Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Studenten. Altersgrenze. Vollendung. 30. Lebensjahr. Versicherungspflicht. Art. Ausbildung. Studiengang. Krankenpflege. erstmalig. Einrichtung
Leitsatz (amtlich)
In der Krankenversicherung der Studenten ist die Überschreitung der Altersgrenze von 30 Jahren nicht durch die Art der Ausbildung gerechtfertigt, wenn ein Studium erst mit 29 Jahren begonnen wurde, weil der betreffende Studiengang vorher nicht bestand.
Normenkette
SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 9; BAföG § 10 Abs. 3 Nr. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Juli 1996 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Studenten (KVdS).
Die im August 1964 geborene Klägerin erwarb im März 1983 die Fachhochschulreife. Danach absolvierte sie mit dem Ziel, Diakonin im Fachbereich Krankenpflege zu werden, zunächst ein für die Ausbildung zu diesem Beruf erforderliches freiwilliges soziales Jahr in B…, anschließend eine fünfjährige Diakonenausbildung. Im Rahmen dieser Ausbildung, die sich aus einem Jahr Grundseminar, drei Jahren Krankenpflegeausbildung und einem Jahr Oberseminar zusammensetzte, legte die Klägerin im September 1988 das Examen zur staatlich geprüften Krankenpflegerin ab. Die Diakonenausbildung endete im September 1989 mit dem Diakonenexamen. Ab Oktober 1989 arbeitete die Klägerin als Diakonin in einer Diakonie-Station in B…, und zwar zunächst als Pflegefachkraft und ab März 1992 als stellvertretende Leiterin der Diakonie-Station. Am 1. März 1994 nahm sie an der Fachhochschule O… das Studium der Krankenpflege auf, das als Diplomstudiengang mit einer Regelstudienzeit von acht Semestern zu Beginn des Wintersemesters 1993/1994 erstmalig in Deutschland eingerichtet worden war. Seit Studienbeginn war sie bei der beklagten Ersatzkasse in der KVdS versichert. Mit Bescheid vom 18. Juli 1994 teilte die Beklagte der Klägerin mit, bei ihr ende die KVdS wegen Vollendung des dreißigsten Lebensjahres am 31. August 1994; eine Verlängerung könne nicht eingeräumt werden. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16. September 1994 zurück.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 13. Februar 1996 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 4. Juli 1996 zurückgewiesen. Zu Recht habe die Beklagte die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin in der KVdS als mit dem 31. August 1994 beendet angesehen. Ein Ausnahmetatbestand für die Verlängerung der Versicherungspflicht iS des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) sei nicht erfüllt. Familiäre oder persönliche Gründe für ein Überschreiten der Altersgrenze seien nicht ersichtlich. Auch die Art der Ausbildung rechtfertige eine Überschreitung nicht. Hierfür sei ohne Bedeutung, daß das von der Klägerin im März 1994 aufgenommene Studium erst im Wintersemester 1993/1994 eingeführt worden sei. Maßgebend sei vielmehr, daß die Klägerin im März 1983 nach Erlangung der Fachhochschulreife ein Studium in einem Studiengang hätte aufnehmen können, der damals belegt werden konnte. Das Studium der Klägerin sei auch kein Aufbaustudium.
Mit der Revision rügt die Klägerin einen Verstoß gegen § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V. Das Studium sei zum frühestmöglichen Zeitpunkt aufgenommen worden. Ein Studienbeginn im Wintersemester 1993/1994 sei ihr nicht möglich gewesen, weil in dem Semester nur 15 Studenten für den Studiengang zugelassen worden seien und sie zu spät von dessen Neueinrichtung erfahren habe. Die in den Jahren 1984 bis 1989 zurückgelegte Berufsausbildung sei Voraussetzung für das Studium gewesen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG vom 4. Juli 1996, das Urteil des SG vom 13. Februar 1996 und den Bescheid der Beklagten vom 18. Juli 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 1994 aufzuheben sowie festzustellen, daß die Klägerin über den 31. August 1994 hinaus als Studentin versicherungspflichtig ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist. Über den 31. August 1994 hinaus ist die Klägerin als Studentin nicht versicherungspflichtig.
Versicherungspflichtig nach § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V sind Studenten, die an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen eingeschrieben sind, unabhängig davon, ob sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, wenn für sie auf Grund über- oder zwischenstaatlichen Rechts kein Anspruch auf Sachleistungen besteht, bis zum Abschluß des 14. Fachsemesters, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres; Studenten nach Abschluß des 14. Fachsemesters oder nach Vollendung des 30. Lebensjahres sind nur versicherungspflichtig, wenn die Art der Ausbildung oder familiäre sowie persönliche Gründe, insbesondere der Erwerb der Zugangsvoraussetzungen in einer Ausbildungsstätte des Zweiten Bildungsweges, die Überschreitung der Altersgrenze oder eine längere Fachstudienzeit rechtfertigen. Die Vorschrift ist durch Art 1 des am 1. Januar 1989 in Kraft getretenen Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) eingeführt worden. Sie schränkt die bis dahin geltende KVdS (§ 165 Abs 1 Nr 5 der Reichsversicherungsordnung) insbesondere nach einer Dauer der Fachstudienzeit und nach dem Lebensalter ein.
Die bei einer staatlichen Fachhochschule als Studentin eingeschriebene Klägerin war bis Ende August 1994 mit Recht in der KVdS versichert, weil sie erst im März 1994 mit dem Studium begonnen und das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Wie im angefochtenen Bescheid zutreffend festgestellt worden ist, bestand für sie jedoch anschließend keine Versicherungspflicht in der KVdS mehr; denn sie erfüllte nicht die in § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V erforderlichen Voraussetzungen für eine Versicherungspflicht nach Überschreiten der Altersgrenze.
Nach der Art der Ausbildung ist die Überschreitung dieser Grenze nicht gerechtfertigt. Zweifelhaft ist, ob die Art der Ausbildung zu einer Versicherungspflicht nicht nur nach Überschreiten der Höchstdauer der Fachstudienzeit, sondern auch nach Überschreiten der Altersgrenze führen kann. Der Senat hat dieses in Zweifel gezogen (BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 7 S 25 unten). Diese Frage kann aber offenbleiben. Jedenfalls ist die Art der von der Klägerin gewählten Ausbildung nicht ursächlich dafür, daß sie erst mit 29 Jahren mit dem Studium begann. Die Ausbildung zum Diplom-Krankenpfleger, wie sie an der Fachhochschule O… durchgeführt wird, stellt eine Ausbildung iS des § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V dar. Nur von der Art dieser Ausbildung hängt es ab, ob die Überschreitung der Altersgrenze gerechtfertigt ist. Nicht zu dieser Ausbildung gehört dagegen die vor dem Studium liegende Berufsausbildung der Klägerin; denn der Beruf der Diplom-Krankenpflegerin steht in keinem berufsrechtlichen Zusammenhang mit dem Beruf der Diakonin etwa in dem Sinne einer höheren Stufe desselben Berufs. Das ist in erster Linie der Diplomprüfungsordnung für den Studiengang Krankenpflege an der Fachhochschule O… (Niedersächsisches Ministerialblatt 1994 S 515) zu entnehmen. Diese ist zwar dem Landesrecht zuzuordnen; das BSG kann jedoch, da die Vorinstanzen hierauf nicht eingegangen sind, auch diese Vorschriften anwenden (vgl BSG SozR 3-5050 § 15 Nr 4). Ein berufsrechtlicher Zusammenhang zwischen der Ausbildung zur Diakonin und der zur Diplom-Krankenpflegerin wird auch weder im Urteil des LSG festgestellt noch von der Revision geltend gemacht. Nach der genannten Prüfungsordnung kann auch ausgeschlossen werden, daß – wie die Revision vorträgt – die in den Jahren 1984 bis 1989 zurückgelegte Berufsausbildung Voraussetzung für die Zulassung zum Studium war. Danach ist eine Berufstätigkeit nicht Voraussetzung für das Studium; solches wird nur verlangt bei einer hier nicht in Betracht kommenden Eignungsprüfung zum Überspringen vorgeschriebener Eignungsvoraussetzungen (§ 24 Prüfungsordnung).
Die Art der Ausbildung zur Diplom-Krankenpflegerin rechtfertigt in der KVdS keine Überschreitung der Altersgrenze. Was unter Art der Ausbildung iS des § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V zu verstehen ist, ist gesetzlich nicht festgelegt. Bei einer Auslegung im Wortsinne wird die Art der Ausbildung durch deren typische Merkmale bestimmt, die sich auf die Inhalte, den formalen Ablauf sowie auf bestimmte Gegebenheiten bei Ausbildern, Studenten und Ausbildungsstätten beziehen. Die Art eines Gegenstandes, einer Einrichtung oder eines Verfahrens kann aber schon nach dem Wortsinn nur bestimmt werden, wenn das, worauf sich die Art bezieht, bereits existent ist.
Die “Art der Ausbildung” iS des § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V darf außerdem nicht allein nach dem Wortsinn ausgelegt werden. Vielmehr sind dabei die Motive des Gesetzgebers und die Zielsetzung der Vorschrift zu beachten. Nach den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 11/2237, S 159) ist die Ausnahmeregelung des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V, und damit auch das Merkmal “Art der Ausbildung”, eng auszulegen. Wie der Senat in seinem Urteil vom 30. September 1992 (BSGE 71, 1560 = SozR 3-2500 § 5 Nr 4) ausgeführt hat, wollte der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift und mehreren anderen Regelungen des GRG die gesetzliche Krankenversicherung wieder auf ihren Kern als einer Versicherung der abhängig Beschäftigten zurückführen. Damit ist grundsätzlich nicht zu vereinbaren, daß dieser Personenkreis mit Risiken solcher Personen – wie der Studenten – belastet wird, die typischerweise nicht zum Kernbereich der Versicherten gehören. Der Gesetzgeber hat daher die KVdS auf einen Altersabschnitt begrenzt, in dem der Gesundheitszustand im allgemeinen gut ist und beitragsfrei versicherte Familienangehörige (§ 10 SGB V) oft noch nicht vorhanden sind. Dieses gesetzgeberische Ziel kann nur bei einer engen Auslegung der Ausnahmevorschrift des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V erreicht werden. Eine Versicherungspflicht nach Vollendung des 30. Lebensjahres ist daher nur gegeben, wenn sich aus Rechtsvorschriften oder autonomem Recht ergibt, daß eine Ausbildung nicht vor Erreichen der Altersgrenze abgeschlossen werden kann. Demgegenüber besteht nach Erreichen der Altersgrenze keine Versicherungspflicht in der KVdS, wenn – ohne daß dies vorgeschrieben ist – die Ausbildung in der Praxis erst im fortgeschrittenen Alter beginnt. Derartige Fälle haben zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ≪BVerwG≫ (BVerwGE 61, 92; Buchholz 436.36, § 10 BAföG Nr 12 und Nr 20) dazu geführt, daß Ausbildungsförderung nach § 10 Abs 3 Nr 2 BAföG in der früheren Fassung erstmalig auch an Studenten nach Vollendung ihres 30. Lebensjahres gewährt wurde. Diese ohnehin wegen Gesetzesänderung (vgl 17. Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes vom 24. Juli 1995 ≪BGBl I 976≫) überholte Rechtsprechung kann aber nicht auf die KVdS übertragen werden. In seinem Urteil vom 30. September 1992 (SozR 3-2500 § 5 Nr 8) hat der Senat solches schon wegen der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Altersgrenzen (Eintrittsgrenze – Beendigungsgrenze) ausgeschlossen. Hinzu kommt, daß die sich aus der Zielsetzung des § 5 Abs 1 Nr. 9 Halbs 2 SGB V ergebende grundsätzliche Beschränkung des Versicherungsrisikos auf Personen bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres nur Ausnahmen von solcher Art und solchem Gewicht zuläßt, die die Versicherungspflicht nach Überschreitung der Altersgrenze rechtfertigen. Hierunter fallen hinsichtlich der Art der Ausbildung keine praktischen Gegebenheiten, die sich unabhängig von der jeweiligen Rechtslage gebildet haben.
Demnach kann die Klägerin nicht deshalb eine Verlängerung ihrer Versicherungspflicht in der KVdS erreichen, weil der von ihr belegte Studiengang erst 1993 eingerichtet wurde. Denn dies widerspricht bereits einer Auslegung im Wortsinne und ist im übrigen mit der sich aus der Zielsetzung des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V ergebenden engen Auslegung dieser Vorschrift nicht zu vereinbaren. Aus letzterem Grunde kann insoweit auch keine Gesetzeslücke angenommen werden, die im Wege der Analogie zu schließen wäre. Sie würde der Zielsetzung der Vorschrift vielmehr zuwiderlaufen, weil – wie amtlichen Veröffentlichungen zu entnehmen ist – die Einrichtung neuer Studiengänge nicht selten ist und bei entsprechender Belegung Personen noch in höherem Alter Eingang in die KVdS fänden. Bei der Klägerin kann nichts anderes gelten, nur weil sie das Studium in dem neu errichteten Studiengang noch kurz vor Vollendung des 30. Lebensjahres aufgenommen hat.
Weder nach der genannten Prüfungsordnung noch nach anderen Vorschriften war der späte Studienbeginn der Klägerin vorgeschrieben. Das ergab sich auch nicht durch Vorschalten einer anderen Berufsausbildung oder Berufstätigkeit. Vielmehr kann grundsätzlich jeder, der die Fachhochschulreife erworben hat, zum Studiengang des Diplom-Krankenpflegers zugelassen werden. Ob der von der Klägerin belegte Studiengang üblicherweise von Studenten besucht wird, die 30 Jahre und älter sind, konnte der Senat offenlassen, weil es hierauf nicht ankommt.
Familiäre sowie persönliche Gründe, die bei der Klägerin ein Überschreiten der Altersgrenze rechtfertigen, liegen nicht vor. Solche wären hier nur gegeben, wenn in der Zeit von der Fachhochschulreife (März 1983) bis zur Aufnahme des Studiums (März 1994) im wesentlichen durchgehend solche Hinderungsgründe bestanden hätten (BSGE 71, 150 = SozR 3-2500 Nr 4). Ob das von der Klägerin 1983/1984 absolvierte freiwillige soziale Jahr als Hinderungsgrund in Betracht kommt, kann offenbleiben, weil es von dem mit Hinderungsgründen zu belegenden Zeitraum von elf Jahren nur ein Jahr abdeckt. Die anschließenden Jahre der Berufsausbildung und der Berufstätigkeit als Diakonin kommen als Hinderungszeiten nicht in Betracht. Diese Beschäftigungen rechtfertigen den späten Studienbeginn auch nicht deshalb, weil sie sich für das später aufgenommene Studium als nützlich erweisen (vgl BSGE 71, 150 = SozR 3-2500 Nr 4).
Eine Verlängerung der Versicherungspflicht der Klägerin über das 30. Lebensjahr hinaus kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt in Betracht, daß hier eine mißbräuchliche Nutzung dieser Versicherungspflicht nicht vorliegt. Zwar zeigt der berufliche Lebensweg der Klägerin, daß sie die KVdS nicht mißbräuchlich für sich beansprucht. Der Gedanke der Mißbrauchsabwehr hat zwar den Anstoß für die Begrenzung der KVdS gegeben. Sie ist aber nicht auf Mißbrauchsabwehr beschränkt und trifft daher auch solche Studenten, die aus verständlichen menschlichen oder wirtschaftlichen Gründen so spät mit ihrem Studium beginnen, daß damit die Altersgrenze überschritten wird (vgl BSGE 71, 150 = SozR 3-2500 Nr 4).
Die Revision der Klägerin war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 955638 |
BB 1997, 1366 |
NJW 1997, 2621 |
Breith. 1997, 755 |
SozSi 1997, 397 |