Leitsatz (amtlich)
Zu der Frage, ob eine nach SaarKnG § 38 wegen Berufsunfähigkeit alten Rechts bewilligte und vor der Rückgliederung des Saarlands ins Bundesgebiet entzogene Rente auf Grund einer späteren BSG-Rechtsprechung nach RKG § 93 Abs 1 neu festzustellen ist.
Normenkette
SaarKnG § 38 Fassung: 1951-07-11; RKG § 35 Fassung: 1934-05-17, § 93 Abs. 1 Fassung: 1969-07-28; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 17. April 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Dem 1922 geborenen, bis zu einem im Jahre 1953 erlittenen Arbeitsunfall als Hauer im Saarbergbau tätig gewesenen Kläger hatte die Beklagte die wegen Berufsunfähigkeit alten Rechts (§ 38 des Saarknappschaftsgesetzes - SKG -) bewilligte Knappschaftsrente im Jahre 1956 mit der Begründung entzogen, daß die jetzige Tätigkeit des Klägers als Lohnbuchhalter bei einer Bergwerksdirektion der Hauertätigkeit gleichartig und wirtschaftlich gleichwertig sei (Bescheid vom 14. Juni 1956).
Mit dem streitigen Bescheid vom 23. Juni 1969 und dem Widerspruchsbescheid vom 26. Juni 1970 lehnte die Beklagte die vom Kläger beantragte Neufeststellung der 1956 entzogenen Rente nach § 93 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) ab. Klage und Berufung blieben erfolglos. Im angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) vom 17. April 1974 heißt es: Eine höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, ob die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) zur Gleichartigkeit im Sinne des § 35 RKG aF auch für das Saarland für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 wirkten, liege nicht vor. Gegen eine solche Wirkung spreche, daß die Entwicklung des Sozialrechts im Saarland eigene Wege gegangen sei, daß vor dem Inkrafttreten des bundesdeutschen Knappschaftsrechts im Saarland am 1. Januar 1957 die Auslegung des § 38 SKG nicht vom BSG habe überprüft werden können und daß die Rentenentziehung 1956 der saarländischen Rechtsprechung entsprochen habe. Hieraus folge zumindest, daß die Beklagte bei Anwendung des § 93 RKG nicht ohne weiteres habe erkennen müssen, daß eine andere rechtliche Beurteilung als unvertretbar ausscheide.
Mit der zugelassenen Revision tritt der Kläger diesem Urteil entgegen. Er bringt vor: Der Versicherungsträger könne bei einem Wandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Rahmen des § 93 Abs. 1 RKG verpflichtet werden, sich die neue Rechtsauffassung rückwirkend zu eigen zu machen. Er könne der Auffassung des LSG nicht folgen, daß die Rechtsprechung des 5. Senats des BSG zur Frage der Gleichartigkeit nach § 35 RKG aF keine gesicherte Rechtsprechung darstelle, weil kein zweiter Senat die gleiche Rechtsauffassung vertreten habe. Das BSG habe nämlich nur einen Knappschaftssenat.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Saarbrücken vom 17. April 1974 und das Urteil des Sozialgerichts Saarbrücken vom 29. Juni 1973 sowie den angefochtenen Bescheid in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die ihm mit Bescheid vom 14. Juni 1956 entzogene Rente gemäß § 93 Abs. 1 RKG neu festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Rentenentziehungsbescheid sei dem Kläger am 14. Juni 1956 zu einer Zeit erteilt worden, in der das Saarland - auch - sozialversicherungsrechtlich von der Bundesrepublik Deutschland abgetrennt gewesen und eigene Spruchkörper auf sozialem Gebiet gehabt habe. Das Saarland sei in bezug auf die soziale Sicherung eigene Wege gegangen. Die Feststellung der Gleichartigkeit der Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter gegenüber der Tätigkeit eines Kohlenhauers im Jahre 1956 basiere nicht nur auf den Aussagen des ehemaligen Reichsversicherungsamts (RVA), sondern habe auch bei den Rechtsprechungsinstanzen für das Saarland ihre Stütze gefunden. Der Fall des Klägers sei mithin mit einem in der Bundesrepublik Deutschland liegenden ähnlichen Fall nicht zu vergleichen. Der allgemeine Gleichheitssatz sei nicht verletzt. Überdies habe sich der Gesundheitszustand des Klägers im Vergleich zur Rentengewährung im Jahre 1953 bei der Rentenentziehung wesentlich gebessert gehabt. Der Gesetzgeber habe im Knappschaftsversicherungs-Neuregelungsgesetz (KnVNG) das Erfordernis der Gleichartigkeit beseitigt, so daß auch zweifelhaft sei, ob Rechtsmeinungen zu dieser nicht mehr aktuellen Frage im Rahmen des § 93 RKG überhaupt relevant sein können.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.
Nach § 93 Abs. 1 RKG (= §§ 627, 1300 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) hat die Bundesknappschaft eine Leistung u. a. dann neu festzustellen, wenn sie sich bei erneuter Prüfung überzeugt, daß sie sie zu Unrecht entzogen hat. Die Beklagte brauchte sich jedoch nicht davon zu überzeugen, daß ihre Rechtsvorgängerin, die Saarknappschaft, dem Kläger durch den Bescheid vom 14. Juni 1956 die im Jahre 1953 wegen Berufsunfähigkeit alten Rechts bewilligte Rente zu Unrecht entzogen hat.
Ob der Entziehungsbescheid vom 14. Juni 1956 rechtmäßig war, richtet sich nach dem zur Zeit des Erlasses dieses Bescheides geltenden Recht (BSGE 19, 38, 44 = SozR Nr. 1 zu § 619 RVO aF; BSGE 26, 89, 91 = SozR Nr. 1 zu § 627 RVO; BSG SozR Nr. 4 zu § 627 RVO). Dessen ungeachtet ist eine gesicherte höchstrichterliche Rechtsprechung im Rahmen der Bildung einer Überzeugung gemäß § 93 Abs. 1 RKG selbst dann zu berücksichtigen, wenn sie erst nach Erlaß des auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfenden Entziehungsbescheides ausgebildet worden ist (vgl. BSG an den beiden letztgenannten Stellen, ferner BSG SozR Nr. 6 zu § 1300 RVO). Der Grund hierfür liegt darin, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung - anders als im Regelfalle eine nachträgliche Änderung des Gesetzes - klärt, was schon bei Erlaß des Bescheides Rechtens gewesen war.
Es ist richtig, daß der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 28. März 1957 (BSG 5, 73, 83) zu § 35 RKG aF, der dem § 38 SKG entsprach, entschieden hat, daß die Tätigkeiten eines Gedingearbeiters im Bergbau und eines kaufmännischen Angestellten im bergbaulichen Betrieb so unterschiedlich seien, daß man sie - im Gegensatz zur Rechtsprechung des früheren RVA - nicht mehr als im wesentlichen gleichartig im Sinne der genannten Vorschrift ansehen könne. Diese Entscheidung baut auf der bereits früher entwickelten Rechtsprechung des Senats auf, daß es bei der Beurteilung der Gleichartigkeit zweier Tätigkeiten entscheidend auf die Artverwandtschaft dieser Tätigkeiten ankomme (BSGE 3, 171; 5, 84). Es ist ferner zutreffend, daß der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 19. März 1969 - 5 RKn 6/66 - ausgesprochen hat, daß diese als gesichert anzusehende, bewußt von der Spruchpraxis des RVA abweichende Rechtsprechung für die Zeit mindestens ab Einführung des bundesdeutschen Knappschaftsrechts und der Sozialgerichtsbarkeit im Saarland bei der Entziehung auch einer gemäß § 38 SKG gewährten Berufsunfähigkeitsrente zu beachten sei. Gleichwohl kann der Kläger im konkreten Fall unter Bezug auf diese Rechtsprechung nicht die Neufeststellung der 1956 entzogenen Rente beanspruchen.
Dabei ist nicht entscheidend, ob die Rentenentziehung im Jahre 1956 objektiv rechtmäßig gewesen ist. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, brauchte sich die Beklagte im Hinblick auf die im Saarland vor der Rückgliederung im Bundesgebiet vorliegenden Besonderheiten hiervon subjektiv nicht überzeugt zu halten. § 38 SKG ist eine Vorschrift, die von dem seinerzeit autonomen Gesetzgeber des Saarlandes erlassen worden ist (vgl. dazu BVerfGE 4, 151, 171). Der Landtag des Saarlandes hat das Saarknappschaftsgesetz am 11. Juli 1951 (ABl S. 1099) nach umfangreichen gesetzgeberischen Vorarbeiten erlassen. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Berufsunfähigkeit im Sinne des § 38 SKG bestehe, war Gegenstand besonders eingehender Beratungen im Ausschuß für Sozialpolitik des saarländischen Landtages (vgl. Maurer, SKG mit Erläuterungen, 1952, Anmerkungen zu § 38, S. 86). Mit der Frage der wesentlichen Gleichartigkeit möglicher Verweisungstätigkeiten befaßte sich sogar ein vom Ausschuß für Sozialpolitik eingesetzter Unterausschuß. Er kam zu dem Ergebnis, daß alle Arbeiten im Bergbau, die der knappschaftlichen Versicherung unterliegen, als gleichartig behandelt werden müssen (vgl. Maurer, aaO, S. 89). Die Beklagte kann daher mit vertretbaren Gründen der Auffassung sein, daß die dem § 38 SKG vom Gesetzgeber beigegebene Motivierung eine von § 35 RKG aF abweichende Auslegung erlaube, weil die letztere Vorschrift einer gesetzgeberischen Motivierung der geschilderten Art entbehrt.
Durfte mithin die Beklagte annehmen, daß sich § 35 RKG aF und § 38 SKG inhaltlich voneinander unterscheiden, so brauchte sie sich auf Grund der zur erstgenannten Vorschrift ergangenen Rechtsprechung des BSG nicht davon zu überzeugen, daß ihre Rechtsvorgängerin dem Kläger die Rente im Jahre 1956 zu Unrecht entzogen hat.
Hiernach bedarf es keiner Entscheidung, welche rechtlichen Auswirkungen auf einen Fall der vorliegenden Art der Umstand haben kann, daß die Rentenentziehung im Jahre 1956 auch der Spruchpraxis der im autonomen Bereich des Saarlandes letztinstanzlich entscheidenden Spruchbehörden entsprach.
Nach allem ist es nicht zu beanstanden, daß die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid eine positive Rentenneufeststellung abgelehnt hat. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG, das diesen Bescheid bestätigt, ist daher nicht begründet und zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen