Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. Nachuntersuchung. Wegeunfall

 

Orientierungssatz

1. Verunglückt ein Verletzter vor der oder zur Nachuntersuchung, die aufgrund eines Arbeitsunfalls erforderlich wurde, so ist dieser neue Unfall nach dem bis zum Inkrafttreten des UVNG geltenden Recht weder unmittelbar noch mittelbar Folge des Arbeitsunfalls. Daß der Arbeitsunfall Anlaß für die Nachuntersuchung war, genügt nicht.

2. Die in § 555 RVO idF des UVNG getroffene neue Regelung, daß Unfälle auf dem Weg zu einer wegen eines Arbeitsunfalls angeordneten ärztlichen Nachuntersuchung als Folge dieses Arbeitsunfalls zu gelten haben, gilt nicht, wenn der Unfall auf dem Wege zur ärztlichen Nachuntersuchung sich vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet hat (vgl BSG 1965-06-30 2 RU 175/63 = BSGE 23, 139).

 

Normenkette

RVO §§ 548, 555 Fassung: 1963-04-30; UVNG Art. 4 § 2 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 16.05.1962)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. Mai 1962 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Verkehrsunfalles, der sich auf dem Rückweg von einer ärztlichen Untersuchung ereignet hat.

Der Kläger, der am 3. November 1939 geboren ist, war im Jahre 1957 als Schiffsjunge auf einem Schlepper des Bundesschleppbetriebs auf den westdeutschen Kanälen, Schleppamt E., beschäftigt. Am 20. März 1957 geriet er beim Festmachen des Schleppers mit dem rechten Fuß in eine Schlaufe des Festmachedrahtes. Es wurde ihm die Weichteilkappe der rechten Ferse abgerissen. Der Kläger wurde bis zum 10. August 1957 stationär und bis zum 4. September 1957 ambulant in den Städtischen Krankenanstalten in E. behandelt.

Am 24. Oktober 1957 hat der Facharzt für Chirurgie Dr. A aufgrund einer Nachuntersuchung an demselben Tage ein Gutachten erstattet, in dem die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf die Dauer von sechs Monaten auf 30 v. H. eingeschätzt ist.

Die beklagte Ausführungsbehörde hat die Entschädigung für die Folgen dieses Unfalles erstmalig durch Bescheid vom 29. Juli 1958 festgestellt. Dieser Bescheid war Gegenstand eines Verfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Aurich (S 2 U 227/58), das schließlich durch einen Vergleich vom 16. Dezember 1960 abgeschlossen worden ist. Aufgrund dieses Vergleichs bezieht der Kläger vom 9. Oktober 1959 an eine Dauerrente in Höhe von 30 v. H. der Vollrente.

Am 2. November 1957 erstattete das Schleppamt in E. eine Unfallanzeige über einen Unfall vom 24. Oktober 1957, 20,45 Uhr. Nach den Angaben in der Unfallanzeige und in dem beigefügten Fragebogen war der Kläger für den 24. Oktober 1957 um 17:00 Uhr wegen seines Unfalls vom 20. März 1957 zur Nachuntersuchung in die Städtischen Krankenanstalten in E. bestellt worden. Er arbeitete damals wegen einer Grippeerkrankung zeitweilig nicht. Für die Hin- und Rückfahrt nach E. benutzte er vom Bahnhof seines Wohnortes W nach E. die Bahn. Für die Rückfahrt vom Bahnhof zu seiner Wohnung benutzte er sein Moped. Auf dieser Fahrt fuhr er zwei auf der rechten Seite der Fahrbahn in gleicher Richtung gehende Frauen an. Er stürzte und zog sich eine Gehirnerschütterung und Prellungen am Rücken in Schulterhöhe zu. Er war zunächst bewußtlos.

Die Entschädigungsansprüche des Klägers für die Folgen dieses Unfalls lehnte die Ausführungsbehörde durch Bescheid vom 3. Juli 1958 mit folgender Begründung ab: Der Unfall sei kein zu entschädigender Wegeunfall im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) lägen Wege eines Versicherten zum Arzt im eigenen Interesse und seien daher nicht versichert. Dies gelte auch dann, wenn die ärztliche Behandlung aus Anlaß eines Arbeitsunfalles erforderlich sei.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage beim SG Aurich erhoben mit dem Antrag festzustellen, daß das Ereignis vom 24. Oktober 1957 durch die Ausführungsbehörde zu entschädigen sei, und diese zur Zahlung einer Unfallrente zu verurteilen. Zur Begründung hat der Kläger u. a. darauf Bezug genommen, daß er von der beklagten Behörde aufgefordert worden sei, den Arzt aufzusuchen, und mit erheblichen Nachteilen hätte rechnen müssen, wenn er dieser Aufforderung nicht gefolgt wäre. Er hat weiterhin darauf hingewiesen, daß hier zwischen der Ausführungsbehörde und dem Arbeitgeber eine Personalunion bestehe, so daß der Weg zur Untersuchung schon aus diesem Grunde ein Betriebsweg sein müsse.

Das SG hat durch Urteil vom 24. August 1959 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Ausführungsbehörde verurteilt, "dem Kläger die Folgen seines Unfalls vom 24. Oktober 1957 zu entschädigen".

Zur Begründung hat das SG u. a. ausgeführt: Grundsätzlich sei der Weg eines Versicherten zum Aufsuchen eines Arztes nicht gegen Unfall geschützt (EuM 42, 385, Baresel in Bundesarbeitsblatt 1957, 105). Ein Versicherungsschutz sei aber zu bejahen, wenn der Versicherte sich während der Arbeit verletzt habe und einen Arzt aufsuche, um anschließend wieder weiterarbeiten zu können (EuM 23, 166; 24, 324). Ferner bestehe ein Versicherungsschutz, wenn die Folgen des Arbeitsunfalles bei der Entstehung des späteren Unfalles oder dem Ausmaß seiner Folgen wesentlich mitgewirkt hätten (BSG 1, 254, EuM 27, 503). Diese Ausnahmefälle seien hier nicht gegeben, denn der Kläger habe den Weg nicht von seiner Arbeitsstelle aus angetreten und sei durch die Verletzung am Fersenbein bei der Fahrt auf dem Moped nicht gehindert gewesen. Das Urteil des LSG Bremen vom 22. Mai 1958 habe für den vorliegenden Fall keine unmittelbare Bedeutung, denn es beruhe auf der Besonderheit, daß in dem vom LSG zu entscheidenden Fall der Kläger von der Arbeitsstelle zur ärztlichen Untersuchung und zurückgefahren sei. Im vorliegenden Fall sei entscheidend, daß der Kläger auf Veranlassung der Beklagten zum Zwecke der Untersuchung nach E. gefahren sei. Freilich bedeute die Gewährung einer Rente, für die durch die Untersuchung eine Grundlage geschaffen werden sollte, für den Verletzten einen Vorteil. Der Weg sei aber trotzdem nicht vorwiegend aus dem persönlichen Interesse des Verletzten zurückgelegt worden, denn die Leistungen seien von Amts wegen festzustellen. Wenn der Kläger der Aufforderung nicht nachgekommen wäre, so wäre die Beklagte berechtigt gewesen, eine Entschädigung zu versagen, da er zur Mitwirkung bei der Sachaufklärung verpflichtet sei. Er habe auch auf die Wahl des Arztes keinen Einfluß gehabt (vgl. EuM 46, 406). Die persönlichen Belange des Unfallverletzten träten beim Aufsuchen eines vorgeschriebenen Arztes in den Hintergrund. Im Grunde genommen handele es sich bei einem Unfall auf einem solchen Weg um mittelbare Unfallfolgen. Da der Kläger somit wegen der Folgen des ersten Unfalls den zweiten Unfall erlitten habe, habe er am 24. Oktober 1957 wiederum einen Arbeitsunfall erlitten. Die Beklagte habe daher zu Unrecht den Versicherungsschutz abgelehnt. Der Klage sei stattzugeben.

Gegen dieses Urteil hat die Ausführungsbehörde Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen eingelegt. Zur Begründung hat sie u. a. ausgeführt, es treffe zu, daß der Kläger von seiner Dienstbehörde aufgefordert worden sei, den Durchgangsarzt zu einer Nachuntersuchung aufzusuchen. Eine Nichtbefolgung dieser Aufforderung hätte jedoch in erste Linie Nachteile für den Kläger gehabt. Der Weg habe nicht im Interesse des Arbeitgebers gelegen, sondern hauptsächlich im Interesse des Verletzten, um die Voraussetzungen für einen Rentenbescheid zu schaffen. Es handele sich um keinen Weg zum Dienst oder vom Dienst.

Das LSG hat durch Urteil vom 16. Mai 1962 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen sowie die Revision zugelassen.

Zur Begründung hat das LSG u. a. ausgeführt, § 543 aF RVO komme schon deshalb nicht in Betracht, weil es sich nicht um einen Weg nach oder von der Arbeitsstätte gehandelt habe. Der Unfall sei aber auch kein Arbeitsunfall im Sinne des § 542 aF RVO. Der Versicherungsschutz erstrecke sich zwar auch auf Wege, die Versicherte im Interesse des Betriebs oder im Auftrag des Unternehmers unternehmen.

Wege eines Versicherten zum Arzt, abgesehen von dem Fall, daß der Verletzte den Arzt aufsucht, um sofort die Arbeitstätigkeit fortsetzen zu können, seien nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 13. Mai 1956 - 2 RU 52/54 -) Wege im Interesse des Verletzten und nicht versichert. Das gelte auch, wenn der Arzt zur Untersuchung und Erstattung eines Gutachtens aufgesucht werde, weil auch dieser Weg ausschließlich im Interesse des Verletzten und Versicherungsträgers liege, nicht im Interesse des Betriebes (EuM 21, 279; BG 1934, 246; BG 1957, 257). Die Aufforderung, den Arzt aufzusuchen, sei nicht wie z. B. bei Kontrolluntersuchungen eines Bleiarbeiters vom Unternehmer ergangen, die Ausführungsbehörde habe sich vielmehr des Arbeitgebers nur zur Übermittlung der Aufforderung bedient.

Der Unfall vom 24. Oktober 1957 sei auch keine mittelbare Folge des Arbeitsunfalls vom 20. März 1957. Nach BSG 1, 254 sei ein Unfall eine mittelbare Folge eines Arbeitsunfalles, wenn die Folgen des Arbeitsunfalles wesentlich zum Eintritt des zweiten Unfalls mitgewirkt hätten. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Die noch bestehende Bewegungsbehinderung im rechten Fußgelenk habe weder zum Eintritt des Unfalles noch zur Schwere der hierbei erlittenen Verletzungen beigetragen. Der Kläger habe zwei Frauen angefahren und sei dadurch gestürzt. Ein solcher Unfall hätte auch einem völlig Gesunden in gleicher Art und Schwere zustoßen können. Der Umstand, daß der Kläger den Weg auf Veranlassung der Beklagten und wegen der Folgen des Arbeitsunfalles unternommen habe, genüge nicht, um den Unfall als mittelbare Folge des Arbeitsunfalles werten zu können. Das LSG Baden-Württemberg (SozEntsch § 542 a Nr. 117) habe zwar den mittelbaren Zusammenhang bejaht, weil beim Aufsuchen eines Durchgangsarztes die rein persönlichen Belange des Unfallverletzten hinter dem höher zu wertenden Anliegen der Allgemeinheit zurückzutreten hätten (ähnlich Baresel, Bundesarbeitsblatt 1957, 105; Lauterbach S. 74). Das LSG Hamburg habe dagegen den mittelbaren Zusammenhang abgelehnt. Es sei nicht zu verkennen, daß bei derartigen Wegen sowohl das eigene Interesse des Versicherten als auch Interessen des Versicherungsträgers, d. h. öffentliche Interessen, bestehen. Das öffentliche Interesse allein könne aber - ohne Änderung der Rechtsnorm - nicht das bestimmende Merkmal sein, ob der Unfall auf einem solchen Wege mittelbare Folge des Arbeitsunfalles sei. Denn das öffentliche Interesse sei je nach Art und Zweck des Weges geringer oder größer und in seinem Umfang immer verschieden. Es würde zu einer nicht zu übersehenden Kasuistik führen, wenn der Richter im Einzelfall die Interessen des Versicherten an der Beurteilung durch den Arzt mit denen des Versicherungsträgers abzuwägen hätte. Vollmar (BG 1962, 209) weise mit Recht darauf hin, daß ein Verletzter aus Anlaß eines Arbeitsunfalles eine Vielzahl von Wegen zurücklegen müsse. Es müsse daher dem Gesetzgeber überlassen bleiben, auf welchem dieser Wege der Verletzte den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung genießen solle. Der Entwurf des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) habe in § 555 nur ganz bestimmte Wege geschützt und nicht alle Wege auf Veranlassung eines Versicherungsträgers. Das beweise, daß nach der Auffassung der Gesetzesvorlage ein Verletzter nach dem zur Zeit geltenden Recht keinen Schutz auf allen Wegen genieße, die er aus Anlaß eines Arbeitsunfalles auf Veranlassung des Versicherungsträgers unternehme.

Das Urteil ist dem Kläger am 11. Juli 1962 zugestellt worden. Er hat am 4. August 1962 durch seine Prozeßbevollmächtigten Revision eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Aurich vom 24. August 1959 zurückzuweisen.

Zur Begründung der Revision ist u. a. ausgeführt worden:

Es gehe um die Frage, ob eine vom Versicherungsträger angeordnete Nachuntersuchung im Interesse des Versicherten oder im Interesse des Betriebes erfolge. Bei zutreffender Wertung der Interessenlage ergebe sich, daß eigenwirtschaftliche Interessen des Versicherten kaum vorlägen. Dieser sei nicht daran interessiert, daß ihm die aufgrund des Unfalles gewährten Vergünstigungen entzogen würden. Anders wäre die Frage unter Umständen zu beurteilen, wenn der Durchgangsarzt weitere Heilmaßnahmen für erforderlich halten würde, die sich auf den Gesundheitszustand des Verletzten günstig auswirken. Bei den Kontrolluntersuchungen stehe das Interesse des Versicherungsträgers im Spiel, der sich von einer finanziellen Belastung befreien bzw. diese mindern wolle. Das bedeute aber gleichzeitig ein im Interesse des Unternehmens liegendes Moment, denn dieser habe Interesse daran, die Beitragsleistungen im Umlageverfahren möglichst niedrig zu halten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Die Auffassung des LSG, daß der Kläger auf dem Weg zur Nachuntersuchung in den Städtischen Krankenanstalten in E. und auf dem Rückweg von dieser Untersuchung weder nach § 543 RVO idF vor dem Inkrafttreten des UVNG (aF) noch nach § 542 RVO aF unter Versicherungsschutz gestanden habe, entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. BSG 23, 139 mit weiteren Nachweisen).

Die Anwendung des § 543 RVO aF scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger am Unfalltage nicht gearbeitet hat und die Arbeitsstätte infolgedessen weder Ziel noch Ausgangspunkt des Weges gewesen ist. Vor allem aber fehlt es an einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Aufsuchen des Krankenhauses und der versicherten Arbeitstätigkeit des Klägers. Es reicht hierfür nicht aus, daß ein Arbeitsunfall der Anlaß zur Nachuntersuchung im Krankenhaus war und daß das Unternehmen auch ein eigenes Interesse an einer ordnungsmäßigen Durchführung des Feststellungsverfahrens und insbesondere an der ärztlichen Betreuung der bei der Arbeit Verletzten hat. Gegenüber diesen Umständen steht vielmehr das eigene Interesse des Verletzten am Feststellungsverfahren und an der ärztlichen Beratung und Überwachung als rechtlich allein wesentlich im Vordergrund. Besondere Umstände, aus denen sich ein rechtlich wesentliches Interesse des Unternehmens daran ergeben könnte, daß der Kläger am Unfalltage die Städtischen Krankenanstalten in E. aufsuchte, liegen nicht vor. Das LSG hat den Weg zum Krankenhaus deshalb ohne Rechtsirrtum dem unversicherten persönlichen Lebensbereich des Klägers zugerechnet.

Der Unfall auf diesem Weg ist auch nach dem bis zum Inkrafttreten des UVNG geltenden Recht keine - mittelbare - Folge des Arbeitsunfalls vom 20. März 1957. Auch hierfür genügt es nicht, daß dieser Arbeitsunfall der Anlaß für die Nachuntersuchung gewesen ist. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, besteht kein Anhalt dafür, daß Folgen des Arbeitsunfalls eine der Ursachen für das Unfallereignis am 24. Oktober 1957 oder für die Schwere seiner Auswirkungen gewesen sind (vgl. z. B. BSG 1, 254, 256).

Das LSG konnte allerdings bei seiner Entscheidung das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (vom 30. April 1963, BGBl I 241 - UVNG) noch nicht berücksichtigen, das erst am 1. Juli 1963 in Kraft getreten ist (Art. 4 § 16 UVNG). In § 555 RVO idF des Art. 1 UVNG (nF) hat der Gesetzgeber nunmehr bestimmt, daß u. a. Unfälle auf dem Weg zu einer wegen eines Arbeitsunfalls angeordneten ärztlichen Nachuntersuchung als Folge dieses Arbeitsunfalls zu gelten haben. Wie der Senat im Urteil vom 30. Juni 1965 (2 RU 175/63 - BSG 23, 139) mit ausführlicher Begründung dargelegt hat, ist § 555 RVO nF jedoch nicht anwendbar, wenn der Unfall auf dem Wege zur ärztlichen Nachuntersuchung sich, wie im vorliegenden Fall, vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet hat.

Entsprechend einem nicht nur im Sozialversicherungsrecht geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß "Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen, von der Rechtsänderung nicht erfaßt werden, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinne nach seinen Geltungsbereich auf diese Sachverhalte erstreckt" (vgl. die Nachweise in BSG 23, 139, 140), gilt das neue Recht des UVNG grundsätzlich nur für Arbeitsunfälle, die sich nach seinem Inkrafttreten ereignen (Art. 4 § 1 UVNG). Das steht auch mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes nicht in Widerspruch.

Jedoch hat der Gesetzgeber in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG die Geltung des neuen Rechts in beschränktem Umfang auch auf Unfälle ausgedehnt, die sich vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet haben. Wie der Senat in dem in BSG 23, 139 veröffentlichten Urteil näher dargelegt hat, sind die in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG in einer Rückwirkungsvorschrift zusammengefaßten Vorschriften so verschiedenartig, daß ihre rückwirkende Anwendung nicht einheitlichen Regeln folgen kann. Bei der Mehrzahl dieser Vorschriften hat die Rückwirkung zur Folge, daß beim Inkrafttreten des UVNG laufende Leistungen an das neue günstigere Leistungsrecht angepaßt werden. Durch diese Übergangsregelung wird verhindert, daß die Versicherungsträger nicht nur bei der Neufeststellung alter Leistungen, sondern auch bei der Gewährung neuer Leistungen (z. B. Abfindung, Witwenrente) je nach dem Zeitpunkt des Arbeitsunfalls verschiedenes Recht anwenden müßten. Die Überleitung in das durch das UVNG geschaffene neue Recht setzt jedoch voraus, daß der vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfall in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirkt; und § 555 RVO nF gehört zu den - verhältnismäßig wenigen - der in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG zusammengefaßten Vorschriften, die nur dann einen Anspruch begründen, wenn außer dem Arbeitsunfall noch ein neues zusätzliches Tatbestandsmerkmal erfüllt ist. Der Unfall im Sinne des § 555 RVO nF gilt nicht als Arbeitsunfall im Sinne des § 548 RVO nF, sondern als - weitere - Folge des bereits vorangegangenen Arbeitsunfalls. Hat sich ein solcher als Folge eines noch weiter zurückliegenden Arbeitsunfalls geltender Unfall bereits vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet, so handelt es sich dabei um ein abgeschlossen in der Vergangenheit liegendes Ereignis, das als solches nicht in den Geltungsbereich des neuen Rechts hinein fortwirkt. Wie der Senat in dem bereits angeführten Urteil näher dargelegt hat, enthält die Entstehungsgeschichte des UVNG keine ausreichenden Hinweise dafür, daß der Gesetzgeber entgegen der bisherigen Gesetzgebungspraxis die in der Übergangsvorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG zusammengefaßten Vorschriften ohne jede zeitliche Begrenzung rückwirkend auch auf in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Vorgänge anwenden wollte. Der Senat hat sich deshalb der in Rechtsprechung und Schrifttum überwiegend vertretenen Ansicht angeschlossen, daß § 555 RVO nF zwar grundsätzlich auch für Arbeitsunfälle vor dem 1. Juli 1963 gilt, jedoch nur dann anwendbar ist, wenn die besonderen Tatbestände dieser Vorschrift nach dem 30. Juni 1963 erfüllt worden sind. An dieser Voraussetzung fehlt es im vorliegenden Fall, da der Unfall des Klägers auf dem Rückweg von der ärztlichen Untersuchung sich vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet hat.

Da somit ein Entschädigungsanspruch des Klägers für die Folgen des Unfalls vom 24. Oktober 1957 auch aus § 555 RVO nF nicht hergeleitet werden kann, ist die Revision des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des LSG unbegründet und war zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379721

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