Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 09.07.1959) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 9. Juli 1959 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der 1896 geborene Kläger betrieb als alleinarbeitender selbständiger Tischler im Keller des Vorderhauses Brandenburgische Straße 81 in Berlin-Wilmersdorf eine Werkstatt, die er jeden Tag bis gegen 19 Uhr geöffnet hielt. Am 26. Juni 1956 verletzte er sich den linken Unterarm an der Fensterscheibe seiner Werkstatt. Die Schnittverletzung mit Sehnen- und Nervendurchtrennung machte eine Operation erforderlich. Über den Anlaß des Unfalls gab der Kläger – nach vorher mehrfach wechselnden Darstellungen – schließlich an, er habe seine Werkstatt verlassen, um in einem in derselben Straße befindlichen Tabakwarengeschäft Zigaretten zu holen; direkt vor seiner Werkstatt sei er auf einer Bananenschale ausgerutscht; vor dem Unfall habe er mit einer Kundin eine Flasche Wermutwein getrunken. Nach den auf die Zeugenaussagen dieser Kundin gestützten Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG.) kam diese zwischen 12 und 13 Uhr in die Werkstatt des Klägers, um einen reparierten Gegenstand abzuholen; eine von ihr mitgebrachte Flasche Wermut öffnete der Kläger und gab der Kundin ein Glas davon ab, während er den restlichen Inhalt selbst austrank; bald nach dem Weggang der Kundin gegen 13 Uhr ereignete sich der Unfall des Klägers.
Mit Bescheid vom 24. April 1957 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Entschädigung für den Unfall des Klägers ab: Es handele sich nicht um einen Arbeitsunfall, da der Weg zum Tabakgeschäft im angetrunkenen Zustand mit der Betriebstätigkeit nicht ursächlich zusammengehangen habe.
Die Klage blieb ohne Erfolg. In seinem Urteil vom 10. Dezember 1957 führte das Sozialgericht (SG.) aus, der Gang zum Einkauf von Zigaretten während einer Arbeitspause könne zwar mit der beruflichen Tätigkeit in einem inneren wesentlichen Zusammenhang stehen; der Kläger habe sich jedoch durch Alkoholgenuß bereits vorher vom Betrieb gelöst.
Das LSG hat vom Universitätsinstitut für gerichtliche und soziale Medizin ein Gutachten darüber erstatten lassen, ob der Kläger nach dem Genuß fast einer ganzen Flasche Wermutweines noch zur ordnungsmäßigen Verrichtung der Tischlerarbeit und zur hinreichend sicheren Bewegung im Straßenverkehr imstande war. Diese Fragen hat der Sachverständige, Prof. Dr. Rommeney, bejaht. Das LSG. hat durch Urteil vom 9. Juli 1959 die Beklagte verurteilt, dem Kläger aus Anlaß seines Unfalles vom 26. Juni 1956 eine der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit entsprechende Rente zu gewähren: Eine den ursächlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit lösende Trunkenheit des Klägers im Zeitpunkt seines Unfalles sei nach dem Gutachten des Prof. Dr. Rommeney nicht anzunehmen. Durch die Ruhepause, die der Kläger vor seiner Kellerwerkstatt sitzend verbracht habe, sei noch keine Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit eingetreten; während dieser Erholungspause habe der Versicherungsschutz für den Kläger fortbestanden. Fraglich sei allein, ob das Aufstehen des Klägers zum Zwecke des Zigarettenholens von dem in der Nähe gelegenen Tabakwarengeschäft als mit der Betriebsarbeit zusammenhängende Verrichtung zu werten sei. Dabei treffe der Einwand des Klägers, er habe den beabsichtigten Weg zum Tabakladen noch gar nicht angetreten und sich deshalb nicht eigenwirtschaftlich betätigt, nicht zu; denn der Unfall müsse sich immerhin erst bei dem ersten Schritt nach dem Aufstehen von der Kiste zum Zwecke des Zigarettenholens ereignet haben, und dieser erste Schritt habe bereits die Ausführung des beabsichtigten Weges zum Tabakwarengeschäft erkennen lassen. Dieser bereits angetretene Weg des Klägers zum Zigaretteneinkauf sei aber keine rein eigenwirtschaftliche Verrichtung gewesen. Die Beschaffung der Zigaretten habe nämlich wesentlich auch der Aufrechterhaltung der Arbeitskraft des Klägers gedient und deshalb auch im betrieblichen Interesse. Wenn auch der Nikotingenuß nicht in jedem Falle der Führung der Arbeit notwendigen Genuß von Nahrung gleichzusetzen sein möge, so könne doch nicht übersehen werden, daß für einen gewohnheitsmäßigen Raucher das Bedürfnis nach Tabak wie nach Nahrungsmitteln besteht und durch den Nikotingenuß eine Belebung der Arbeitskraft und eine Belelebung der Arbeitsfreude eintrete, während sich andererseits die Vorenthaltung des gewohnten Nikotingenusses sowie bei vielen Arbeitnehmerinnen eine Versagung von Kaffee hemmend auf die Arbeitskraft auswirke. Da der im vorgerückten Alter stehende Kläger bereits an dem gesamten Vormittag des heißen Junitages in seiner Werkstatt gearbeitet habe, sei das beabsichtigte Rauchen wesentlich zur Aufrechterhaltung seiner Arbeitskraft und damit betriebsfördernden Zwecken dienlich gewesen. Für die Behauptung des Beklagten, nur der vorangegangene Alkoholgenuß habe beim Kläger den Wunsch zum Rauchen ausgelöst, bestehe kein hinreichender Anhalt. Mithin sei auch der Weg zur Zigarettenbeschaffung im vorliegenden Fall als im inneren ursächlichen Zusammenhang mit der Berufstätigkeit stehend anzusehen. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 28. August 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18. September 1959 Revision eingelegt und sie zugleich begründet: Während der vom Kläger eingelegten Arbeitspause nach dem Weggang der Kundin sei der Versicherungsschutz unterbrochen gewesen. Zigarettenrauchen sei eine rein persönliche und daher unversicherte Angelegenheit. Die Behauptung, der Nikotingenuß diene der Stärkung der Arbeitskraft, sei falsch. Wie vielmehr das LSG. Schleswig im Urteil vom 6. Februar 1958 (zit. bei Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Stand; September 1959, Anm. 3 bb zu § 542 S. 67) zutreffend dargelegt habe, überwögen die gesundheitsschädigenden Nachwirkungen des Nikotin wesentlich etwaige vorübergehende Steigerungen der Arbeitsfreudigkeit; auch sei in vielen Betrieben, insbesondere Behörden, das Rauchen während der Arbeitszeit verboten. Die Ausführungen des angefochtenen Urteils über die besonderen Bedürfnisse eines gewohnheitsmäßigen Rauchers bei der Arbeit seien nicht überzeugend, denn das LSG. habe nicht einmal festgestellt, ob der Kläger überhaupt ein gewohnheitsmäßiger Raucher gewesen sei. Ferner habe des LSG. verkannt, daß das Verlangen des Klägers nach Zigarettenrauchen wesentlich durch seinen vorangegangenen nicht betriebsbedingten Alkoholgenuß und die hierauf beruhende Ermüdung gefördert worden sei. Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er pflichtet der vom LSG vertretenen Auffassung bei und meint, selbst wenn in der Zigarettenbesorgung eine betriebsfremde Verrichtung zu erblicken sei, habe diese unbedeutende vorübergehende Betätigung eine Unterbrechung des Versicherungsschutzes nicht bewirken können, zumal da der Kläger den Unfall schon während des Auf Stehens von der vor dem Werkstattfenster stehenden Kiste erlitten habe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig Sie hatte auch Erfolg.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG. hatte sich der Kläger durch den Genuß des von der Kundin mitgebrachten Wermutweines nicht in einen solchen Zustand der Trunkenheit versetzt, daß er an der ordnungsgemäßen Fortsetzung seiner Betriebstätigkeit am Nachmittag des 26. Juni 1956 gehindert gewesen wäre. Damit entfällt der eine rechtliche Gesichtspunkt, unter dem im Ablehnungsbescheid der Beklagten und im Urteil des SG. der wesentliche innere Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der Tätigkeit des Klägers in seinem Handwerksunternehmen als gelöst erachtet worden war. Für die Beurteilung des Klaganspruchs kommt es hiernach entscheidend darauf an, ob der Weg zum Tabakwarengeschäft, den der Kläger im Augenblick des Unfalls nach den Feststellungen des LSG. nicht lediglich erst sich vorgenommen, sondern tatsächlich bereits angetreten hatte, einen Vorgang darstellte, bei dem der Kläger unter Versicherungsschutz stand.
Da der Kläger mit dem Zigarettenkauf keine unmittelbar betriebliche Angelegenheit besorgen wollte, findet § 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO) keine Anwendung. Vielmehr kommt nur in Betracht, ob es sich hierbei um einen nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO versicherten Weg von der Arbeitsstätte gehandelt hat. Unter diese Vorschrift fallen nach der Rechtsprechung auch solche Wege, die der Beschäftigte während einer Arbeitspause unternimmt, um sich die zur Weiterarbeit erforderliche Erholung und Stärkung außerhalb der Arbeitsstätte zu verschaffen. Die Besorgung von Nahrungsmitteln oder Erfrischungsgetränken zum alsbaldigen Verzehr wird hierbei als ein den Versicherungsschutz bewirkender Zweck des Weges anerkannt, weil solche Dinge den Beschäftigten dazu dienen, ein die Weiterarbeit erschwerendes oder gar verhinderndes Hunger- oder Durstgefühl zu überwinden (vgl. RVA. EuM. 21 S. 281; 48 S. 162).
Das LSG. hat gemeint, bei einem gewohnheitsmäßigen Raucher sei die Beschaffung von Tabakwaren in der Regel ebenso bedeutsam für die Erhaltung der Fähigkeit zum Weiterarbeiten wie für andere Beschäftigte die Versorgung mit Nahrungsmitteln; es möchte deshalb den Versicherungsschutz aus § 543 Abs. 1 Satz 1 FVO ohne wesentliche Einschränkung auch bei einem Weg bejahen, den ein an Nikotingenuß während der Arbeit gewöhnter Beschäftigter zwecks Einkaufs von Zigaretten unternimmt. Diese Betrachtungsweise erscheint dem erkennenden Senat zu allgemein und mit dem Sinn des § 543 RVO nicht mehr völlig vereinbar.
Der Genußmittelkonsum, insbesondere der Nikotingenuß, entspringt weit mehr als die Befriedigung eines natürlichen und unabweisbaren Hunger- oder Durstgefühls persönlichen Liebhabereien und Angewohnheiten. Die Ermöglichung eines von Beschäftigten gewünschten Nikotingenusses hat daher zu Sphäre des versicherten Beschäftigungsverhältnisses grundsätzlich eine losere Verbindung als die Ermöglichung der Nahrungsaufnahme. Es ist daher bedenklich, schon mit der Erwägung, das Rauchen könne eine liebe Gewohnheit bedeuten und subjektiv die Arbeitsfreude erhöhen (z.T. anscheinend in diesem Sinne Sauer, SGb. 1954 S. 19), den Weg des Beschäftigten zum Zigaretteneinkauf in den vom § 543 RVO vorausgesetzten Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit zu bringen.
Andererseits hält es der Senat auch nicht für vertretbar, den Genußmittelkonsum schlechthin außerhalb dieses Zusammenhanges zu stellen. Unzutreffend ist dabei die Erwägung des LSG, Schleswig in seinem angeführten Urteil vom 6. Februar 1958 (aufgehoben durch Entscheidung des erkennenden Senats vom 30.6.1960 – 2 RU 86/58): Nach den Erkenntnissen der Pharmakologie mag es zwar durchaus zutreffen, daß die infolge des Nikotingenusses eintretende kurzzeitige Anregung und Hebung der Arbeitslust aufgewogen oder sogar noch weit übertroffen wird durch die erheblichen gesundheitsschädigenden Nachwirkungen auf den menschlichen Organismus: zur Versagung des Versicherungsschutzes ist dieser Gedankengang jedoch ungeeignet; denn es müßte dann mit demselben Recht jemand den Versicherungsschutz einbüßen, der z. B. durch überhetztes Arbeitstempo Raubhau an seiner Gesundheit treibt. Die Anwendung unfallversicherungsrechtlicher Vorschriften hat der konkreten Lage des Beschäftigten unter Würdigung seiner subjektiven Bedürfnisse im einzelnen Fall gerecht zu werden, nicht hingegen obliegt es ihr, sein Verhalten mit gesundheitserzieherischen Maßstäben zu bewerten.
Im wesentlichen übereinstimmend mit dem LSG. Nordrhein-Westfalen (SGb. 1954 S. 18; Breithaupt 1956 S. 596) ist der erkennende Senat der Auffassung, daß ein zum Besorgen von Tabakwaren unternommener Weg von der Arbeitsstätte zwar nicht unterschiedslos und von vornherein, wohl aber je nach Lage des Einzelfalles beim Nachweis besonderer Umstände mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängen kann. Als solche Umstände kommen alle Momente in Betracht, die erkennen lassen, daß der Beschäftigte mit dem Nikotingenuß nicht nur einfach einer lieben Gewohnheit huldigen wollte, sondern daß das Rauchen für ihn in der jeweiligen Situation eine Notwendigkeit bedeutete, die in ihrer Unabweisbarkeit etwa der Stillung des Hungergefühls gleichkam. Dies kann einmal aus betrieblich bedingten besonderen, die Leistungskraft beeinträchtigenden Belastungen folgen (vgl. SGb. 1954 S. 18), wobei allerdings die Forderung, es müsse sich um eine das übliche Maß betrieblicher Belastung eindrucksvoll übersteigende Betriebseinwirkung handeln (so Breithaupt 1956 So 596), schon ein wenig überspitzt erscheint. Zum anderen können solche Umstände, die für einen Weg zum Tabakladen den Versicherungsschutz begründen, auch unabhängig von der Belastung und den Einwirkungen des Arbeitsmilieus allein aus der Person der Beschäftigten folgen; wenn dieser nämlich aus irgendwelchen Gründen sich außergewöhnlich abgespannt fühlt, kann es dem Unternehmen, das seine Weiterarbeit bis zum normalen Dienstschluß verlangt, dienlich sein, wenn er sich durch Nikotingenuß über den der zu leistenden Arbeit nachteiligen Leistungsabfall hinwegzusetzen versucht.
Das LSG. hat allerdings geglaubt, im vorliegenden Falle einige, den Versicherungsschutz rechtfertigende Umstände dieser Art anführen zu können. Wie indessen die Revision mit Recht geltend macht, beruhen die Darlegungen des angefochtenen Urteils insoweit weniger auf einwandfreien Feststellungen als vielmehr auf Mutmaßungen, die durch den Akteninhalt nicht ausreichend belegt sind. So fehlt es bereits an Erklärungen des Klägers darüber, ob er gewohnheitsmäßig bei der Arbeit rauche und ob er die Zigaretten, bei deren Besorgung er den Unfall erlitt, überhaupt noch an demselben Nachmittag in der restlichen Arbeitszeit bis zum Geschäftsschluß rauchen wollte. Angesichts der schwankenden Angaben des Klägers zur Unfallentstehung wäre eine nähere Erforschung des Sachverhalts hier besonders am Platz gewesen. Weiterhin können der heiße (?) Junitag und das vorgerückte Alter des Klägers nicht schon ohne weiteres eine besondere, die Entspannung durch Nikotingenuß erfordernde Belastung nachweisen, wenn nicht ermittelt worden ist, welches Arbeitspensum der Kläger in der Zeit bis zur Mittagspause bereits bewältigt hatte. Irgendeinen sonstigen Umstand, der ihn zum Nikotingenuß am Nachmittag besonders bewogen haben könnte, hat der Kläger nicht vorgetragen.
Die Revision ist hiernach begründet. Da die vom LSG. getroffenen Feststellungen eine Entscheidung in der Sache selbst nicht ermöglichen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG), mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden. Dieses wird Ermittlungen in der oben angedeuteten Richtung anzustellen haben. Ferner erscheint es nach Ansicht des Senats geboten, eine Skizze von der. Unfallstelle beizuziehen, um die Behauptung des Klägers genauer überprüfen zu können, er sei noch vor Antritt des eigentlichen Weges zum Tabakwarengeschäft ausgerutscht.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Unterschriften
Brackmann, Schmitt, Dr. Baresel
Fundstellen
Haufe-Index 1325063 |
BSGE, 254 |
MDR 1960, 1043 |