Leitsatz (amtlich)
Für die Entscheidung darüber, ob die Berufung nur Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum betrifft, kommt es regelmäßig auf den in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zuletzt gestellten Berufungsantrag an.
Normenkette
SGG § 112 Abs. 2-3, §§ 146, 156 Abs. 1, § 151 Abs. 3
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle vom 6. August 1965 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger begehrt eine Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten (AnV) wegen Berufsunfähigkeit. Seine gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 2. Januar 1964 gerichtete Klage wies das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 15. Februar 1965 - zugestellt am 26. Februar 1965 - als unbegründet ab. Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit der Berufung gegen dieses Urteil.
Mit Schriftsatz vom 5. März 1965 legte der Kläger Berufung ein. In der Berufungsbegründungsschrift vom 13. April 1965 beantragte er, die Beklagte zur Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 1. Mai 1963 bis zum 28. Februar 1965 zu verurteilen. Zur Begründung trug er vor, dem vom SG eingeholten Sachverständigengutachten, das ihn für fähig erachtet habe, täglich sechs Stunden mit vermehrten Ausruhpausen als kaufmännischer Angestellter zu arbeiten, sei nicht zu folgen. Er habe aber seit dem 17. März 1965 eine in dieser Weise beschränkte Tätigkeit aufgenommen.
In der mündlichen Verhandlung stellte der Kläger zunächst den Antrag aus dem Schriftsatz vom 13. April 1965. Wegen der Zulässigkeit der Berufung verwies er auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. November 1955 (SozR SGG § 146 Bl. Da 1 Nr. 1), wonach es für die Frage, ob es sich um Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum handele, auf den Zeitpunkt des Urteils erster Instanz ankomme. Nachdem der Vorsitzende auf die Änderung des § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch das Zweite Änderungsgesetz vom 25. Juni 1958 (BGBl I 409) hingewiesen hatte, änderte der Prozeßbevollmächtigte den Antrag dahin, daß die Beklagte verurteilt werden solle, vom 1. Mai 1963 an Rente auf unbestimmte Zeit zu gewähren.
Das Landessozialgericht (LSG) verwarf die Berufung als unzulässig, weil sie nur Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum betreffe (§ 146 SGG). Der Kläger habe zwar zunächst in vollem Umfang Berufung eingelegt, diese jedoch mit Schriftsatz vom 13. April 1965 beschränkt und damit im übrigen die Berufung zurückgenommen. Soweit die Zurücknahme reiche, habe sie den Verlust des Rechtsmittels bewirkt (§ 156 Abs. 2 SGG). Die Berufung habe daher nicht durch ihre Erweiterung im Verhandlungstermin wieder statthaft werden können (Urteil vom 6. August 1965).
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt der Kläger,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Er rügt die Verletzung der §§ 112 Abs. 2 und 3, 124 Abs. 1 und 156 Abs. 2 SGG.
Das LSG habe die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen. Mit der Berufungsschrift, die keinen Antrag enthalten habe, sei das Urteil erster Instanz in vollem Umfang angefochten worden. Der beschränkte Antrag in der Begründungsschrift sei - entgegen der Ansicht des LSG - nicht als teilweise Zurücknahme des Rechtsmittels anzusehen. Vielmehr habe es sich zunächst nur um die Ankündigung des Antrags gehandelt, der in der mündlichen Verhandlung gestellt werden sollte. In der mündlichen Verhandlung sei dann der zunächst gestellte beschränkte Antrag in zulässiger Weise berichtigt und erweitert worden. Nur dieser zuletzt gestellte Antrag sei maßgebend. Sehe man aber in der Stellung des ersten Antrags in der mündlichen Verhandlung eine teilweise Rechtsmittelrücknahme, so beruhe das Urteil auf einem Verstoß gegen § 112 Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn wenn der erste Antrag schon den Berufungskläger festlege und eine Berichtigung seiner Wirkungen nicht mehr möglich sei, so erfülle der Vorsitzende seine Pflicht, auf sachdienliche Anträge hinzuwirken, nur, wenn er vor Stellung des Antrags auf die damit verbundenen Bedenken hinweise.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das LSG hat die Berufung des Klägers zu Unrecht als unzulässig verworfen; denn sie betraf nicht nur Rente für einen abgelaufenen Zeitraum (§ 146 SGG).
