Entscheidungsstichwort (Thema)
Gutachtenerstattung durch einen anderen anstatt des bestellten Sachverständigen
Orientierungssatz
Da die Auswahl der Sachverständigen dem Gericht obliegt (§ 404 Abs 1 S 1 ZPO), andererseits der zum Sachverständigen ernannte Arzt das Gutachten erstatten und unterschreiben muß (§§ 407 Abs 1, 411 Abs 1 S 1 ZPO), darf der beauftragte Sachverständige sich weder in der Erfüllung seiner dem Gericht gegenüber bestehenden Verpflichtung vertreten lassen, noch kann er den Auftrag wirksam auf einen anderen Arzt übertragen (vgl BSG vom 28.3.1984 9a RV 29/83 = SozR 1500 § 128 Nr 24).
Normenkette
SGG § 118 Abs 1 S 1; ZPO § 404 Abs 1 S 1, § 407 Abs 1, § 411 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 07.06.1984; Aktenzeichen L 1 J 1631/83) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 03.08.1983; Aktenzeichen S 13 J 89/83) |
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente.
Die 1931 in Jugoslawien geborene Klägerin arbeitete dort ihren Angaben zufolge als angelernte Schneiderin. In der Bundesrepublik Deutschland war sie zunächst wenige Monate als Hotelgehilfin, dann ab 1967 als Änderungsschneiderin tätig; seit 1970 arbeitete sie in ihrer eigenen Änderungsschneiderei etwa zwei bis drei Stunden täglich.
Den von der Klägerin im März 1982 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte nach Einholung mehrerer Gutachten ab, weil weder Erwerbs- noch Berufsunfähigkeit vorliege (Bescheid vom 15. September 1982); den Widerspruchsbescheid wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 1982).
Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3. August 1983). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat Dr. med. K, Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses S in P, zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Das schriftliche Gutachten ist am 22. März 1984 unter Benutzung eines Kopfbogens dieses Arztes erstattet, aber nur von dem Facharzt für Chirurgie Dr. med. W unterschrieben worden. Dieser Arzt hat aus orthopädisch-chirurgischer Sicht die Klägerin für fähig gehalten, vollschichtig leichte körperliche Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten ohne Nässe- und Kälteexposition zu verrichten; unter Mitberücksichtigung der ausgeprägten neurotischen Symptomatik könne sie keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit mehr nachgehen.
Durch Urteil vom 7. Juni 1984 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen: Die Klägerin sei weder erwerbs- noch berufsunfähig; sie könne als angelernte Änderungsschneiderin auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden und leichte körperliche Tätigkeiten vollschichtig mit den durch chirurgisch-orthopädische Befunde bedingten Einschränkungen verrichten. Dies bestätige auch der vom Senat bestellte Sachverständige Dr. K. Soweit er allerdings auf eine neurotische Symptomatik mit erheblicher Auswirkung auf die Leistungsfähigkeit abhebe, könne ihm nicht gefolgt werden. Die Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie Dr. B (im August 1982) und Frau Dr. S (im März 1982) hätten auf eine psychosomatische Entwicklung hingewiesen; diese bleibe aber ohne gravierenden Einfluß auf die Erwerbsfähigkeit der Klägerin. Es habe auch kein Anlaß bestanden, von Amts wegen ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin einen Verstoß gegen § 118 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm §§ 404, 407 der Zivilprozeßordnung (ZPO) und zugleich eine Verletzung der Aufklärungspflicht: Nicht der vom LSG zum Gutachter bestellte Chefarzt Dr. K, sondern der Chirurg Dr. W habe das Gutachten erstattet; das Berufungsgericht stütze seine Entscheidung auf dieses Gutachten und gehe davon aus, daß Dr. K es erstattet habe. Im übrigen habe das LSG noch ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einholen müssen.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß), die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. April 1982 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte hat sich zum Revisionsvorbringen nicht geäußert.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des landessozialgerichtlichen Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet. Die Feststellungen des LSG sind verfahrensfehlerhaft zustandegekommen.
Sowohl der in erster Linie geltend gemachte Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit wie auch der Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente setzt Feststellungen über das verbliebene Leistungsvermögen voraus (vgl §§ 1247 Abs 2 Satz 1, 1246 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-), die auf medizinischem Gebiet liegen. Das LSG hat, um sich eine breitere Beurteilungsgrundlage hierfür zu schaffen, durch richterliche Anordnung vom 2. Dezember 1983 den Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses St. T, Dr. K, zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt und ihn gebeten, zu im einzelnen formulierten Fragen ein Gutachten zu erstatten. Ein Gutachten ist unter dem 22. März 1984 "gemäß Auftrag vom 2. 12. 1983", aber nicht von Chefarzt Dr. K, sondern von dem am selben Krankenhaus tätigen Facharzt für Chirurgie Dr. W erstattet worden. Mit Recht rügt die Klägerin einen darin liegenden Verstoß gegen § 118 Abs 1 SGG, die - nach vorgenannter Bestimmung entsprechend anzuwendenden - §§ 404, 407 ZPO und zugleich eine Verletzung der Aufklärungspflicht (vgl §§ 103 Satz 1, 106 Abs 1 und Abs 3 Nr 5 SGG).
Da die Auswahl der Sachverständigen dem Gericht obliegt (§ 404 Abs 1 Satz 1 ZPO), andererseits der zum Sachverständigen ernannte Arzt das Gutachten erstatten und unterschreiben muß (§§ 407 Abs 1, 411 Abs 1 Satz 1 ZPO), durfte Chefarzt Dr. K sich weder in der Erfüllung seiner dem Gericht gegenüber bestehenden Verpflichtung vertreten lassen, noch konnte er den Auftrag wirksam auf einen anderen Arzt übertragen (BSG in SozR 1500 § 128 Nr 24 und die dort zitierte Literatur; BSG in SozR Nrn 71 und 81 zu § 128 SGG, ferner auch Nrn 73 und 93 aaO). Es ist verfahrensfehlerhaft, daß das LSG gleichwohl sein Urteil, nämlich die zugrunde gelegte Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin, auch auf das "Sachverständigengutachten ... des Chirurgen Dr. K vom 22. März 1984" gestützt hat (vgl zB BSG in SozR Nr 81 zu § 128 SGG; für den Fall, daß der bestellte Sachverständige lediglich mit dem Vermerk "Einverstanden" unterschreibt: BSG in SozR 1500 § 128 Nr 24; für den Verwaltungsgerichtsprozeß: BVerwG in NJW 1984, 2645).
Die Frage, ob das "Gutachten", das nicht der vom Gericht bestellte Sachverständige, sondern ein anderer Arzt erstattet hat, vom Berufungsgericht im Wege der freien Beweiswürdigung hätte verwertet werden dürfen (vgl BSG in SozR Nr 81 zu § 128 SGG), stellt sich hier nicht. Denn dies setzt ua voraus, daß sich das LSG der Unmöglichkeit bewußt gewesen wäre, das in Wahrheit von dem Sachverständigen Dr. W erstellte "Gutachten" seinen Feststellungen als Sachverständigengutachten zugrunde zu legen. Dies ist indessen nicht der Fall. Vielmehr spricht das Berufungsurteil durchweg vom "Sachverständigen" Dr. K und dessen "Sachverständigengutachten" oder als Sachverständiger erstattetem Gutachten. Schon aus diesen Gründen scheiden auch Erwägungen aus, ob das "Gutachten" als Urkunde gewertet, also der zwar angeordnete, aber nicht zustandegekommene Sachverständigenbeweis als Urkundenbeweis gelten kann (zu Einzelheiten vgl BSG in SozR 1500 § 128 Nr 24).
Das Urteil kann auch auf dem Verfahrensmangel beruhen. Denn es ist zumindest nicht auszuschließen, daß der vom LSG bestimmte Sachverständige Dr. K zu einer anderen, für die Klägerin günstigen Beurteilung des Leistungsvermögens im Sinne des geltend gemachten Anspruchs gelangt und das LSG dieser Beurteilung gefolgt wäre.
Da bereits wegen des vorbezeichneten Verfahrensmangels das angefochtene Urteil aufgehoben werden muß, braucht nicht entschieden zu werden, ob noch ein weiterer von der Klägerin gerügter Verfahrensmangel vorliegt. Dessen ungeachtet kann sich die nochmalige Prüfung empfehlen, ob es im Hinblick auf die gutachtlichen Äußerungen des Chirurgen Dr. W ausreicht, sich auf mehrere Jahre zurückliegende neurologisch-psychiatrische Gutachten zu berufen, oder ob es angezeigt erscheint, im psychiatrischen Bereich weitere Ermittlungen anzustellen, möglicherweise - wie von Dr. med. W vorgeschlagen - unter Hinzuziehung eines analytisch geschulten Psychotherapeuten.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen