Leitsatz (amtlich)

1. Wurde wegen einer als Folge eines Arbeitsunfalls anerkannten Gesundheitsstörung eine vorläufige Rente gewährt, so war der Rekurs durch RVO § 1700 Nr 7 nicht ausgeschlossen, wenn über den ursächlichen Zusammenhang anderer Gesundheitsstörungen mit dem Arbeitsunfall Streit bestand (Abweichung von RVA, GE Nr 2790, AN 1915, 405).

2. Die Berufung ist nicht nach SGG § 145 Nr 3 ausgeschlossen, wenn anläßlich der Feststellung einer vorläufigen Rente der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall streitig ist (SGG § 150 Nr 3).

3. Die Berufung ist nicht nach SGG § 145 Nr 1 ausgeschlossen, wenn zwar der Versicherungsträger den Anspruch wegen Fristversäumnis (RVO § 1546) abgelehnt, das SG jedoch den vom Versicherten geltend gemachten Ausnahmefall des RVO § 1547 Abs 1 Nr 1 als nicht vorliegend erachtet hat, weil der behauptete ursächliche Zusammenhang zwischen der neu aufgetretenen Gesundheitsstörung (Verschlimmerung) und dem Arbeitsunfall nicht bestehe.

4. Ist eine beim Landesversicherungsamt für das Saarland anhängige Sache nach EG SGb SL § 1 Nr 9 vom 1958-06-10 auf das LSG für das Saarland übergegangen, so ist die Zulässigkeit des Rechtsmittels nach altem und nach neuem Verfahrensrecht zu prüfen (Fortführung BSG 1955-09-20 9 RV 46/54 = BSGE 1, 204; Fortführung BSG 1956-02-29 10 RV 75/55 = BSGE 2, 225; Fortführung BSG 1955-11-29 9 RV 408/54 = SozR Nr 17 zu § 215 SGG; Fortführung BSG 1955-12-06 9 RV 32/54 = SozR Nr 18 zu § 215 SGG).

5. Unrichtige medizinische Belehrung des Versicherten durch den behandelnden Arzt ist ein Umstand, der den Verlust des Entschädigungsanspruchs durch Ablauf der Ausschlußfrist (RVO § 1547) hindern kann. (Weiterführung von RVA, AN 1893, 179 Nr 1233)

 

Normenkette

RVO § 1700 Nr. 7 Fassung: 1953-09-03; SGG § 145 Nrn. 1, 3, § 150 Nr. 3, § 215; RVO § 1546 Fassung: 1942-08-20, § 1547 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1924-12-15; SGGEG SL § 1 Nr. 9 Fassung: 1958-06-18

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 24. August 1960 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

In der ... 1952 der Landesversicherungsanstalt für das Saarland (LVA), Abt. Landwirtschaftliche Arbeitsunfallversicherung, erstatteten Unfallanzeige gab die Klägerin an, sie sei im landwirtschaftlichen Unternehmen ihres Ehemannes am 31. Juli 1950 nach der Mithilfe beim Heustapeln dadurch verunglückt, daß beim Hinuntersteigen vom Heuboden die Leiter abgerutscht sei; durch den Sturz habe sie einen Bandscheibenschaden am 5. Lendenwirbel erlitten. Dieses Leiden sei erst durch den Facharzt für Orthopädie Dr. G, von dem sie seit Dezember 1951 behandelt werde, entdeckt und auf den Unfall zurückgeführt worden. Diese Diagnose habe sie veranlaßt, den Unfall zu melden.

Die LVA stellte Ermittlungen über den Zeitpunkt und Hergang des Unfalls an und hörte die von der Klägerin benannten Ärzte. Der praktische Arzt Dr. F erklärte, er habe die Klägerin am 20. Juni 1949 wegen Rückenkontusion infolge Sturz von der Scheunenleiter behandelt. Die Klägerin und ihr Ehemann behaupteten, Dr. F sei im Irrtum, der Unfall habe sich erst im Jahre 1950 ereignet. Der Frauenarzt Prof. Dr. F, den die Klägerin im März 1951 wegen Kreuzschmerzen aufgesucht hatte, berichtete, wegen dieser Beschwerden, welche die Klägerin auf einen Sturz von der Tenne bei der Heuernte 1950 zurückzuführen glaubte, sei eine Operation vorgenommen worden, die eine vom Unfall unabhängige Bauchfellentzündung ergeben habe. Der Facharzt für Orthopädie Dr. habil. G teilte mit, die Klägerin habe sich am 7. Januar 1952 in seine Behandlung begeben, nachdem im Laufe des Jahres 1951 drei schwere Hexenschüsse und dann eine linksseitige Ischialgie mit erheblichen Schmerzen aufgetreten seien. Röntgenologisch und klinisch sei ein Vorfall der lumbosacralen Bandscheibe festzustellen. Dieses Leiden, das im allgemeinen als Aufbrauchserkrankung aufgefaßt werde, sei bei der Klägerin wahrscheinlich durch den Unfall mitverursacht worden, da ihre Wirbelsäule beim Sturz auf eine harte Kante erheblich betroffen worden sei. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 25 v. H. In weiteren, von der LVA eingeholten ärztlichen Gutachten wurde ein Bandscheibenschaden als unwahrscheinlich bezeichnet. Die LVA erteilte hierauf der Klägerin den Bescheid vom 10. März 1953 über die erste Festsetzung einer vorläufigen Rente anläßlich des Arbeitsunfalls vom "20. Juni 1950"; danach erhielt die Klägerin eine Rente von 40 v. H. für die Zeit vom 20. September 1950 bis zum 31. Dezember 1950 und von 20 v. H. für die Folgezeit bis zum 31. Dezember 1951; als Unfallfolge wurde für diese Zeit anerkannt: "Zustand nach Prellung des Rückens mit Bluterguß, der nach Resorption verheilt ist"; die Anerkennung eines Bandscheibenvorfalls als Unfallfolge wurde abgelehnt. In der Zeit nach dem 31. Dezember 1951 lägen erwerbsbeschränkende Unfallfolgen nicht mehr vor.

Im Verfahren über die Berufung der Klägerin wurde durch erneute Angaben des Hausarztes Dr. F klargestellt, daß sich der fragliche Unfall doch schon am 20. Juni 1949 ereignet hatte. Hierauf erhob die LVA den Einwand des Anspruchsausschlusses gemäß § 1546 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Zeit vom 20. Juni 1949 bis zum 19. September 1950. Bei seiner Vernehmung sagte Dr. F ferner aus, er habe bei der Untersuchung der Klägerin am Unfalltage nur Druckschmerz und geringe Schwellung in der Kreuzgegend beobachtet. Eine Röntgenkontrolle habe er nicht als erforderlich erachtet und die Klägerin nur noch einmal am 22. Juni 1949 untersucht; danach habe er die Klägerin erst wieder im Februar 1950 wegen der - seiner Ansicht nach - unfallunabhängigen Ischialgie behandelt. Der vom Oberversicherungsamt (OVA) für das Saarland gehörte Chirurg Prof. Dr. J, Oldenburg, fand bei der Klägerin röntgenologisch einen folgenlos verheilten leichten Stauchungsbruch des 8. Brustwirbels und klinisch eine linksseitige Ischialgie als Folge einer Schädigung der Bandscheibe zwischen dem 5. Lendenwirbel und dem Kreuzbein. Prof. Dr. J meinte, der Wirbelbruch sei wahrscheinlich Unfallfolge, dagegen sei im Hinblick auf die wenig ausgiebige ärztliche Behandlung durch Dr. F nicht anzunehmen, daß die Angaben der Klägerin über ihr wochenlanges Krankenlager nach dem Unfallereignis zuträfen; das Bandscheibenleiden könne daher nicht als Unfallfolge angesehen werden. Der sodann gehörte Chirurg Prof. Dr. J, Ludwigshafen, vertrat in seinem Gutachten jedoch die Auffassung, nach der Schilderung des Unfallhergangs müsse es sich um eine so erhebliche Gewalteinwirkung auf die Wirbelsäule gehandelt haben, daß hierdurch sowohl der Bruch des 8. Brustwirbels als auch ein traumatischer Bandscheibenschaden bzw. die richtunggebende Verschlimmerung einer latenten Bandscheibenerkrankung bewirkt worden sei; bei Anerkennung der lumbalen Bandscheibenerkrankung als Unfallfolge werde die MdE auf 50 v. H. geschätzt.

Das OVA hat durch Urteil vom 21. Juni 1956 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Der Bandscheibenschaden sei nicht durch den Arbeitsunfall verursacht worden. Die von der LVA bewilligte Rente wegen Rückenprellung berücksichtige die echten Unfallfolgen genügend; sie hätte allerdings als Dauerrente festgestellt werden müssen. Den Einwand aus § 1546 RVO habe die LVA zulässigerweise erhoben, sie habe ihn auch auf den bezeichneten Zeitabschnitt beschränken dürfen. Die Bezugnahme der Klägerin auf § 1547 RVO entfalle schon deshalb, weil der erst später eindeutig festgestellte Bandscheibenvorfall nicht als Unfallfolge anzuerkennen sei.

Der hiergegen erhobene Rekurs der Klägerin ist am 1. Januar 1959 als Berufung auf das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland übergegangen. Als neue Beklagte ist an Stelle der LVA die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft (LBG) für das Saarland aufgetreten. In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der LBG erklärt, der Einwand der verspäteten Anmeldung gemäß § 1546 RVO werde auf den gesamten Fall erstreckt. Hierauf hat die Klägerin entgegnet, sie sei auch nach Ablauf der Anmeldefrist zur Geltendmachung des Anspruchs berechtigt gewesen, da sie erst durch die Behandlung bei Dr. G von dem Unfallschaden der Wirbelsäule Kenntnis erlangt habe. Die Dreimonatsfrist des § 1547 Abs. 2 RVO sei deshalb gewahrt.

Das LSG hat durch Urteil vom 24. August 1960 die Berufung der Klägerin "als unbegründet zurückgewiesen". In den Gründen hat das LSG ausgeführt: Die Berufung sei unzulässig, soweit sie die Gewährung einer vorläufigen Rente betreffe (§ 145 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Soweit der angefochtene Bescheid die Entziehung der vorläufigen Rente und damit die negative Feststellung der Dauerrente betreffe, sei die Berufung zulässig.

Allerdings sei die Berufung an sich durch § 145 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Die Entscheidung des OVA beruhe zwar in erster Linie auf der Anspruchsablehnung wegen Fehlens des ursächlichen Zusammenhangs und erst in zweiter Linie auf dem Gesichtspunkt der Fristversäumung. Wenn aber § 1546 RVO überhaupt herangezogen werde, sei für eine weitere materielle Prüfung kein Raum; deshalb komme den Ausführungen im OVA-Urteil über die Anspruchsablehnung wegen des fehlenden ursächlichen Zusammenhangs nur hilfsweise Bedeutung zu (SozR SGG § 150 Bl. Da 10 Nr. 24). Die Berufung der Klägerin betreffe somit nur die Anspruchsablehnung wegen Versäumung der Ausschlußfrist und erfülle demnach die Voraussetzungen des § 145 Nr. 1 SGG. Ein Ausnahmefall des § 1547 RVO sei nicht gegeben. Die Klägerin berufe sich zwar auf diese Vorschrift, habe aber für das Vorliegen ihrer Voraussetzungen keine Tatsachen schlüssig vorgetragen.

Trotzdem sei aber die Berufung hinsichtlich der Rentenentziehung zulässig auf Grund des § 150 Nr. 3 SGG. Diese Vorschrift, deren Voraussetzungen hier gegeben seien, verhindere den Berufungsausschluß gemäß § 145 Nr. 1 SGG. Die entgegenstehende Meinung des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR SGG § 150 Bl. Da 10 Nr. 24) und des LSG Niedersachsen (Breith. 1958, 387) verstoße gegen den eindeutigen Gesetzeswortlaut.

Der Klägerin stehe kein Rentenanspruch zu, weil die Beklagte den Ausschluß des Anspruchs gemäß § 1546 RVO ordnungsgemäß geltend gemacht habe. Die Anerkennung eines Arbeitsunfalls und die Gewährung einer Entschädigung durch den angefochtenen Bescheid ständen der Erhebung des Einwands nicht entgegen. Denn durch den Bescheid vom 10. März 1953 sei nur "Zustand nach Rückenprellung mit Bluterguß" anerkannt worden. Der Rechtsstreit betreffe dagegen die Frage, ob die Bandscheibenerkrankung der Klägerin Unfallfolge sei. Da hierüber keine Feststellung erfolgt sei, bleibe es der Beklagten unbenommen, insoweit den Ablauf der Ausschlußfrist geltend zu machen. Einen Ausnahmefall nach § 1547 RVO habe die Klägerin nicht schlüssig behauptet; Anhaltspunkte für das Vorliegen eines solchen Tatbestands ergäben sich auch nicht aus den Akten. Der Geltendmachung des Einwands stehe weder der Runderlaß des Reichsversicherungsamts (RVA) vom 28. September 1928 (AN 1928, 330) noch die Rechtsprechung des BSG (BSG 10, 88) entgegen. Denn trotz der vorliegenden umfangreichen Ermittlungen beständen zumindest erhebliche Zweifel, ob das Entschädigungsbegehren der Klägerin materiell gerechtfertigt sei. Hiernach sehe sich das LSG nicht veranlaßt, weitere Ermittlungen anzustellen; denn dies sei in Fällen solcher Art nicht die Aufgabe der Gerichte (BSG aaO S. 92). - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 13. Mai 1961 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 9. Juni 1961 Revision eingelegt. Den bestimmten Antrag hat sie im Schriftsatz vom 9. Juni 1961 formuliert, der am 12. Juni 1961 beim BSG eingegangen ist. In der am 9. Juli 1961 eingegangenen Revisionsbegründung rügt die Klägerin Verletzungen der §§ 145 Nr. 1 und 3, 150 Nr. 3 SGG, 1546, 1547, 1585 RVO. Im einzelnen macht sie geltend: Der Klaganspruch gliedere sich in drei Unteransprüche, nämlich 1. Neufestsetzung der Höhe der bewilligten Rente, 2. Gewährung einer Rente auch für die Zeit vom 20. September 1949 bis zum 19. September 1950, 3. Gewährung einer Rente auch für die Zeit nach dem 31. Dezember 1951. Zu 1) sei den Gründen (im Widerspruch zum Tenor) des angefochtenen Urteils zu entnehmen, daß das LSG insoweit die Berufung als unzulässig (§ 145 Nr. 3 SGG) behandelt habe. Dies sei unhaltbar; denn die von der LVA als "vorläufig" bezeichnete Rente sei in Wirklichkeit bereits die Dauerrente gewesen (§ 1585 Abs. 2 RVO); § 145 Nr. 3 SGG finde somit keine Anwendung.

Bei der Prüfung der Berufungszulässigkeit im übrigen habe das LSG übersehen, daß die LVA im Verfahren vor dem OVA den Einwand gemäß § 1546 RVO nur bezüglich des Unteranspruchs zu 2) geltend gemacht habe. Die Unteransprüche zu 1) und 3) hingegen hätten der Versicherungsträger und das OVA ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Kausalität geprüft und abgelehnt. Allein wegen des Unteranspruchs zu 2) sei auch das OVA auf die Frage des Anspruchsausschlusses nach § 1546 RVO eingegangen, habe sie aber nicht einmal insoweit entschieden, sondern offengelassen; denn das OVA habe § 1547 RVO als unanwendbar betrachtet, weil es schon an der Kausalität zwischen Unfall und Bandscheibenleiden gemangelt habe. Die Berufung sei also in vollem Umfang als zulässig anzusehen.

Soweit das LSG die Berufung als zulässig, aber unbegründet erachtet habe, treffe es zwar zu, daß die Klägerin die Anmeldefrist des § 1546 RVO versäumt habe. Zu Unrecht habe aber das LSG die Voraussetzungen des § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO als nicht erfüllt angesehen. Diese Voraussetzungen seien auch gegeben, wenn der Versicherte ohne sein Verschulden erst nach zwei Jahren erfahre, daß sein bereits innerhalb der Frist aufgetretenes Leiden auf den Unfall zurückzuführen sei. Dies treffe bei der Klägerin zu; denn sie habe den von ihren behandelnden Ärzten, insbesondere von Prof. Dr. F gestellten Diagnosen vertrauen dürfen und sei auf Grund dieser Belehrungen gar nicht berechtigt gewesen, einen Entschädigungsanspruch geltend zu machen. Hätte die Klägerin innerhalb der Zweijahresfrist erfahren, daß ihr Leiden auf dem Unfall beruhe, so hätte sie sich auch über die Rechtslage sogleich vergewissert. Da hiernach § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO Platz greife, sei der Rentenanspruch nicht wegen Fristversäumnis ausgeschlossen.

Die Klägerin beantragt,

die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und in Änderung des Bescheids der LVA vom 10. März 1963

1. die Beklagte für verpflichtet zu erklären, auch für die Zeiten vom 20. September 1949 bis zum 19. September 1950 sowie vom 1. Januar 1952 an Leistungen zu gewähren;

2. die Höhe der zu zahlenden Rente in der Zeit vom 20. September 1950 bis zum 31. Dezember 1951 neu festzusetzen.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.

II

Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Der als Rekurs beim Landesversicherungsamt anhängige Rechtsstreit war am 1. Januar 1959 auf Grund des § 1 Nr. 9 des Gesetzes Nr. 629 zur Einführung der Sozialgerichtsbarkeit im Saarland (EGSGb Saar) vom 18. Juni 1958 (Amtsblatt des Saarlandes 1958, 1224; BABl 1958, 615) als Berufung auf das LSG übergegangen. Die Ausführungen des LSG zur Frage der Zulässigkeit dieses Rechtsmittels geben in mehrfacher Hinsicht Anlaß zu Bedenken. Nach dem Urteilsausspruch hat das LSG die Berufung, da es sie als unbegründet zurückgewiesen hat, als zulässig angesehen. Die Entscheidungsgründe ergeben jedoch, daß die Zulässigkeitsfrage zum Teil verneint worden ist. Hierbei hat das LSG die einschlägigen Vorschriften des SGG (§§ 145, 150) angeführt - und zwar offenbar in der seit dem 1. Juli 1958 geltenden Fassung durch das Zweite Gesetz zur Änderung des SGG -, ohne zu prüfen, ob diese Vorschriften auf einen Übergangsfall der hier gegebenen Art ohne weiteres anwendbar sind. Außerdem lassen die Entscheidungsgründe eine Berücksichtigung des von der Revision zutreffend hervorgehobenen Umstands vermissen, daß der Klaganspruch - zeitlich betrachtet - sich in drei aufeinanderfolgende Abschnitte gliedert.

§ 1 Nr. 9 EGSGb Saar entspricht der für das übrige Bundesgebiet früher getroffenen Übergansregelung in den §§ 215 Abs. 3, 218 Abs. 6 SGG. Zu diesen Vorschriften hat die Rechtsprechung des BSG den Standpunkt vertreten, daß eine von der bisherigen Spruchinstanz auf das LSG übergeleitete Berufung sowohl nach dem alten Verfahrensrecht als auch nach den §§ 144 ff SGG auf ihre Zulässigkeit zu prüfen ist (vgl. BSG 1, 204; 2, 225; SozR SGG § 215 Bl. Da 4 Nr. 17; Da 5 Nr. 18; Da 13 Nr. 40). Es ist kein Grund dafür ersichtlich, hiervon bei der für das Saarland getroffenen Regelung abzuweichen. Hiernach bedarf es zunächst der - vom LSG unterlassenen - Prüfung, ob der Rekurs gegen das Urteil des OVA zulässig gewesen ist.

In Betracht kommt hierbei insbesondere die im angefochtenen Bescheid festgesetzte "vorläufige Rente", hinsichtlich deren das LSG ohne weiteres die Berufung als unstatthaft angesehen hat, und zwar lediglich auf Grund des neuen Rechts (§ 145 Nr. 3 SGG). Mit dem für die Zeit vom 20. September 1949 bis zum 19. September 1950 erhobenen Klaganspruch befassen sich die Entscheidungsgründe nicht ausdrücklich; falls das LSG bei der Urteilsfindung diesen Abschnitt nicht einfach übergangen haben sollte, ist anzunehmen, daß es auch diesen Teilanspruch unter dem gleichen rechtlichen Gesichtspunkt beurteilt hat; denn es hat insoweit die Zulässigkeit der Berufung gleichfalls verneint, was jedenfalls darauf zu folgern ist, daß es positiv als zulässig nur die Berufung hinsichtlich der Entziehung der "vorläufigen Rente" bezeichnet hat.

Die unter dem Gesichtspunkt "vorläufige Rente" zunächst nach altem Verfahrensrecht vorzunehmende Zulässigkeitsprüfung ergibt folgendes:

Die Vorschriften der §§ 1699 ff RVO waren im Saarland durch die Verordnung über die Neugestaltung des Rechtszugs in der Sozialversicherung des Saarlandes vom 5. Dezember 1947 (Amtsblatt des Saarlandes 1948, 103) ersetzt worden; § 5 Nr. 3 Buchst. g dieser Verordnung enthielt jedoch die mit § 1700 Nr. 7 RVO inhaltlich übereinstimmende Regelung, daß der Rekurs ausgeschlossen ist, "wenn es sich handelt um vorläufige Renten". Diese Vorschrift stand in dem hier zu entscheidenden Fall der Zulässigkeit des Rekurses nicht entgegen. Dabei bedarf es keiner Prüfung, ob der für die Zeit vom 20. September 1949 bis zum 19. September 1950 geltend gemachte Rentenanspruch begrifflich hierunter fallen könnte und ob die von der LVA für die Zeit vom 20. September 1950 bis zum 31. Dezember 1951 bewilligte Entschädigungsleistung im Bescheid zutreffend als "vorläufige Rente" gekennzeichnet worden ist oder aber - wie das OVA angenommen hat - bereits als Dauerrente anzusehen war. Selbst wenn es sich nämlich insoweit um einen Streit über die vorläufige Rente handeln sollte, wäre der Rekurs durch die angeführte Vorschrift nicht ausgeschlossen, da der Streit nicht nur die Höhe, sondern den Grund des Anspruchs betroffen hat (vgl. RVA AN 1915, 403 Nr. 2789; EuM 27, 228). Im Verfahren vor dem OVA und dem LSG hat die Klägerin nämlich geltend gemacht, der Arbeitsunfall habe bei ihr außer den bescheidmäßig anerkannten Unfallfolgen auch noch - entgegen der negativen Feststellung im angefochtenen Bescheid - einen Bandscheibenschaden verursacht, auf Grund dessen ihr die Unfallrente nach einem höheren Vomhundertsatz und für einen längeren Zeitraum zustehe. Nun hat zwar der Große Senat des RVA in der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 2790 (AN 1915, 405 = EuM 4, 384) den Leitsatz aufgestellt: "Ist wegen eines als Folge eines Betriebsunfalls anerkannten Leidens eine vorläufige Rente gewährt, so ist der Rekurs auch dann unzulässig (§ 1700 Nr. 7 RVO), wenn über den ursächlichen Zusammenhang anderer Leiden mit dem Unfall Streit besteht." Der vorliegende Sachverhalt wird an sich hiervon gedeckt. Der Senat pflichtet indessen diesem Leitsatz nicht bei. Einmal ist, worauf Rohwer-Kahlmann (Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Stand Dezember 1961, § 145 Anm. 42 Fußnote 100) zutreffend hinweist, das RVA in einer späteren Entscheidung (EuM 22, 323) in nicht ganz folgerichtiger Weise von seinem Standpunkt abgewichen; vor allem aber ist die in der Entscheidung Nr. 2790 vertretene Ansicht deshalb als überholt anzusehen, weil sie - wie die Begründung und der Leitsatz 2 erkennen lassen - auf einer nicht mehr zu billigenden Auslegung des § 1585 RVO beruht (vgl. BSG 5, 96, 101).

Der Rekurs der Klägerin war hiernach in dem dargelegten Umfang auch dann zulässig, wenn es sich um einen Streit über die vorläufige Rente gehandelt haben sollte. Als Berufung war das übergeleitete Rechtsmittel schon deshalb nicht durch § 145 Nr. 3 SGG ausgeschlossen, weil der ursächliche Zusammenhang des Bandscheibenvorfalls mit dem Arbeitsunfall streitig war und damit die Voraussetzungen des § 150 Nr. 3 SGG vorlagen (vgl. Rohwer-Kahlmann aaO; Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 3. Aufl., § 145 Anm. 4 a S. III/28).

Sonstige Gründe für einen Ausschluß des Rekurses nach altem Verfahrensrecht sind nicht ersichtlich. Wegen der Zulässigkeit der Berufung nach dem SGG enthält das angefochtene Urteil umfangreiche Darlegungen darüber, daß - offenbar auch bezüglich der Zeit nach der Rentenentziehung - die Voraussetzungen des Berufungsausschlusses nach § 145 Nr. 1 SGG an sich vorlägen, die Berufung jedoch auf Grund des § 150 Nr. 3 SGG, der hier - entgegen SozR SGG § 150 Bl. Da 10 Nr. 24 - Anwendung finde, ungeachtet ihres Ausschlusses zulässig sei. Es bedarf keiner Auseinandersetzung mit diesen Darlegungen, da das LSG hierbei verkannt hat, daß die am Verfahren vor dem OVA beteiligte LVA den Einwand der Fristversäumnis (§ 1546 RVO) klar abgegrenzt nur für den Zeitraum vom 20. Juni 1949 bis zum 19. September 1950 geltend gemacht hat. Den Gründen des OVA-Urteils ist zweifelsfrei zu entnehmen, daß das OVA diese zeitliche Begrenzung beachtet und für die Zeit vom 20. September 1950 an die Fristversäumnis überhaupt nicht in Erwägung gezogen, sondern insoweit seine Entscheidung allein auf die Würdigung der Zusammenhangsfrage gestützt hat. Die vom LSG vertretene Ansicht, hierbei handele es sich nur um eine Hilfsbegründung, geht somit fehl.

Die Anführung des § 1546 RVO in den Gründen des OVA-Urteils kann sich vielmehr überhaupt nur auf den von der LVA angegebenen zeitlichen Rahmen (20.6.1949 bis 19.9.1950) beziehen; aber auch bezüglich dieses Teilanspruchs waren die Voraussetzungen für den Berufungsausschluß gemäß § 145 Nr. 1 SGG nicht gegeben. Denn das OVA hat hierzu ausgeführt, die Berufung der Klägerin auf § 1547 RVO entfalle schon deshalb, weil der erst später eindeutig festgestellte Bandscheibenvorfall nicht als Unfallfolge anzuerkennen sei. Die erstinstanzliche Entscheidung war also im Ergebnis auch insoweit auf eine Beurteilung der Zusammenhangsfrage, nicht dagegen auf den rein formalen Gesichtspunkt einer Versäumnis der Ausschlußfrist gestützt. Demnach betraf die Berufung auch zu diesem Streitpunkt nicht, wie es § 145 Nr. 1 SGG voraussetzt, einen wegen Versäumung der Ausschlußfrist abgelehnten Antrag (vgl. SozR SGG § 145 Bl. Da 11 Nr. 11).

Die Berufung war hiernach in vollem Umfange zulässig. Soweit das LSG dies verkannt und zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen hat, war seine Entscheidung schon aus diesem Grunde aufzuheben.

Auch soweit das LSG in der Sache selbst entschieden hat, kann seiner Auffassung, ein Ausnahmefall im Sinne des § 1547 Abs. 1 RVO sei weder von der Klägerin schlüssig behauptet worden noch ergäben sich hierfür Anhaltspunkte aus den Akten, nicht gefolgt werden. Zwar ist die Rechtsunkenntnis des Ehemannes der Klägerin nicht als Umstand zu werten, der einen solchen Ausnahmefall begründen könnte (vgl. SozR SGG § 145 Bl. Da 5 Nr. 6; Da 10 Nr. 10). Die Klägerin hat aber außerdem während des gesamten Verfahrens im wesentlichen gleichlautend vorgetragen, die Ärzte, in deren Behandlung sie sich wegen der Kreuzschmerzen zunächst befunden habe, hätten ihrer Vermutung, daß es sich um Unfallfolgen handele, widersprochen; erst durch Dr. G., der sie von Anfang 1952 an behandelt habe, sei sie eines Besseren belehrt worden. Zwar hat das LSG dieses Vorbringen als nicht glaubhaft angesehen und gemeint, die Klägerin müsse schon lange vor der Unfallmeldung eine gewisse Kenntnis von den angeblichen Unfallfolgen gehabt haben. Diese Ausführungen tragen aber den konkreten Angaben der Klägerin über die ihr insbesondere von Dr. F und Prof. Dr. F gegebenen medizinischen Erklärungen nicht genügend Rechnung. Die bisher getroffenen Feststellungen geben kein hinreichend klares Bild darüber, in welchem Maße die ärztlichen Berater der Klägerin während der Zeit bis Ende 1951 darauf eingewirkt haben, daß sich bei der Klägerin die Erkenntnis, ihr Bandscheibenschaden sei Unfallfolge, nicht durchsetzen konnte. Die bei den Akten befindlichen Äußerungen des Dr. F und des Prof. Dr. F ermöglichen eine zuverlässige Klärung dieser Frage nicht.

Eine unrichtige oder irreführende Belehrung des Versicherten durch den behandelnden Arzt über den naturwissenschaftlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und hernach aufgetretenen Gesundheitsstörungen ist, wie in der Rechtsprechung von jeher angenommen wurde, ein Umstand, der den Verlust des Entschädigungsanspruchs durch Ablauf der Ausschlußfrist hindern kann. Ob hierbei § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO oder die Nr. 2 dieser Vorschrift in Betracht kommt, hängt von den Gegebenheiten des Einzelfalles ab. Ist die Gesundheitsstörung schon alsbald nach dem Unfall aufgetreten, so kann in der unrichtigen medizinischen Belehrung - bis zu ihrer Richtigstellung - eine Verhinderung des Versicherten im Sinne des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO erblickt werden (vgl. RVA EuM 10, 343; 14, 317; Entsch. vom 17.2.1910 in Arbeiterversorgung 1911, 547). Hat sich dagegen das Leiden erst nach Ablauf von zwei Jahren seit dem Unfall manifestiert oder wesentlich verschlimmert, so wird durch eine unrichtige medizinische Belehrung unter Umständen der Zeitpunkt hinausgeschoben, in welchem dem Versicherten die neue Unfallfolge "bemerkbar geworden ist" (§ 1547 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 RVO); diese Vorschrift setzt nämlich, wie die Revision mit Recht geltend macht, voraus, daß der Versicherte die neu aufgetretene Gesundheitsstörung bzw. Verschlimmerung als Unfallfolge erkannt hat oder dies bei Anwendung der ihm zumutbaren Sorgfalt hätte erkennen müssen; diese Voraussetzung ist aber nicht erfüllt, solange dem Versicherten die Erkenntnis des ursächlichen Zusammenhangs infolge unzutreffender medizinischer Belehrungen durch behandelnde Ärzte verschlossen bleibt (vgl. RVA AN 1893, 179 Nr. 1233; 1919, 383 Nr. 3025; EuM 23, 369). Im vorliegenden Fall ermöglichen die unzureichenden tatsächlichen Feststellungen über Beginn und Verlauf des Bandscheibenleidens keine abschließende Beurteilung der Frage, ob das hier erörterte Vorbringen der Klägerin rechtlich unter die Nr. 1 oder die Nr. 2 des § 1547 Abs. 1 RVO einzuordnen ist. Auf jeden Fall aber durfte sich das LSG über dieses Vorbringen nicht mit der im angefochtenen Urteil niedergelegten Begründung hinwegsetzen. Die Revision ist demnach auch insoweit begründet, als das LSG bei seiner Sachentscheidung die Anwendbarkeit des § 1547 Abs. 1 RVO verneint hat. Da die bisherigen Feststellungen für eine Entscheidung dieser Frage wie auch für eine unter Umständen erforderlich werdende Beurteilung der Frage des Ursachenzusammenhangs nicht ausreichen, mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379794

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