Entgegen der Ansicht des LSG kann nicht mit Sicherheit angenommen werden, der Kläger habe zunächst mit dem am 18. März 1965 eingegangenen Schriftsatz vom 5. März 1965 in vollem Umfang Berufung eingelegt und diese später teilweise zurückgenommen. Es läßt sich ebenso die Auffassung vertreten, daß der Kläger von vornherein nur eine beschränkte Berufung eingelegt hat. Die am 18. März 1965 eingegangene Berufungsschrift enthielt - wie dem angefochtenen Urteil entnommen werden kann - lediglich die Erklärung der Berufung, während die Anträge und ihre Begründung für später vorbehalten wurden. Unter solchen Umständen kann aber nicht ohne weiteres angenommen werden, das Rechtsmittel solle die gesamte durch das erstinstanzliche Urteil gegebene Beschwer erfassen. Denn zur Bestimmung des Umfangs der Berufung bedarf es einer prozessualen Willensäußerung des Berufungsklägers. Die bloße Erklärung der Berufung gibt aber keinerlei Anhaltspunkt dafür, in welchem Umfang das Verfahren durchgeführt werden soll; allenfalls kann davon ausgegangen werden, daß sich das Rechtsmittel im Rahmen der Beschwer hält (vgl. Wieczorek ZPO und GVG, Komm. 2. Aufl., § 519 ZPO Anm. C II a 2). Im übrigen bleiben die Grenzen der Berufung in einem solchen Fall zunächst unbestimmt. Diesen Schwebezustand hat der Gesetzgeber durch die Regelung des § 151 Abs. 3 SGG, wonach die Berufungsschrift zwar bestimmte Anträge enthalten "soll", aber nicht "muß", in Kauf genommen. Ähnlich ist die Lage aber auch dort, wo Antrags- und Begründungszwang bestehen, bis zum Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist. Entsprechend hat es auch das Reichsgericht abgelehnt, eine antragslose Rechtsmittelerklärung als unbeschränkte Urteilsanfechtung zu deuten (RG Urteil vom 16. Dezember 1936, JW 1937 S. 811; RG Urteil vom 9. Februar 1937, HRR 1937, 871). Erst die Rechtsmittelbegründungsschrift bestimmt in diesen Fällen die Grenzen des Rechtsmittels. Wird nur ein beschränkter Antrag gestellt, so ist das Rechtsmittel als von vornherein nur beschränkt eingelegt anzusehen.
Für die Entscheidung des Rechtsstreits kann es indessen dahinstehen, ob der Kläger die Berufung zunächst - wie das LSG angenommen hat - unbeschränkt eingelegt und erst später durch den in der Berufungsbegründung vom 13. April 1965 enthaltenen Antrag, ihm Rente für die Zeit vom 1. Mai 1963 bis 28. Februar 1965 zu gewähren, beschränkt hat oder ob er eine von vornherein auf Rente für diesen abgelaufenen Zeitraum beschränkte Berufung eingelegt hat. Jedenfalls konnte der Kläger die in der einen oder anderen Weise beschränkte Berufung in der mündlichen Verhandlung mit der Wirkung erweitern, daß die Berufung auf Rente für unbestimmte Zeit ausgedehnt und damit zulässig wurde. Das hat das LSG zu Unrecht verneint.
Im Berufungsverfahren der Sozialgerichtsbarkeit können die Anträge regelmäßig bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung im Rahmen des § 99 SGG geändert und erweitert werden (§ 112 Abs. 3 in Verbindung mit § 153 Abs. 1 SGG). Das sozialgerichtliche Verfahren schreibt zwingend nur die Form und die Frist der Berufungseinlegung vor, dagegen werden Antragstellung und Begründung der Berufung in einer Sollvorschrift behandelt (§ 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGG). Deshalb können Anträge und Berufungsbegründung - solange die Berufung noch nicht als unzulässig verworfen worden ist - jederzeit und ohne Rechtsnachteil für den Berufungskläger in dem dargelegten Umfang geändert oder erweitert werden. Anderenfalls wären die - auch im Berufungsverfahren anwendbaren (§ 153 Abs. 1 SGG) - Vorschriften in § 106 Abs. 1 und § 112 Abs. 2 SGG nicht zu verstehen. Danach ist es im vorbereitenden Verfahren Aufgabe des Vorsitzenden oder des Berichterstatters (§ 155 SGG) und in der mündlichen Verhandlung Aufgabe des Vorsitzenden, dafür zu sorgen, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt und sonstige fehlende Angaben und Erklärungen nachgeholt werden. Für die Nachholung dieser unter § 151 Abs. 3 SGG fallenden Aufgaben ist im Gesetz - anders als im Revisionsverfahren (§ 164 SGG) - keine Frist vorgesehen, sie kann noch in der mündlichen Verhandlung selbst und - wie hier - bis zu deren Schluß erfolgen. Ebenso wie der Berufungskläger noch bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht z.B. einen dem SG unterlaufenen wesentlichen Verfahrensmangel rügen (§ 150 Nr. 2 SGG) und damit einer sonst nach den §§ 144 bis 149 SGG unstatthaften Berufung zum Erfolg verhelfen kann, ist es ihm bis dahin auch gestattet, den Berufungsantrag in der Hauptsache zu erweitern, hier also statt der Rente für einen beschränkten Zeitraum eine solche ohne zeitliche Begrenzung zu beantragen. Es erscheint nicht gerechtfertigt, den Berufungskläger, der entsprechend der Sollvorschrift des § 151 SGG in der Berufungsschrift einen Antrag stellt und ihn begründet, an diesen Antrag zu binden, während der, der der Sollvorschrift nicht nachkommt, die Freiheit hätte, den Umfang seiner Berufung erst am Schluß der mündlichen Verhandlung zu bestimmen. Der Senat hält daher an seiner bisherigen Auffassung fest (Urteil vom 6. Dezember 1963 - 1 RA 161/61 -, Breith. 1964 S. 531), nach der der Berufungskläger in der Regel die Möglichkeit hat, seine Anträge bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung zu erweitern.
Im vorliegenden Fall schied eine solche Erweiterung auch nicht deshalb aus, weil der Kläger mit dem beschränkten Rechtsmittelantrag zugleich einen Rechtsmittelverzicht für den nicht angegriffenen Teil des erstinstanzlichen Urteils abgegeben hätte. Ein beschränkter Berufungsantrag kann allerdings einen Rechtsmittelverzicht hinsichtlich des übrigen Teiles des vorinstanzlichen Urteils beinhalten. Es bleibt aber im Einzelfall zu klären, ob ein materiell-rechtlicher Verzicht auf den Restanspruch, eine Klagerücknahme, ein Rechtsmittelverzicht oder nur ein teilweises einstweiliges Ruhenlassen beabsichtigt ist. Im Zweifel ist davon auszugehen, daß die am wenigsten schwerwiegenden Folgen gewollt sind (vgl. RGZ 66, 12 (14); 75, 286; 168, 56; BGH MDR 1963 S. 205; BSG, Urteil vom 15. Oktober 1963, SozR ZPO § 514 Bl. Da 1 Nr. 1 = Breith. 1964 S. 82; Urteil vom 6. Dezember 1963 - 1 RA 161/61 - aaO). Ein Rechtsmittelverzicht liegt danach nur vor, wenn er entweder ausdrücklich erklärt wird oder wenn sich aus den Gesamtumständen klar und eindeutig ergibt, daß das Recht auf Anfechtung der Entscheidung aufgegeben wird (vgl. auch Urteil vom 16. April 1964, BSG 21, 13 zur Berufungsrücknahme). Das ist hier zu verneinen.
Der Antrag des Klägers, die Beklagte zur Rentengewährung bis Februar 1965 einschließlich zu verurteilen, mit der Begründung, er habe ab 17. März 1965 eine beschränkte Tätigkeit aufgenommen, könnte allerdings dafür sprechen, daß sich der Kläger hinsichtlich der Zeit vom 1. März 1965 an auf den Boden des klagabweisenden erstinstanzlichen Urteils gestellt hätte. Ein (teilweiser) Rechtsmittelverzicht oder materiell-rechtlicher Verzicht könnte darin aber nur dann gesehen werden, wenn zum Ausdruck gekommen wäre, daß der Kläger es nunmehr endgültig dabei belassen wollte. Das ist jedoch nicht der Fall. Das Vorbringen in der Berufungsbegründung, dem in erster Instanz eingeholten Gutachten sei nicht zu folgen, bringt augenscheinlich die Unzufriedenheit des Klägers mit dem Urteil des SG zum Ausdruck, es bemängelt damit die tatsächlichen und rechtlichen Folgerungen des SG ganz allgemein. Unter diesen Umständen kann weder dem Schriftsatz vom 13. April 1965 noch dem in der mündlichen Verhandlung zunächst gestellten Antrag mit hinreichender Deutlichkeit entnommen werden, daß der Kläger sein Recht, das erstinstanzliche Urteil hinsichtlich der vollen Beschwer anzugreifen, endgültig aufgeben wollte. Es blieb vielmehr Aufgabe des Vorsitzenden, Sinn und Tragweite des Berufungsantrags in dem mit dem Kläger geführten Rechtsgespräch zu klären. Dem Kläger stand es hiernach frei, bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung seinen Antrag zu erweitern. Da er dies in zulässiger Weise getan hat, wurde damit der zuletzt gestellte - nunmehr Rente auf unbeschränkte Zeit verlangende - Antrag maßgeblich für die vom Berufungsgericht zu treffende Entscheidung. Die Berufung betraf also nicht nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume und war damit zulässig.
Dem steht auch nicht entgegen, daß es für die Frage, ob die Berufung zulässig ist, regelmäßig nicht auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, sondern auf den der Einlegung der Berufung ankommt (vgl. BSG, Urteil vom 29. August 1959 - 4 RJ 31/59 - SozR SGG § 146 Nr. 6; Urteil vom 5. Juli 1962 - 5 RKn 9/60 - SozR § 146 SGG Nr. 8 und vom 6. Dezember 1963 - 1 RA 191/61 - SozR Nr. 12 zu § 146 SGG). Denn dies bedeutet zunächst nur, daß der Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels bestimmt, ob die Rente für einen "abgelaufenen Zeitraum" beansprucht wird. Um einen "abgelaufenen Zeitraum" handelt es sich danach dann, wenn der letzte Tag, für den Rente verlangt wird, vor dem Tag der Einlegung der Berufung liegt. Weiter bleibt allerdings der Zeitpunkt der Einlegung der Berufung für die Zulässigkeit der Berufung in der Weise maßgeblich, daß eine bei ihrer Einlegung zulässige Berufung nicht durch spätere - nicht willkürliche - Veränderungen des Berufungsgegenstandes unzulässig wird (vgl. BSG, 5. Senat aaO). Denn die mit der Einlegung der Berufung erlangte prozessuale Position soll dem Berufungskläger nicht durch von seinem Willen unabhängige Umstände genommen werden. Das schließt aber nicht aus, daß der Berufungskläger seinen beschränkten Berufungsantrag bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung über die Grenzen des § 146 SGG hinaus noch erweitern und damit die Zulässigkeit der Berufung erreichen kann.
Der Umfang der Berufung wird danach in der Regel durch die in der letzten mündlichen Verhandlung gestellten Anträge bestimmt. Ein früherer weitergehender Antrag bleibt nur dann maßgeblich, wenn der Berufungskläger durch außerhalb seines Willens liegende Umstände während des Verfahrens zur Einschränkung genötigt worden ist. Ob der Umfang die Grenze des § 146 SGG überschreitet, bestimmt sich jedoch nach dem Zeitpunkt der Einlegung der Berufung. Im vorliegenden Fall war danach die Berufung zulässig, da sie auf Grund des zuletzt gestellten Antrags nicht nur Rente für einen bei Einlegung der Berufung abgelaufenen Zeitraum betraf. Das LSG hat somit zu Unrecht, unter Verletzung der §§ 146, 112 Abs. 3 SGG keine Sachentscheidung getroffen. Dies muß zur Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG führen, ohne daß es auf die weiteren Verfahrensrügen, insbesondere auf die geltend gemachte Verletzung des § 112 Abs. 2 SGG ankam.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen