.1 Nr. 2 SGG gerügt werden könnte (so auch das Urteil des 7. Senats des Bundessozialgerichts vom 23.11.1955, 7 RAr 30/55 und für den rechtsähnlich liegenden Fall des § 150 Nr. 2 SGG auch das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. November 1954, Breithaupt 1955 S.661 ff, 667, anderer Ansicht dagegen Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Oktober 1954, Amtsblatt des Staatsministeriums für Arbeit 1955 S. 28 B und Hastler in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1955 S. 257 ff). Die Rechtslage ist hier anders als etwa in dem Fall, in dem die Beiladung eines Dritten unterblieben ist, obwohl die Voraussetzungen des § 75 Abs. 2 SGG vorgelegen haben; hier hat die Verletzung des § 75 Abs. 2 SGG nicht nur eine möglicherweise unrichtige Entscheidung zur Folge, hier wird vielmehr zunächst schon das Verfahren fehlerhaft, weil der Dritte keine Gelegenheit erhält, sich an dem Verfahren zu beteiligen, sich zu äußern, Anträge zu stellen, Beweismittel zu benennen und so den Verlauf des Verfahrens mitzubestimmen. Die Rechtslage kann auch nicht verglichen werden mit dem Fall, dem sich früher das Reichsversicherungsamt gegenüber gesehen hat, wenn eine Sache entgegen einer Vorschrift des § 1693 RVO nicht an das Reichsversicherungsamt abgegeben worden ist; in dieser Unterlassung hat das Reichsversicherungsamt mit Recht einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 1697 RVO gesehen (vgl. Entscheidung vom 21.2.1913, Amtl. Nachr. 1913 S. 410), weil in den Fällen des § 1693 RVO über die Berufung nicht - wie sonst - das Oberversicherungsamt, sondern an seiner Stelle das Reichsversicherungsamt zu entscheiden hatte. Das Berufungsverfahren litt in diesen Fällen insofern an einem wesentlichen Mangel, als das falsche Gericht entschieden hatte. Die Nichtzulassung der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG berührt aber - anders als ehedem die Nichtabgabe nach § 1693 RVO - das Verfahren der Berufungsinstanz nicht, sie kann daher keinen Mangel des Berufungsverfahrens darstellen.
Die Nichtzulassung der Revision durch das Landessozialgericht ist, wie schon in dem Beschluß des Bundessozialgerichts vom 11. Juni 1955, 5 RKn 2/54, und in dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. November 1955, 7 RAr 30/55, ausgesprochen ist, für das Bundessozialgericht bindend; das Bundessozialgericht befindet sich insoweit in der gleichen Lage wie der Bundesgerichtshof, wenn das Oberlandesgericht die Revision nicht nach § 546 Abs. 2 Satz 2 ZPO zugelassen hat (vgl. Beschluß vom 23.4.1951, BGHZ Bd. 2 S. 18,20=NJW. 1952 S. 143) und wie auch das Bundesarbeitsgericht, wenn das Landesarbeitsgericht die Revision nicht nach § 72 Abs.1 ArbGG zugelassen hat (Beschluß vom 24.7.1954, Betriebsberater 1954 S. 687). Das SGG überläßt es der Verantwortung des Landessozialgerichts zu entscheiden, ob einer Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beizumessen ist. Gegen die Nichtzulassung der Revision ist auch nicht so wie etwa in § 53 Abs. 3 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 23. September 1952 (BGBl. I S. 625 ff) und in § 131 Abs. 3 des Entwurfs einer (bundeseinheitlichen) Verwaltungsgerichtsordnung (Bundestagsdrucksache 462 von 1954) ein besonderes Rechtsmittel gegeben. Der Gesetzgeber hat vielmehr im SGG insoweit die Regelung übernommen, die er nach eingehenden Erörterungen im Gesetz vom 12. September 1950 (BGBl. I S. 535 ff) für den Zivilprozeß in § 546 ZPO getroffen hat; in dem Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 23. April 1951, BGHZ Bd. 2 S. 18 ff ist ausführlich dargelegt, daß Bundestag und Bundesrat die Tragweite des § 546 ZPO eingehend geprüft haben und daß schließlich ganz bewußt davon abgesehen worden ist, eine Bestimmung zu schaffen, nach der es möglich ist, zu überprüfen, ob die Oberlandesgerichte ihrer Pflicht, in den Fällen des § 546 Abs. 2 S. 2 ZPO die Revision zuzulassen, nachgekommen sind. Es widerspräche daher auch dem Sinn des Gesetzes und der Absicht des Gesetzgebers, wollte man trotzdem auf dem Umwege über die Rüge eines Verfahrensmangels die Nichtzulassung der Revision zum Gegenstand der Prüfung durch das Bundessozialgericht machen und ihm die Entscheidung zuschieben, die nach dem Gesetz dem Landessozialgericht zufällt. Zu einer solchen Verschiebung der Zuständigkeit können auch die Erwägungen nicht führen, die das Bayerische Landessozialgericht in seinem von der Klägerin zur Begründung der Revision ausdrücklich angezogenen Urteil vom 8. Oktober 1954, Ar 34/54, über das angeblich durch Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 des Bonner Grundgesetzes gesicherte Recht auf einen weiteren "zustehenden" Richter angestellt hat. Selbst wenn man mit dem Bayerischen Landessozialgericht ein "Recht" der Beteiligten auf Zulassung der Revision annähme, so läge noch kein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darin, daß das Gesetz - hier das SGG - die endgültige Entscheidung über dieses Recht nicht dem Revisions-, sondern dem Berufungsgericht überträgt. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision geht immer der sachlichen Entscheidung voraus und die Entscheidung durch das Revisionsgericht ist in derselben Weise Irrtümern und Fehlern ausgesetzt wie die Entscheidung durch das Berufungsgericht. Auch wenn das Revisionsgericht über die Zulassung der Revision zu entscheiden hätte, wäre damit allein noch nicht auch die Entscheidung der Streitsache selbst durch den "weiteren zustehenden Richter" verbürgt. Diese Erwägungen des Bayerischen Landessozialgerichts können daher weder ein nicht zugelassenes Rechtsmittel zulässig machen, noch den Inhalt einer Entscheidung - hier über die Zulassung der Revision - zu einem Mangel des Verfahrens machen, in dem sie ergangen ist.
Die Revision der Klägerin ist hiernach nicht statthaft i.S. des § 162 SGG; sie muß deshalb nach § 169 S. 1 SGG als unzulässig verworfen werden.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§ 193 Abs. 4 SGG).
Fundstellen