Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung eines Beschlußtenors des Großen Senats
Orientierungssatz
Gibt ein Beschlußtenor des Großen Senats keine Auskunft über eine vorgelegte Frage, so bedeutet dies nicht schon, daß der erkennende Senat insoweit in seiner Entscheidung frei ist. Vielmehr sind nach allgemeinen Grundsätzen auch hier zur Auslegung der Beschlußformel die Gründe mit heranzuziehen (hier Beschluß des GS des BSG vom 29.5.1984 - GS 1-3/82 -).
Normenkette
SGG § 44 Abs 2, § 43
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 22.07.1980; Aktenzeichen L 16 Ar 441/79) |
SG Landshut (Entscheidung vom 26.06.1979; Aktenzeichen S 4 Ar 58/78) |
Tatbestand
Der Rechtsstreit wird um die Gewährung von Hinterbliebenenrenten geführt.
Die Kläger sind jugoslawische Staatsangehörige; sie leben in ihrem Heimatland Jugoslawien. Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, die Kläger zu 2) und 3) sind die Waisen des am 1. Mai 1977 verstorbenen jugoslawischen Staatsangehörigen H. H. (Versicherter).
Der Versicherte hatte an Versicherungszeiten 45 Kalendermonate in der Bundesrepublik Deutschland und 21 Kalendermonate in Österreich zurückgelegt sowie aufgrund einer Beschäftigungsdauer von 10 Tagen einen Beitrag in Jugoslawien vorzuweisen.
Den Antrag der Kläger auf Gewährung von Hinterbliebenenrenten lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) N.- O. als zuständige Verbindungsstelle nach dem deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommen (dt.-jugoslaw. SVA) mit Bescheid vom 12. Oktober 1977 ab mit der Begründung, die erforderliche Wartezeit sei nicht erfüllt. Im sich anschließenden Widerspruchsverfahren blieben die Kläger erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 1978).
Dem Klagebegehren haben das Sozialgericht (SG) Landshut mit Urteil vom 26. Juni 1979 und das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit dem die erstinstanzliche Entscheidung bestätigenden Urteil vom 22. Juli 1980 entsprochen. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung seien hier deutsche, österreichische und jugoslawische Versicherungszeiten für die Erfüllung der Wartezeit zusammenzurechnen; die Zuständigkeit der Beklagten für die Leistungsgewährung ergebe sich aus der Durchführungsvereinbarung zum dt.-jugoslaw. Abkommen.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit der - vom LSG zugelassenen - Revision. Sie rügt unter anderem eine Verletzung der Bestimmungen des Art 25 Abs 1 dt.-jugoslaw. SVA und des § 1263 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Beklagte beantragt, die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Juli 1980 und des Sozialgerichts Landshut vom 26. Juni 1979 aufzuheben und die Klagen abzuweisen, hilfsweise, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Juli 1980 aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Die beigeladene LVA O. schließt sich den Ausführungen der Beklagten und deren Hauptantrag an. Die Beigeladene hat mit Bescheiden vom 15. Juni 1981 den Anspruch der Kläger auf Gewährung von Hinterbliebenenrenten anerkannt, sie hat aber die Auszahlung der Witwenrente an die Klägerin zu 1) im Hinblick auf die Vorschriften der §§ 1315 ff RVO aF abgelehnt. Späterhin hat sie mit Bescheid vom 2. April 1982 in Anwendung der §§ 1315 ff RVO idF des Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 1982 - RAG 82 - vom 1. Dezember 1981 (BGBl I S 1205) die Auszahlung der Witwenrente an die Klägerin zu 1) bewilligt.
Der erkennende Senat hat dem Großen Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) durch Beschluß vom 10. August 1982 folgende Fragen vorgelegt: In welcher Weise sind Versicherungszeiten zu berücksichtigen, wenn ein Versicherter solche Zeiten sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in mindestens zwei ausländischen Staaten zurückgelegt hat, die mit der Bundesrepublik Deutschland durch je ein zweiseitiges Sozialversicherungsabkommen verbunden sind, 1. sofern die Versicherungszeit, die für die Begründung eines deutschen Rentenanspruchs mindestens erforderlich ist, nur bei Zusammenrechnung aller zurückgelegten Versicherungszeiten erreicht wird, 2. sofern zwar ein Rentenanspruch auch bereits durch die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten in der Bundesrepublik Deutschland und in einem Abkommensstaat begründet wird, sich aber bei bloßer Berücksichtigung der beiden Zeiten ein anderer deutscher Rentenanspruch ergeben würde als bei Berücksichtigung aller Versicherungszeiten?
Der GS hat durch Beschluß vom 29. Mai 1984 - GS 1 - 3/82 - entschieden: 1. Bei Versicherungsfällen, die vor dem 1. Juli 1982 eingetreten sind, hat der deutsche Versicherungsträger für die Erfüllung der Wartezeit außer den deutschen Versicherungszeiten alle Versicherungszeiten anzurechnen, die nach den zweiseitigen Sozialversicherungsabkommen zu berücksichtigen sind, die die Bundesrepublik Deutschland mit der Republik Österreich, der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und der Republik Türkei geschlossen hat.
