Verfahrensgang
SG Freiburg i. Br. (Urteil vom 10.06.1988) |
Tenor
Die Sprungrevision der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Juni 1988 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Kläger begehren ein höheres Altersruhegeld für die Klägerin wegen Kindererziehung.
Die Klägerin ist am 16. September 1920 geboren; der Kläger ist ihr Ehemann. Von 1937 bis 1951 war die Klägerin versicherungspflichtig beschäftigt und leistete entsprechende Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter. Danach entrichtete sie bis 1960 freiwillige Beiträge. In den Jahren 1952 bis 1966 gebar sie zehn Kinder, von denen eines neun Monate nach der Geburt verstarb.
Die Beklagte gewährte der Klägerin durch Bescheid vom 19. Dezember 1985 ab 1. Oktober 1985 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres, ausgehend von einem Versicherungsfall vom 15. September 1985. Der 1910 geborene Kläger erhält keine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.
Mit Schreiben vom 5. April 1986 beantragten die Kläger „angemessene Rentengegenleistungen” aufgrund der Kindererziehung. Dies lehnte die Beklagte gegenüber der Klägerin durch Bescheid vom 23. April 1986 und gegenüber dem Kläger durch Bescheid vom 4. Juni 1986 mit der Begründung ab, daß – unbeschadet weiterer Voraussetzungen – gemäß § 1251a Reichsversicherungsordnung (RVO) nur Müttern und Vätern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren seien, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 angerechnet werden könnten.
Die gegen den Bescheid vom 23. April 1986 und das Gesetz zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung (Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz -HEZG-) vom 11. Juli 1985 (BGBl I S 1450) eingelegte Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit der Begründung nicht zur Entscheidung an, die unmittelbar gegen das HEZG gerichtete Verfassungsbeschwerde sei unzulässig, weil zur Durchführung dieses Gesetzes ein besonderer Vollziehungsakt erforderlich und nach dessen Ergehen die Erschöpfung des Rechtsweges zumutbar sei (Beschluß der 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 30. Juni 1986 – 1 BvR 567/86 –).
Die gegen die Bescheide vom 23. April 1986 und 4. Juni 1986 gerichtete Klage wies das Sozialgericht Freiburg (SG) durch Urteil vom 10. Juni 1988 ab. Die Klage sei unbegründet, da nach geltender Rechtslage Zeiten der Kindererziehung nur nach den Bestimmungen des § 1251a RVO iVm Art 2 § 5c Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) idF des HEZG bzw nach Art 2 § 62 ArVNG idF des Kindererziehungsleistungsgesetzes (KLG) vom 17. Juli 1987 (BGBl I S 1585) berücksichtigt werden könnten. Für eine darüber hinausgehende „leistungsgerechte” Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten fehle es an einer Rechtsgrundlage. Dieser Umstand gebiete keine Vorlage nach Art 100 Abs 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) an das BVerfG. Hierzu sei nämlich die Überzeugung des erkennenden Gerichts erforderlich, das Fehlen einer solchen Rechtsgrundlage verstoße gegen die Verfassung. Ein verfassungswidriges Unterlassen des Gesetzgebers liege zur Überzeugung der Kammer jedoch nicht vor. Die Klage sei auch nicht insoweit begründet, als die Kläger hilfsweise die Anerkennung der Kindererziehungszeiten nach § 1251a RVO begehrten. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien nicht erfüllt, da die Kläger nicht nach dem 31. Dezember 1920 geboren seien. Die Stichtagsregelung verstoße ebenfalls nicht gegen die Verfassung, so daß auch insoweit eine Vorlage nach Art 100 Abs 1 Satz 1 GG nicht geboten sei. Soweit Ansprüche nach Art 2 § 62 ArVNG in Rede stünden, erfülle der Kläger die Voraussetzungen nicht, da nur die leibliche Mutter begünstigt sei. Die Klägerin gehöre (noch) nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis, da sie nach der Stufenregelung des Art 2 § 62 Abs 2 ArVNG Leistungen erst ab 1. Oktober 1990 erhalten könne. Auch hinsichtlich dieser Regelung sei die Kammer nicht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision, zu deren Einlegung die Beklagte gemäß § 161 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) schriftlich ihre Zustimmung erklärt hat, verfolgen die Kläger ihr Begehren eingeschränkt in dem Sinn weiter, daß Leistungen nur noch für die Klägerin begehrt werden. Für ihren Hauptantrag machen sie geltend, der Gesetzgeber habe es in verfassungswidriger Weise unterlassen, die Zeiten der Kindererziehung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung angemessen zu berücksichtigen. Sie stützen dies im Kern auf die Überlegung, daß die heute heranwachsende Generation in der Zukunft das Sozialprodukt erwirtschaften müsse, aus dem die gegenwärtig Erwerbstätigen dann ihre Altersbezüge erhielten. Die Erziehung der nächsten Generation sei damit eine existentielle Voraussetzung für das Funktionieren des Generationenvertrages. Daraus folge, daß die erheblichen Aufwendungen, die mit der Erziehung von Kindern verbunden seien, nicht allein den Erziehenden aufgebürdet werden dürften. Neben dem allgemeinen Familienlastenausgleich sei es durch Verfassungsauftrag geboten, auch im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung die Zeit der Kindererziehung „leistungsgerecht, dh beitragsäquivalent” zu berücksichtigen, und zwar zu Lasten derjenigen, die sich den Aufwendungen der Kindererziehung durch Kinderlosigkeit entzögen. Dieser Verfassungsauftrag ergebe sich aus Art 6 GG, weil daraus die Pflicht des Staates zur Förderung der Familie folge. Die Förderung der Familie könne jedoch erst dann einsetzen, wenn die massive Benachteiligung der Familie durch das gegenwärtige Rentenrecht beseitigt werde. Insoweit liege deshalb ein Eingriff in den Schutzbereich der „wertentscheidenden Grundsatznorm” des Art 6 GG vor. Solange diese Benachteiligung der Familien mit Kindern fortdauere, würden die Familien „enteignet”. Art 3 Abs 1 GG sei durch die unterschiedliche Bewertung der Kindererziehungszeiten und der Beitragszahlung im gegenwärtigen Rentenrecht verletzt, weil es sich in beiden Fällen um den gleichen güterwirtschaftlichen Vorgang handle: Konsumverzicht zugunsten anderer.
Für ihren Hilfsantrag bringen die Kläger vor, der Verweis auf die Nichtfinanzierbarkeit einer Regelung, die Erziehungszeiten vor dem 1. Januar 1986 für alle Erziehenden rentensteigernd gemäß § 1251a RVO ohne Beschränkung auf die nach dem 31. Dezember 1920 Geborenen vorsehe, gehe fehl, da sich der Gesetzgeber dann nicht auf das Argument mangelnder Finanzierbarkeit stützen könne, wenn er gleichzeitig – wie vorliegend durch das HEZG vom 11. Juli 1985 – eine Hinterbliebenenversorgung auch für Witwer aus kinderlosen Ehen einführe und so die knappen Mittel dorthin lenke, wo kein Bedarf bestünde. Daraus folge, daß der Ausschluß der Erziehenden mit Geburtsjahr 1920 und früher von der Vergünstigung des § 1251a RVO willkürlich und infolgedessen verfassungswidrig sei. Hinzu komme, daß die im Gesetzgebungsverfahren geschätzten Aufwendungen für die unbeschränkte Anrechnung der Kindererziehungszeiten überhöht seien. Statt der genannten fünf bis sechs Milliarden DM jährlich für die Einbeziehung auch der älteren Erziehenden sei vielmehr hierfür lediglich ein Betrag von 2,52 Milliarden DM jährlich erforderlich. Daß die Klägerin während der streitigen Erziehungsjahre noch freiwillige Beiträge geleistet habe und gemäß § 1255a Abs 5 RVO die Zeiten der Kindererziehung nur dem Berechtigten in vollem Umfang zugute komme, dessen Kindererziehungszeiten nicht mit anderen in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigenden Zeiten zusammenträfen, verschärfe die relative Benachteiligung der Klägerin und verdeutliche die willkürliche Gesetzgebung.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Juni 1988 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. April 1986 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kindererziehung der Klägerin leistungsgerecht, dh beitragsäquivalent zu berücksichtigen,
hilfsweise,
die Beklagte unter Aufhebung des genannten Bescheides zur Anerkennung der Kindererziehungszeiten der Klägerin entsprechend § 1251a RVO, jedoch ohne die Stichtagsregelung des 31. Dezember 1920, zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die kraft Zulassung durch das SG statthafte, mit schriftlicher Zustimmung des Gegners form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Sprungrevision der Kläger ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, der Bescheid der Beklagten vom 23. April 1986 ist nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf „leistungsgerechte, dh beitragsäquivalente” Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten noch auf Anrechnung von Kindererziehungszeiten.
Der im Revisionsverfahren gestellte Hauptantrag erfüllt trotz seiner sprachlich allgemeinen Fassung sachlich noch die Voraussetzungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG, wonach innerhalb der Begründungsfrist ein bestimmter Revisionsantrag zu stellen ist. Denn dem Erfordernis des bestimmten Antrages genügt es, wenn sich aus der Revisionsbegründung ergibt, welches Prozeßziel die Revision erreichen will (ständige Rechtsprechung der Bundessozialgerichts -BSG-, vgl BSG SozR 1500 § 164 Nr 10 mwN). Zumindest in der Begründung ihres Rechtsmittels haben die Kläger deutlich gemacht, daß sie in der Hauptsache eine höhere Rentenleistung aufgrund der von der Klägerin erbrachten Kindererziehung erstreben. Damit ist hinreichend klar erkennbar, daß unter Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer höheren Sozialleistung erreicht werden soll. Es ist daher für die Frage der Bestimmtheit des Hauptantrages nicht entscheidend, daß die Kläger weder in der Revisionsschrift noch in der Revisionsbegründung näher erläutert haben, was sie unter „leistungsgerecht bzw beitragsäquivalent” verstehen.
Dem Verfahrenstyp nach handelt es sich bei dem Hauptbegehren der Kläger um eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage iS von § 54 Abs 4 SGG. Dies gilt auch für den Hilfsantrag, selbst wenn die Kläger insoweit lediglich die Anerkennung von Kindererziehungszeiten entsprechend § 1251a RVO beantragt haben. Zwar spricht der Wortlaut des Hilfsantrags für ein Feststellungsbegehren. Der Senat ist aber nicht an die Fassung der Anträge gebunden (§ 123 SGG). Entscheidend ist vielmehr das von den Klägern tatsächlich erstrebte Rechtsschutzziel, das sich nach den Ausführungen in der Revisionsbegründungsschrift erkennbar auf die volle Anrechnung des Wertes der Kindererziehungszeiten bei der Berechnung des Altersruhegeldes der Klägerin richtet.
Dem Rechtsschutzbegehren des Klägers ist der Erfolg schon deshalb versagt, weil ihm für den infolge entsprechender Beschränkung der Revision allein noch anhängigen Anspruch der Klägerin auf Erhöhung ihres Altersruhegeldes die Prozeßführungsbefugnis fehlt. Er wird durch den Ausgang des Rechtsstreits nur insoweit mittelbar betroffen, als dadurch die Höhe der Unterhaltsansprüche gegen seine Ehefrau bzw die Höhe einer eventuellen Hinterbliebenenrente aus der Versicherung seiner Ehefrau berührt ist. Dieses mittelbare Betroffensein verdichtet sich nicht zu einer eigenständigen Klagebefugnis. Das BSG hat die Klagebefugnis des mittelbar Betroffenen bloß dann bejaht, wenn allein auf diesem Wege eine Beeinträchtigung der Rechtsposition des Dritten vermieden werden kann (BSGE 34, 289, 291 mwN). Dies ist vorliegend nicht der Fall, da dem Kläger bei Eintritt der Voraussetzungen der Hinterbliebenenrente der Rechtsweg offensteht und er hinsichtlich des Unterhaltsanspruchs zivilrechtlich ausreichend geschützt ist. Soweit ein Versicherter es unterläßt, den Rechtsanspruch auf eine Sozialleistung geltend zu machen, wird bei der zivilrechtlichen Unterhaltsberechnung ein fiktives Einkommen in Höhe der Sozialleistung unterstellt, wenn die unterlassene Realisierung des Anspruchs den Regeln einer ordnungsgemäßen Wirtschaftsführung widerspricht.
Für die Entscheidung über den Leistungsanspruch der Klägerin ist zunächst die Rüge der Revision unbeachtlich, das SG habe den erstinstanzlichen Antrag auf Vorlage nach Art 100 Abs 1 Satz 1 GG übersehen. Ein Gericht hat von Amts wegen vorzulegen, wenn es von der Verfassungswidrigkeit einer entscheidungserheblichen nachkonstitutionellen Norm überzeugt ist. Aus welchen Gründen dies nach seiner Rechtsmeinung im vorliegenden Fall nicht in Betracht kam, hat das SG eingehend dargelegt.
Ebenso spielt es für den Erfolg der Revision keine Rolle, ob der Klägerin ein Anspruch auf Leistungen nach Art 2 § 62 ArVNG ab 1. Oktober 1990 zusteht. Ein solcher Anspruch ist nicht Gegenstand des angefochtenen Verwaltungsaktes der Beklagten gewesen und auch nicht zum Gegenstand des anhängigen Rechtsstreits gemacht worden. Über ihn darf daher gemäß § 123 SGG keine gerichtliche Entscheidung ergehen.
Für die Beurteilung des Anspruchs der Klägerin nach Sozial-und Verfassungsrecht im übrigen ist auf die ins Einzelne gehende Begründung zu verweisen, die der Senat seinem Urteil vom 29. November 1990 in der Rechtssache W … ./. LVA Baden, Az 5/4a RJ 53/87 gegeben hat. Der dort entschiedene Fall und der hier anhängige Rechtsstreit decken sich nach ihren zugrundeliegenden Sachverhalten in der Rechtsproblematik; die Klageziele sind kongruent formuliert, die Begründungen der Revisionen parallel abgefaßt. Haupt- und Hilfsantrag der jeweiligen Klägerin sind demzufolge aus identischen Erwägungen als unbegründet zu bezeichnen. Eine Vorlage an das BVerfG kommt hier wie dort aus denselben Erwägungen nicht in Frage. Wie in dem anderen Rechtsstreit ist demzufolge auch hier die Sprungrevision der Klägerin als unbegründet gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen