Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 21.11.1989)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. November 1989 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig sind die Rücknahme einer Vormerkung von Kindererziehungszeiten und die Gewährung höheren Altersruhegeldes (ARG).

Die im September 1922 in Wien als österreichische Staatsangehörige geborene Klägerin hatte durchgehend bis Anfang 1945 ihren ständigen Wohnsitz in Wien. Im Juli 1943 heiratete sie den deutschen Staatsangehörigen Johannes M. …. Am 28. März 1944 gebar sie ihren Sohn Hans-Jürgen. Nach ihren Angaben begab sie sich Anfang 1945 vor den anrückenden russischen Truppen auf die Flucht und gelangte über Passau und München im März 1945 nach P. … im Kreis D. …, wo sie am 21. Juni 1945 ihre Tochter Renate gebar. Das Berufungsgericht hat festgestellt, sie sei im April 1945 nach Deutschland evakuiert worden.

Mit Bescheid vom 7. Oktober 1982 gewährte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) der Klägerin aufgrund ihrer nach dem Krieg in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten vorzeitiges ARG ab 1. Oktober 1982. Durch Bescheid vom 28. Oktober 1986 merkte die BfA Versicherungszeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 nach § 28a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vom 1. April 1944 bis zum 31. März 1945 wegen der Erziehung des Sohnes und vom 1. Juli 1945 bis zum 30. Juni 1946 für die der Tochter vor.

Im Juni 1987 beantragte die Klägerin die Umwandlung des vorzeitigen ARG in solches wegen Vollendung des 65. Lebensjahres und die Gewährung von infolge der Anrechnung der Kindererziehungszeiten erhöhtem ARG.

Mit dem streitigen Bescheid 1) vom 9. September 1987, bestätigt durch den während des Berufungsverfahrens ergangenen Widerspruchsbescheid vom 14. Juni 1989, nahm die Beklagte den Vormerkungsbescheid vom 28. Oktober 1986 hinsichtlich der für die Erziehung des Sohnes anerkannten Kindererziehungszeiten zurück, weil die Erziehung in einem Gebiet erfolgt sei, für das die Versicherungslastregelung des deutsch-österreichischen Versicherungsabkommens gelte, so daß während des gleichen Zeitraums zurückgelegte Beitragszeiten nicht hätten angerechnet werden können; deswegen seien auch Kindererziehungszeiten nicht anzuerkennen.

Nachdem die Klägerin hiergegen am 9. Oktober 1987 Klage erhoben hatte, stellte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid 2) vom 14. Oktober 1987 das vorzeitige ARG der Klägerin nach Art 2 § 6c des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) unter Anrechnung nur der für die Erziehung der Tochter vorgemerkten Kindererziehungszeit ab 1. Oktober 1987 neu fest.

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat den streitigen Bescheid 1) aufgehoben und den streitigen Bescheid 2) abgeändert sowie die Beklagte verurteilt, die Rente der Klägerin unter Berücksichtigung auch der Kindererziehungszeit für den Sohn neu festzustellen (Urteil vom 14. Oktober 1988). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. November 1989). Es ist der Auffassung, die streitige Kindererziehungszeit sei nicht anzurechnen, weil reichsgesetzliche Versicherungszeiten, wenn sie während des Erziehungszeitraums zurückgelegt worden wären, nach der Versicherungslastregelung des Art 24 des Ersten Deutsch-Österreichischen Sozialversicherungsabkommens (1. DÖSVA) in die österreichische Versicherungslast gefallen wären. Art 24 des 1. DÖSVA sei eine Spezialregelung, die dem § 28a AVG vorgehe. Die Beklagte sei nach § 45 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) befugt gewesen, den Vormerkungsbescheid zurückzunehmen.

Zur Begründung der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 28a AVG. Weder dem Wortlaut der Vorschrift noch der amtlichen Begründung hierzu (Hinweis auf BT-Drucks 10/2677 und BT-Drucks 10/3519) sei zu entnehmen, daß Versicherungslastregelungen vorrangig seien. Der Gesetzgeber habe vielmehr allen Versicherten, die gegenüber einem deutschen Versicherungsträger anspruchsberechtigt seien, eine zusätzliche Anrechnung von Kindererziehungszeiten gewähren wollen. § 28a AVG habe auch nicht nur lückenfüllende Funktionen.

Die Klägerin beantragt,

„das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. November 1989 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Rente der Klägerin unter Heranziehung einer Kindererziehungszeit vom 1. April 1944 bis zum 31. März 1945 neu festzustellen.”

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie weist darauf hin, daß der Streitpunkt inzwischen gesetzlich rückwirkend geregelt worden sei: Art 7 Nr 2 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 – RRG 1992) habe einen Abs 1a in § 28 AVG eingefügt, in dem ausdrücklich klargestellt werde, daß Erziehungszeiten im früheren Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze der Inlandserziehung nicht gleichstehen, wenn Beitragszeiten während desselben Zeitraumes aufgrund einer Versicherungslastregelung mit einem anderen Staat nicht in die Versicherungslast der Bundesrepublik Deutschland fallen würden. Diese Regelung sei gemäß Art 85 Abs 2 RRG 1992 mit Wirkung vom 1. Januar 1986 in Kraft getreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des SozialgerichtsgesetzesSGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie hat nach Art 2 § 6c AnVNG keinen Anspruch auf Neufeststellung ihres Altersruhegeldes unter Berücksichtigung einer Versicherungszeit der Kindererziehung vom 1. April 1944 bis zum 31. März 1945, weil sie durch die Erziehung ihres Sohnes den gesetzlichen Tatbestand einer solchen Versicherungszeit (§ 27 Abs 1 Buchst c iVm § 28a AVG) nicht erfüllt hat.

Nach § 28a AVG idF des Art 2 Nr 8 des Hinterbliebenenrenten-und Erziehungszeiten-Gesetzes (HEZG) vom 11. Juli 1985 (BGBl I S 1450) wurden ua Müttern Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in den ersten zwölf Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt des Kindes angerechnet, wenn sie ihr Kind im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder in dem jeweiligen Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze erzogen und sich mit ihm dort gewöhnlich aufgehalten hatten. Durch Art 7 Nr 2 RRG 1992 vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S 2261) ist rückwirkend zum 1. Januar 1986 (Art 85 Abs 2 RRG 1992) der Text des § 28a AVG durch Einfügung des Abs 1a klarstellend geändert worden. In Satz 1 aaO werden (wie bisher nach Abs 1 Satz 1) die Erziehung und der gewöhnliche Aufenthalt im jeweiligen Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze der Erziehung und dem gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des AVG gleichgestellt. Nach Abs 1a Satz 2 aaO gilt dies nicht, wenn Beitragszeiten während desselben Zeitraumes aufgrund einer Versicherungslastregelung mit einem anderen Staat nicht in die Versicherungslast der Bundesrepublik Deutschland fallen würden.

Das Gesetz ist in dieser Fassung anzuwenden. Der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG SozR 3-5050 § 28b Nr 1 und Urteil vom 26. Juni 1990 – 5 RJ 93/89) sowie der erkennende Senat (SozR 3-6675 Art 24 Nr 1) haben bereits entschieden, daß keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die rückwirkende Änderung des Gesetzestextes bestehen. Das BSG (aaO) hat bisher offengelassen, ob § 28a Abs 1a Satz 2 AVG lediglich eine Klarstellung des ohnehin bereits geltenden Rechts oder aber eine klärende Änderung der Rechtslage enthält, weil auch im letztgenannten Fall jedenfalls eine zulässige Rückwirkung des Gesetzes vorliege; denn es sei eine zumindest unklare Gesetzeslage klargestellt worden. Der erkennende Senat hat aber bereits zur vergleichbaren Rechtslage bei der Kindererziehungsleistung nach Art 2 § 61 Abs 1 Satz 1 AnVNG idF des Art 8 Nr 1 RRG 1992 entschieden, bei der Neufassung des Gesetzes habe es sich nur um eine Klarstellung des bisher schon geltenden Rechts gehandelt (Urteil vom 28. Juni 1990 – 4 RA 26/90).

Die Klägerin hat durch die Erziehung ihres am 28. März 1944 geborenen Sohnes den Tatbestand einer Kindererziehungszeit iS von § 28a Abs 1 Satz 1 und Abs 1a AVG nicht erfüllt.

Zwar hat die BfA durch den zunächst bindend gewordenen (§ 77 SGG) Bescheid vom 28. Oktober 1986 den Erziehungszeittatbestand ua für die Erziehung des Sohnes vorgemerkt, worin jedoch keine Entscheidung über die Anrechnung und Bewertung dieser Zeit bei Feststellung einer Leistung enthalten war (vgl § 104 Abs 3 Satz 2 AVG). Sie hat diese Vormerkung aber durch den streitigen Bescheid 1) vom 9. September 1987 zu Recht zurückgenommen. Hierzu war sie gemäß § 45 Abs 1 SGB X befugt, weil der die Klägerin begünstigende Vormerkungsbescheid vom 28. Oktober 1986 insoweit von Anfang an rechtswidrig war. Denn die Klägerin konnte als sog Altösterreicherin den Erziehungszeittatbestand iS von § 28a AVG in dem hier streitigen Zeitraum vom 1. April 1944 bis zum 31. März 1945 durch die Erziehung ihres Sohnes im Staatsgebiet der Republik Österreich nicht erfüllen.

Der erkennende Senat und der 5. Senat des BSG (jeweils SozR 3 aaO – zustimmend: Wölfl SGb 1991, 62) haben bereits klargestellt, daß die im Vertragsrecht zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland enthaltene Versicherungslastregelung die Berücksichtigung von in Österreich zurückgelegten Kindererziehungszeiten in der deutschen Rentenversicherung ausschließt, soweit Beitragszeiten während desselben Zeitraumes in die österreichische Versicherungslast gefallen wären. Eine solche Fallgestaltung liegt hier vor. Hätte die Klägerin in der Zeit vom 1. April 1944 bis zum 31. März 1945 in Österreich eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt und deswegen Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet, wären diese Beiträge in die österreichische Versicherungslast gefallen:

Dies folgt aus Art 24 Abs 1 Nr 2 Buchst b und Abs 2 des Ersten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Sozialversicherung (Erstes Abkommen) vom 21. April 1951 (BGBl II 1952 S 318) idF des Zweiten Abkommens hierzu vom 11. Juli 1953 (BGBl II 1954 S 774). Dieses Abkommen ist zwar mit Inkrafttreten des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über soziale Sicherung (DÖSVA) vom 22. Dezember 1966 (BGBl II 1969 S 1235) idF des Dritten Zusatzabkommens zum DÖSVA vom 29. August 1980 (BGBl II 1982 S 415) gemäß Art 53 DÖSVA außer Kraft getreten, jedoch nur „unbeschadet der Nrn 18 und 19 des Schlußprotokolls” (SP) zum DÖSVA, das nach Art 49 DÖSVA Bestandteil dieses Abkommens ist. Gemäß Nr 19 Buchst b 1a SP hat es – grundsätzlich – auch für die Zeit vom Inkrafttreten des DÖSVA an bei der in den Art 23 und 24 des Ersten Abkommens festgelegten Verteilung der Versicherungslast sein Bewenden. Nach Art 24 Abs 1 Nr 2 Buchst b des Ersten Abkommens übernehmen die Versicherungsträger in der Republik Österreich von den Leistungsansprüchen und den Anwartschaften diejenigen, die vor dem 10. April 1945 in den deutschen Rentenversicherungen entstanden sind, soweit sie auf Versicherungszeiten beruhen, die nach Einführung der deutschen Rentenversicherungen in Österreich (1. Januar 1939) im Gebiet der Republik Österreich zurückgelegt worden sind. Keiner Darlegung bedarf deshalb, daß Beitragszeiten der Klägerin, wenn sie von April 1944 bis März 1945 in Österreich zurückgelegt worden wären, grundsätzlich in die österreichische Versicherungslast gefallen wären.

Etwas anderes, nämlich die Anrechenbarkeit solcher Beitragszeiten in der deutschen Angestelltenversicherung ergibt sich auch nicht aus Nr 19b 2d SP. Nach dieser Vorschrift berührt die in Art 24 des Ersten Abkommens festgelegte Zuordnung der Versicherungslast (hier: zu Österreich) nicht die sich aus den innerstaatlichen deutschen Rechtsvorschriften ergebenden Leistungsverpflichtungen der deutschen Träger hinsichtlich solcher Versicherungszeiten, die nach früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Rentenversicherung von Personen zurückgelegt worden sind, die nicht die in Art 24 Abs 2 aaO geforderten Voraussetzungen erfüllen; hierbei handelt es sich um Versicherte, die keine österreichischen Staatsangehörigen waren, oder um Personen, die keine Versicherte sind, welche am 13. März 1938 und am 10. April 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen und unmittelbar vor dem 13. März 1938 durch fünf Jahre den Wohnsitz im Gebiet der Republik Österreich hatten. Dazu bestimmt Art 2 des Ersten Zusatzabkommens zum DÖSVA vom 10. April 1969 (BGBl II S 1261), daß für die Anwendung der Nr 19 SP der deutschen Staatsangehörigkeit ua eine andere Staatsangehörigkeit gleichsteht. Bei der Klägerin liegen die Voraussetzungen von Art 24 Abs 2 aaO jedoch vor. Denn sie war am 13. März 1938 österreichische Staatsangehörige und hatte darüber hinaus vor dem 13. März 1938 durch fünf Jahre den Wohnsitz im Gebiet der Republik Österreich. Somit ist im Blick auf Beitragszeiten, die während des hier streitigen Zeitraumes in Österreich zurückgelegt worden wären, die Versicherungslastregelung des Art 24 Abs 1 aaO auf die Klägerin als sog Altösterreicherin anzuwenden. Deswegen ist durch die Erziehung des Sohnes, soweit sie im Gebiet der Republik Österreich erfolgte, bereits der Tatbestand einer Versicherungszeit iS von § 28a AVG nicht erfüllt (noch offengelassen im Urteil des Senats vom 16. August 1990 – SozR 3-6675 Art 24 Nr 1). Dieses Ergebnis entspricht dem Gesetzeszweck, wegen der Kindeserziehung entgangene Anwartschaften in den deutschen Rentenversicherungen in einem gewissen Umfang auszugleichen (vgl dazu BSGE 63, 282 = SozR 2200 § 1251a Nr 2 und SozR 2200 § 1255a Nr 20 mwN).

Da der im Blick auf die Erziehung des Sohnes rechtswidrige Vormerkungsbescheid vom 28. Oktober 1986 insoweit durch den – auch im übrigen fehlerfrei ergangenen – streitigen Bescheid 1) zurückgenommen worden ist, kann die Klägerin aus ihm keine für sie günstigen Rechtsfolgen mehr herleiten. Die Beklagte hat deswegen das ARG der Klägerin in dem streitigen Bescheid 2) zutreffend ohne die Anrechnung von Versicherungszeiten wegen der Erziehung des Sohnes festgestellt.

Soweit die Klägerin nach ihrem Vorbringen ihren Sohn schon vor dem 31. März 1945 im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erzogen hat, konnte der Senat dies nicht berücksichtigen, weil er nach § 163 SGG an die tatsächliche Feststellung des Berufungsgerichts gebunden ist, die Klägerin sei – erst – im April 1945, also nach Ablauf des hier streitigen Zeitraums, nach Deutschland evakuiert worden; diese tatsächliche Feststellung ist von der Revision nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden.

Nach alledem war das Urteil des LSG im Ergebnis zu bestätigen und die Revision der Klägerin hiergegen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173701

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