2. Kommen für einen Rentenanspruch außer deutschen Beitragszeiten Beitragszeiten nach mehr als einem der vorgenannten Sozialversicherungsabkommen in Betracht, so ist die zuerst angegangene Verbindungsstelle zuständig.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht die Beklagte verurteilt, der Klägerin zu 1) Witwenrente und den Klägern zu 2) und 3) Waisenrente zu gewähren.
Hinterbliebenenrenten, zu denen ua Witwen- und Waisenrenten gehören (§ 1263 Abs 1 RVO), werden gewährt, wenn dem Verstorbenen zur Zeit seines Todes Versichertenrente zustand oder zu diesem Zeitpunkt die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit von ihm erfüllt ist oder nach § 1252 RVO als erfüllt gilt. Im vorliegenden Fall war die Wartezeit für die Berufsunfähigkeitsrente erfüllt.
Die Besonderheit des Rechtsstreits liegt darin, daß der Versicherte sowohl in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in Österreich und Jugoslawien Versicherungszeiten zurückgelegt hat, indessen die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten für den Erwerb eines Leistungsanspruchs (hier: Erfüllung der Wartezeit bei Hinterbliebenenrenten) allein nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit vom 12. Oktober 1968 (BGBl 1969 II, 1438) nicht ausreicht (45 Kalendermonate in der Bundesrepublik Deutschland, ein Kalendermonat in Jugoslawien), wohl aber nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Soziale Sicherheit vom 22. Dezember 1966 - dt.-österreichisches SVA - (BGBl 1969 II 1235), weil in Österreich 21 Kalendermonate an Versicherungszeiten zurückgelegt wurden. Die mit dem Klagebegehren erstrebte Gewährung der Leistung - und nicht nur deren Feststellung - durch die Beklagte als den gemäß Art I, Nr 6 und 34 des dt.-jugoslaw. SVA iVm Art 5 der Durchführungsvereinbarung zu diesem Abkommen vom 9. November 1969 (BGBl 1973 II 710) für die Kläger "zuständigen Träger" setzt also voraus, die österreichischen Versicherungszeiten zur Begründung dieses geltend gemachten Anspruchs mit heranzuziehen. Das wiederum ist nur möglich, wenn auch auf den vorliegenden Fall die von der Rechtsprechung des BSG praktizierte Zusammenrechnung von Versicherungszeiten aufgrund mehrerer bilateraler Verträge Anwendung findet. Der sich daraus ergebenden Frage, nämlich ob die "multilaterale" Zusammenrechnung auch dann eingreift, wenn bereits aufgrund eines bilateralen Abkommens die Wartezeit für den Leistungsanspruch erfüllt ist, hat der erkennende Senat grundsätzliche Bedeutung beigemessen. Da deren Klärung nach seiner Auffassung die Fortbildung des Rechts dies erforderte, hat er sie gemäß § 43 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dem GS vorgelegt, zumal es in den bisherigen Entscheidungen des BSG stets nur um die Zusammenrechnung "zum Zwecke der Erfüllung der Wartezeit" gegangen war.
Allerdings hat der erkennende Senat aus Gründen, deren nochmalige Darstellung im einzelnen sich nunmehr erübrigt, Zweifel angemeldet, ob Versicherungszeiten aufgrund mehrerer zweiseitiger Sozialversicherungsabkommen überhaupt zusammenzurechnen seien, andererseits eingeräumt, daß die Zeiten nicht schlechthin ohne versicherungsrechtliches Äquivalent bleiben könnten. Sowohl aus diesem Grund als auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtsfortbildung hat der erkennende Senat die Frage aufgeworfen und dem GS vorgelegt, "in welcher Weise" Versicherungszeiten aufgrund mehrerer Sozialversicherungsabkommen "zu berücksichtigen" seien.
Der GS hat die Vorlagefrage Nr 1 - Anrechnung aller nach zweiseitigen Sozialversicherungsabkommen zu berücksichtigenden Versicherungszeiten für die Erfüllung der Wartezeit - eindeutig beantwortet und, wenngleich beschränkt auf vor dem 1. Juli 1982 eingetretene Versicherungsfälle und begrenzt auf die in den Streitfällen nur anzuwendenden Sozialversicherungsabkommen, bejaht. Die Frage Nr 2 hingegen ist jedenfalls im Beschlußtenor ohne direkte Antwort geblieben. Denn die dort unter Nr 2 gemachte Aussage, die zuerst angegangene Verbindungsstelle sei zuständig, wenn Beitragszeiten nach mehr als einem der genannten Sozialversicherungsabkommen in Betracht kämen, bezieht sich nicht auf die (Art der) Berücksichtigung von Versicherungszeiten bei der angesprochenen Fallgestaltung und macht im übrigen auch keinen Unterschied, ob nun die Wartezeit bereits bilateral erfüllt ist oder nicht.
Gibt somit der Beschlußtenor des GS keine Auskunft über die vorgelegte Frage Nr 2, so bedeutet dies aber nicht schon, daß der erkennende Senat insoweit in seiner Entscheidung frei sei. Vielmehr sind nach allgemeinen Grundsätzen auch hier zur Auslegung der Beschlußformel die Gründe mit heranzuziehen. Dort heißt es, die zweite Rechtsfrage sei "ebenfalls enger zu sehen, als der Wortlaut zunächst nahelegt", und der GS führt dazu aus, daß in keinem der Ausgangsfälle im gegenwärtigen Stand des Verfahrens über die Rentenhöhe zu entscheiden sei und daß bisher auch nur Grundurteile begehrt, erlassen oder abgelehnt worden seien. Damit begrenzt der GS den Umfang der zur Entscheidung stehenden Fragen und legt für den erkennenden Senat verbindlich fest, daß über die Höhe der Leistung nicht zu befinden ist. Im übrigen diente die Einschränkung in der Anfrage unter Nr 2 ... "sofern ... sich ... bei bloßer Berücksichtigung der beiden (zur Begründung eines Rentenanspruches bereits ausreichenden) Zeiten ein anderer Rentenanspruch ergeben würde als bei Berücksichtigung aller Versicherungszeiten" dazu, die Erheblichkeit der vorgelegten Frage für die konkrete Entscheidung darzutun, zumal diese vom GS ebenso wie in Fällen der Divergenz (§ 42 SGG) zu überprüfen ist (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl § 43 Anm 3).
Eindeutig und generell hat der GS entschieden, welcher deutsche Rentenversicherungsträger für die Gewährung der multilateralen deutschen Leistung zuständig ist, und er hat konkret zur Entscheidungserheblichkeit dieser Frage für die einzelnen Vorlagesachen Stellung genommen. Soweit er dabei im Beschlußtenor auf die Zuständigkeit der Verbindungsstelle abhebt, trägt der Senat keine Bedenken, darunter den "zuständigen Träger" im Sinne des Art 1 Nr 6 des dt.-jugoslaw. SVA sowie des Art 1 Nr 8 des dt.-österreichischen SVA zu verstehen, zumal die Beschlußgründe auch vom deutschen Träger sprechen und im übrigen der deutschen Verbindungsstelle sowohl nach Art 5 der Durchführungsvereinbarung zum dt.-jugoslaw. SVA als auch nach Art 42 Abs 4 des dt.-österreichischen SVA die Zuständigkeit für die Feststellung und Gewährung von Leistungen übertragen worden ist, soweit nicht Sonderversicherungsanstalten zuständig sind.
Insoweit ist nicht nur die Sachlegitimation des zur Entscheidung berufenen Trägers der Rentenversicherung der Arbeiter als für alle drei Ausgangsverfahren erheblich bezeichnet, sondern darüber hinaus ausdrücklich hervorgehoben worden, daß "unter diesem Gesichtspunkt auch im Ausgangsverfahren 4 RJ 107/80 die gestellte Vorlagefrage entscheidungserheblich" sei (III, S 10 des Beschlusses). Da sich die Kläger jedenfalls zuerst an die Beklagte gewandt haben, andererseits der Leistungsanspruch nur bei Mitberücksichtigung der in Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten besteht, ist somit in Anwendung des Beschlusses des GS die Beklagte für die Leistungsgewährung zuständig. Das kann sie aber nur sein, wenn die multilaterale Zusammenrechnung auch in den Fällen stattfindet, in denen - wie hier - bereits bilateral die Wartezeit erfüllt ist.
Es sind auch keine Bedenken daraus herzuleiten, daß der Antwort Nr 2 in der Beschlußformel des GS zumindest keine ausdrückliche Frage des erkennenden Senats vorausgegangen ist. Der GS hat ständig die Auffassung vertreten, daß er nicht an den Wortlaut der zur Entscheidung gestellten Frage gebunden sei, sondern die vorgelegte Rechtsfrage einschränkend, ausdehnend oder auch differenziert beantworten und daß dabei auch die Begründung des Vorlagebeschlusses maßgebend sein könne (BSGE 38, 248, 251). Die Frage der Zuständigkeit hat der erkennende Senat in seinem Vorlagebeschluß angesprochen; sie ist auch gerade hier von besonderer Bedeutung, wenn für den bereits bestehenden bilateralen Anspruch ein anderer Träger zuständig wäre. Der Senat ist also schon deshalb auch in diesem Punkt gemäß § 44 Abs 2 SGG an die Entscheidung des GS gebunden.
Schließlich ergibt sich auch keine andere Beurteilung dadurch, daß während des Revisionsverfahrens die Beigeladene die Ansprüche auf Witwen- und Waisenrente anerkannt und Bescheide erteilt hat. Eine Beschwer der Kläger kann dadurch schon deshalb nicht entfallen sein, weil unter Beachtung der Rechtsauffassung des GS ein unzuständiger Versicherungsträger die Bescheide erteilt hat, die Kläger aber weiterhin die Leistung von der Beklagten als dem zuständigen Träger verlangen. Deshalb greift auch § 171 Abs 2, 1. Alternative SGG nicht Platz; die Kläger sind durch die neuen Bescheide nicht klaglos gestellt. Die Beklagte muß vielmehr entsprechend dem Urteil der Vorinstanz die Hinterbliebenenrenten gewähren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen