Leitsatz (amtlich)
Die Berufung ist nicht nach SGG § 145 Nr 1 ausgeschlossen, wenn zwar der Versicherungsträger den Entschädigungsanspruch wegen Versäumung der Anmeldefrist des RVO § 1546 abgelehnt, das SG jedoch die Frage der Fristversäumung offengelassen und die Klage wegen Nichterweislichkeit des Arbeitsunfalls abgewiesen hat.
Normenkette
RVO § 1546 Fassung: 1942-08-20; SGG § 145 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26 . April 1961 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben .
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen .
Von Rechts wegen .
Gründe
I
Die Klägerin befand sich als Angehörige einer Frontbühne im Sommer 1943 im Tournee-Einsatz an der Ostfront . Bei einem Fliegerangriff nahm sie in einem Laufgraben Deckung . Ein ebenfalls in diesem Graben schutzsuchender Soldat stürzte auf sie . Dadurch will die Klägerin eine Beckenschädigung erlitten haben . In der weiteren Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit war sie durch gesundheitliche Beschwerden nicht behindert worden . Mit Schreiben vom 26 . Juni 1956 meldete sie erstmalig Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung an und machte geltend , sie leide noch immer an Lähmungserscheinungen , welche die Folge eines unfallbedingten Beckenbruches seien . Die Beklagte lehnte einen Entschädigungsanspruch durch Bescheid vom 17 . Dezember 1957 mit der Begründung ab , der Anspruch der Klägerin sei ausgeschlossen , da sie ihn nicht innerhalb der Frist des § 1546 der Reichsversicherungsordnung (RVO) angemeldet habe und die Voraussetzungen für eine nachträgliche Anmeldung nach § 1547 RVO nicht gegeben seien .
Die hiergegen gerichtete Klage ist durch Urteil des Sozialgerichts (SG) München vom 3 . August 1960 abgewiesen worden . Das SG läßt es dahingestellt sein , ob der Anspruch der Klägerin nach § 1546 RVO ausgeschlossen ist , da er ohnehin unbegründet sei . Dazu hat es ausgeführt: Es sei schon nicht wahrscheinlich , daß sich der von der Klägerin behauptete Unfall ereignet habe . Die in der polizeilichen Unfalluntersuchung vernommenen Zeugen seien keine Augenzeugen des Unfallgeschehens gewesen und hätten es nur für möglich gehalten , daß die Klägerin anläßlich eines Fliegerangriffs im Jahre 1943 verletzt worden sei . Unwahrscheinlich sei jedenfalls , daß die Klägerin damals einen Beckenbruch erlitten habe; sie hätte sonst ihre Tätigkeit in der Spielgruppe nicht wie geschehen fortsetzen können . Die bestehenden Besehwerden seien aus einer anlagebedingten Osteochondrose der unteren Lendenwirbelsäule , auf die der angebliche Unfall mangels ausreichender Schwere einer Verletzung nicht verschlimmernd eingewirkt haben könne , und einer unfallunabhängigen Tabes dorsalis zu erklären .
Mit der Berufung hiergegen hat die Klägerin geltend gemacht , sie habe den Unfall bereits in den Jahren 1943 bis 1945 bei der Verwaltungsstelle des Veranstaltungsdienstes der KdF-Truppenbetreuung in München gemeldet; die Wirbelschädigung habe sich erst im Jahre 1953 gelegentlich einer Röntgenuntersuchung herausgestellt . Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 26 . April 1961 die Berufung als unzulässig verworfen . Es hat ausgeführt: Die Entschädigungsansprüche aus Anlaß des Unfalls der Klägerin vom Jahre 1943 seien verspätet angemeldet worden . Ein Ausnahmefall , der nach § 1547 RVO die nachträgliche Anmeldung rechtfertige , sei nicht gegeben . Die Beklagte habe sich zu Recht auf die Ausschlußfrist des § 1546 RVO berufen , da der Anspruch der Klägerin in der Sache nicht unzweifelhaft sei . Das Unfallereignis selbst sei nicht hinreichend wahrscheinlich . Der ursächliche Zusammenhang der Beschwerden der Klägerin mit dem geltend gemachten Schadensereignis sei ebenfalls nicht erwiesen . In dem rechtskräftig abgeschlossenen Versorgungsrechtsstreit , der dasselbe Verletzungsgeschehen zum Gegenstand gehabt habe , sei festgestellt worden , daß die Beschwerden der Klägerin andere , von diesem Geschehen unabhängige Ursachen haben . Demzufolge sei die Berufung nach § 145 Nr . 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen . Ihre Zulässigkeit sei nicht aus § 150 SGG herzuleiten . Der Fall der Nr . 3 dieser Vorschrift sei nicht etwa deshalb gegeben , weil die Berufung auf das Vorliegen eines Streites über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall gestützt werde . Der Umstand , daß das SG die Klage nicht wegen Versäumung der Ausschlußfrist abgewiesen habe , rechtfertige die Zulässigkeit der Berufung nicht , da die Beklagte auch im Berufungsverfahren ausdrücklich den Einwand der Fristversäumnis aufrechterhalten habe und die Streitsache nach § 145 Nr . 1 SGG zu beurteilen sei .
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen .
Das Urteil ist der Klägerin am 24 . Mai 1961 zugestellt worden . Sie hat hiergegen durch ihren Prozeßbevollmächtigten am 21 . Juni 1961 Revision eingelegt und diese am 28 . Juli 1961 innerhalb der bis zum 24 . August 1961 verlängerten Frist des § 164 Abs . 1 SGG begründet . Sie führt aus: Das LSG habe § 145 Nr . 1 und § 150 Nr . 3 SGG verletzt . Ein Fall des Berufungsausschlusses liege nicht vor . Das LSG habe verkannt , daß das erstinstanzliche Urteil den Antrag der Klägerin nicht wegen Versäumung der Ausschlußfrist des § 1546 RVO abgelehnt , vielmehr die Klage abgewiesen habe , weil es einen Arbeitsunfall der Klägerin , insbesondere den ursächlichen Zusammenhang ihrer Beschwerden mit einem solchen Unfall , nicht für wahrscheinlich angesehen habe . In einem derartigen Fall sei § 145 Nr . 1 SGG nicht anwendbar . Im übrigen sei entgegen der Ansicht des LSG die Zulässigkeit der Berufung auf jeden Fall aus § 150 Nr . 3 SGG herzuleiten , da unter den Beteiligten Streit über den ursächlichen Zusammenhang der gesundheitlichen Beschwerden der Klägerin mit ihrem Unfall bestehe und in dem erstinstanzlichen Urteil darüber entschieden worden sei . Das Berufungsurteil lasse sich auch nicht etwa auf § 145 Nr . 2 SGG stützen . Das LSG hätte sonach , anstatt durch ein Prozeßurteil zu erkennen , eine Sachentscheidung treffen müssen . Aus diesem Grund leide sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG .
Die Klägerin beantragt ,
unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des ablehnenden Bescheides der Beklagten der Klägerin aus Anlaß ihres Unfalls vom August 1943 die Rente zu gewähren .
Die Beklagte beantragt ,
die Revision als unzulässig zu verwerfen ,
hilfsweise ,
die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen .
Sie führt aus: Es sei zweifelhaft , ob die Erwägungen des LSG , mit denen es die Anwendbarkeit des § 145 Nr . 1 SGG rechtfertige materiell-rechtlichen Charakter haben , so daß sie einer Verfahrensrüge im Sinne des § 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG nicht zugänglich seien . Dasselbe gelte für die Auffassung des LSG , ein Fall des § 145 Nr . 1 SGG sei auch dann gegeben , wenn - wie hier - der Versicherungsträger die Ablehnung des Entschädigungsanspruchs auf § 1546 RVO gestützt habe , ohne daß auch für das Urteil des SG dieser Ablehnungsgrund maßgebend gewesen sei .
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden . Sie ist auch statthaft , da der gerügte Verfahrensmangel vorliegt . Das Berufungsverfahren leidet an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG; das LSG hat die Berufung als unzulässig verworfen , obwohl eine Sachentscheidung hätte ergehen müssen (BSG 1 , 283) . Das LSG hat im vorliegenden Streitfall zu Unrecht angenommen , daß die Berufung ausgeschlossen sei .
Die Zulässigkeit der im September 1960 eingelegten Berufung ist nach § 145 Nr . 1 SGG in der Fassung des am 1 . Juli 1958 in Kraft getretenen Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGG vom 25 . Juni 1958 (BGBl I , 409) zu beurteilen . Danach ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Berufung u . a . nicht zulässig , wenn sie Anträge betrifft , die wegen Versäumung der Ausschlußfrist (§ 1546 RVO) abgelehnt wurden , es sei denn , daß die Ausnahmefälle des § 1547 RVO geltend gemacht werden . Die Auffassung des LSG , daß der Ausschlußgrund des § 145 Nr . 1 SGG im vorliegenden Fall gegeben sei , trifft nicht zu . Die Berufung der Klägerin betraf nicht , wie das LSG angenommen hat , einen Antrag , der wegen Versäumung der Ausschlußfrist abgelehnt worden ist . Dem steht nicht entgegen , daß die Beklagte ihren ablehnenden Bescheid ausschließlich mit der Fristversäumnis begründet und den Einwand aus § 1546 RVO auch im Klage- und Berufungsverfahren aufrechterhalten hat . Entscheidend ist , daß sich die Berufung gegen das Urteil des SG richtet . Mit diesem Urteil wurde aber die Klage nicht wegen der Fristversäumung , sondern ausschließlich wegen Fehlens der materiellrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen (Arbeitsunfall) abgewiesen . Mit seiner Auffassung , daß trotzdem der Ausschlußgrund des § 145 Nr . 1 SGG gegeben sei , weil die Rechtsfolgen des § 1546 RVO feststellbar seien und der auf diese Vorschrift gestützte Einwand der Beklagten nicht rechtsmißbräuchlich sei , irrt das LSG . Träfe sie zu , wäre die Berufung nicht zulässig und demzufolge das angegriffene Urteil mit der Feststellung rechtskräftig , daß kein zu entschädigender Arbeitsunfall der Klägerin vorliege . Ein solches Ergebnis entspräche nicht dem Grundgedanken des Gesetzes , den Instanzenzug im Interesse der Entlastung der Gerichte nur in denjenigen Sachen zu beschränken , in denen über verhältnismäßig einfach zu beantwortende Rechtsfragen - z . B . Versäumung der Anmeldefrist - zu entscheiden ist . Dies hat das LSG verkannt . Seine Feststellungen zur Frage der Fristversäumung und der Berechtigung des darauf gestützten Einwandes der Beklagten hatten daher in einem Urteil über die Berufung der Klägerin gegen das in der angeführten Weise begründete Urteil des SG keinen Raum . Die Berufung war somit nicht nach § 145 Nr . 1 SGG ausgeschlossen . Die Rechtsmittelbelehrung des erstinstanzlichen Urteils traf daher zu .
Auch ein Ausschließungsgrund nach § 145 Nr . 2 SGG liegt nicht vor . Die Berufung betraf nicht nur Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum . Im berufsgenossenschaftlichen Verwaltungsverfahren hatte die Klägerin zwar zum Ausdruck gebracht , daß die Leistungspflicht der Beklagten nur für die Zeit bis zum Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes (1 . Oktober 1950) in Betracht komme , da ihr von diesem Zeitpunkt an Versorgungsansprüche zustünden . Diese Ansprüche sind aber nach den Feststellungen des LSG spätestens im Juli 1959 im Versorgungsstreitverfahren endgültig abgelehnt worden . Das Klagbegehren aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist daher schon in dem erst im August 1960 - also nach dem für die Klägerin negativen Ausgang des Versorgungsstreites - abgeschlossenen Verfahren vor dem SG auf die Gewährung einer zeitlich unbegrenzten Rente gerichtet gewesen . Hiervon sind auch die beiden Vorinstanzen offensichtlich ausgegangen . Aus dem im Revisionsverfahren gestellten Antrag wird besonders klar , daß die Klägerin nach Abschluß des Versorgungsstreitverfahrens die Unfallrente für unbegrenzte Dauer verlangen wollte . In diesem Zusammenhang ist zu bemerken , daß es für die beiden Tatsacheninstanzen nahegelegen hätte , die Klägerin gemäß § 106 SGG zur Stellung eindeutiger Anträge im Sinne des § 123 SGG zu veranlassen . Auf Grund des vorstehend aufgezeigten Verstoßes gegen das Verfahrensrecht , den die Klägerin den Erfordernissen des § 164 Abs . 2 SGG entsprechend gerügt hat , ist ihre Revision statthaft und damit zulässig .
Die Revision ist auch begründet . Zwar hat es nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens den Anschein , daß der Entschädigungsanspruch der Klägerin nach § 1546 RVO ausgeschlossen sein könnte . Indessen ist mit Rücksicht darauf , daß bisher der Sachverhalt mit der Klägerin im Streitverfahren vor den Tatsacheninstanzen nicht erörtert worden ist , nicht völlig ausgeschlossen , daß die Entscheidung bei prozessual einwandfreiem Verfahren zu ihren Gunsten ergangen wäre . Das angefochtene Urteil mußte daher , weil der Sachverhalt einer weiteren Klärung bedarf , mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs . 2 SGG) .
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten .
Fundstellen