Leitsatz (redaktionell)
RVO § 555 ist nicht anwendbar, wenn sich der Unfall auf dem Wege zur ärztlichen Nachuntersuchung vor Inkrafttreten des UVNG ereignet hat (Anschluß an Urteil BSG 1965-06-30 2 RU 175/63 = BSGE 23, 139).
Normenkette
RVO § 555 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; UVNG Art. 4 § 2 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 2. Juli 1963 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin ist die Ehefrau des Arbeiters Franz K, der am 24. Oktober 1960 auf einer Fahrt mit seinem Moped durch einen Zusammenstoß mit einem Lkw tödlich verunglückt ist. Sie beansprucht Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) und beruft sich zur Begründung darauf, daß ihr Ehemann auf dem Weg zu einer von der Beklagten veranlaßten Nachuntersuchung verunglückt sei.
Der Ehemann der Klägerin war im Juli 1960 bei Deicharbeiten der Firma F in R beschäftigt. Am 5. Juli 1960 ereignete sich beim Einladen von Bruchsteinen ein Unfall, der eine Mittelfußfraktur links zur Folge hatte. Wegen der Folgen dieses Unfalls wurde der Ehemann der Klägerin bis zum 13. Juli 1960 stationär und anschließend bis zum 6. September 1960 ambulant im Kreiskrankenhaus in Nordenham behandelt.
Der behandelnde Facharzt für Chirurgie Dr. Hr teilte der Beklagten - auf einer vorgedruckten Postkarte - am 8. September 1960 mit: der Kläger sei aus der ambulanten Behandlung entlassen und ab 12. September 1960 wieder arbeitsfähig; nach Ablauf der 13. Woche nach dem Unfall werde er nach vorläufiger Schätzung um O v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sein; ärztliche Behandlung sei nicht mehr erforderlich. Die Beklagte befriedigte daraufhin den Ersatzanspruch der Krankenkasse und schrieb die Sache im übrigen "ZdA".
Am 3. Oktober 1960 ging bei der Beklagten ein Schreiben des Ehemanns der Klägerin vom 1. Oktober 1960 ein, mit dem er Fahrtkosten anmahnte und im übrigen mitteilte, er habe auf Schmerzensgeld gehofft, sei bisher noch nicht voll arbeitsfähig und wisse nicht, wie es noch werde. Daraufhin teilte ihm die Beklagte mit Schreiben vom 20. Oktober 1960 mit, die Fahrtkosten seien inzwischen überwiesen, die Zahlung von Schmerzensgeld sei in der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht vorgesehen; da er seiner Äußerung nach noch nicht voll arbeitsfähig sei, habe sie eine Untersuchung veranlaßt und bitte ihn, der Aufforderung nachzukommen; nach Eingang des Gutachtens werde ein Bescheid erteilt. Nach den Akten der Beklagten ist am 21. Oktober 1960 ein Formblatt "V 10 m. Bestellkarte" an Dr. H abgesandt worden.
Mit Schreiben vom 25. Oktober 1960 teilte die Arbeitgeberin des Ehemannes der Klägerin mit, daß dieser am 24. Oktober 1960 verunglückt sei. Er habe vormittags auf der Baustelle F gearbeitet und hätte am Nachmittag auf der Baustelle M arbeiten sollen. Auf dem Weg nach M sei er in seiner Wohnung eingekehrt und habe dort eine Aufforderung gefunden, in N beim Arzt zu erscheinen. Er habe sich umgezogen und sich mit dem Moped auf den Weg nach N begeben. In der Nähe von St habe er einen tödlichen Verkehrsunfall erlitten. Nach den von der Beklagten beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft ist der Ehemann der Klägerin, nachdem er zunächst ordnungsmäßig die rechte Straßenseite eingehalten hatte, unerwartet nach der Straßenmitte eingebogen und in voller Fahrt gegen einen entgegenkommenden Lkw geprallt. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt, weil ein verkehrswidriges Verhalten des Lkw-Fahrers nicht festzustellen sei.
Das Kreiskrankenhaus in N (Oberarzt der Chirurgischen Abteilung Dr. M) erstattete am 18. November 1960 ein Gutachten nach Aktenlage. Hinsichtlich der beabsichtigten Untersuchung ist in dem Gutachten ausgeführt: Auf Veranlassung der Tiefbau-Berufsgenossenschaft (BG) haben wir Herrn K. zum 24. November 1960 zur Erstattung eines ersten Rentengutachtens vorgeladen, nicht aber zum 24. Oktober. Von der Vorladung existiert keine Durchschrift, da dieses nicht üblich ist. Der angegebene Termin ist lediglich auf unserem Terminkalender eingetragen, ein Schreibfehler kann allerdings von uns nicht ausgeschlossen werden (24. Oktober statt 24. November).
Die Beklagte lehnte mit einem an die Witwe erteilten Bescheid vom 30. Januar 1960 die Gewährung von Rente für die Folgen des Unfalls vom 5. Juli 1960 mit der Begründung ab, der Unfall habe eine meßbare Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) über die 13. Woche hinaus nicht hinterlassen. Dieser Bescheid ist nicht angefochten worden.
Die Klägerin teilte der Beklagten auf Anfrage mit, daß sie die Bestellkarte nicht mehr habe finden können, sie wisse jedoch, daß ihr Mann sie eingesteckt und mit zur Untersuchung genommen habe.
Durch Bescheid vom 10. März 1961 lehnte die Beklagte den Anspruch aus Anlaß des Unfalls des Ehemannes der Klägerin vom 24. Oktober 1960 mit der Begründung ab, daß kein Arbeitsunfall im Sinne des Gesetzes vorliege. In der Begründung des Bescheides ist u. a. ausgeführt, der Ehemann der Klägerin sei am 24. Oktober 1960 mit dem Moped auf der Fahrt zwischen B und St tödlich verunglückt. Nach den Angaben der Klägerin solle er sich auf dem Weg zur ärztlichen Untersuchung zum Kreiskrankenhaus N befunden haben. Auf Wegen zu einer Untersuchung oder ärztlichen Behandlung anläßlich eines Arbeitsunfalls bestehe jedoch kein Versicherungsschutz. Im übrigen sei auch nicht erwiesen, daß der Ehemann der Klägerin sich tatsächlich auf dem Wege zu der von der Beklagten veranlaßten Untersuchung befunden habe; denn nach der Auskunft des Dr. M sei er erst für den 24. November 1960 zur Untersuchung vorgeladen gewesen.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben mit dem Antrag, die Beklagte zur Zahlung von Hinterbliebenenrente zu verurteilen. Zur Begründung hat sie u. a. ausgeführt, der erste Unfall sei die Ursache dafür, daß ihr Ehemann sich einer von der Beklagten verursachten Nachuntersuchung stellen mußte. Daß er sich möglicherweise über den Zeitpunkt geirrt habe, spiele keine Rolle.
Das SG hat durch Urteil vom 31. August 1961 die Klage abgewiesen.
Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: Ein Versicherungsschutz für den Weg des Ehemannes der Klägerin ergebe sich weder aus § 542 aF RVO noch aus § 543 aF RVO. Der Weg zur ärztlichen Untersuchung habe zwar mit dem betrieblichen Geschehen insofern im Zusammenhang gestanden, als die Untersuchung wegen eines Arbeitsunfalls erforderlich gewesen sei. Man könne die betrieblichen Belange nicht so weit ausdehnen, daß auch solche Fahrten als geschützte Wege angesehen würden. Es brauche nicht geprüft zu werden, ob der Ehemann der Klägerin für den 24. Oktober oder 24. November zur Untersuchung geladen worden sei oder irrtümlich eine Aufforderung für den 24. Oktober angenommen habe.
Gegen dieses Urteil haben die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin beim LSG Niedersachsen Berufung eingelegt. Sie haben Zeugen dafür angeboten, daß der Ehemann der Klägerin kurz vor Antritt der Fahrt erklärt habe, er sei nach N bestellt worden. Im übrigen sind sie der Auffassung, daß der Weg zum Arzt in einem solchen Fall mit dem Betrieb im engsten Zusammenhang stehe, weil der Sinn des Schutzes für einen Arbeitsunfall ua in der Erhaltung der Arbeitskraft bestehe.
Das LSG hat die AOK für den Landkreis Ammerland zum Verfahren beigeladen, weil ihre berechtigten Interessen durch die Entscheidung berührt würden.
Das LSG hat durch Urteil vom 2. Juli 1963 die Berufung gegen das Urteil des SG Oldenburg zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
Zur Begründung hat das LSG u. a. ausgeführt: Auf Grund der glaubhaften Angaben der Klägerin sei es hinreichend wahrscheinlich, daß sich der Unfall auf dem Weg zu einer Untersuchung im Krankenhaus N ereignet habe, die auf Veranlassung der Beklagten zwecks Erstattung eines Rentengutachtens erforderlich gewesen sei. Der Entschädigungsanspruch sei bis zum 30. Juni 1963 nach altem Recht, ab 1. Juli 1963 nach dem Recht des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) zu beurteilen. § 543 aF RVO scheide aus, weil es sich nicht um einen Weg von oder zur Arbeitsstätte gehandelt habe. Nach § 542 aF RVO seien zwar auch Wege versichert, die ein Versicherter im Interesse des Betriebes oder im Auftrag des Unternehmens unternehme, abgesehen von dem Fall, daß der Verletzte den Arzt aufsuche, um danach sofort weiterarbeiten zu können, lägen aber Wege des Versicherten zum Arzt grundsätzlich im eigenen Interesse des Verletzten. Auch der Weg zur Untersuchung zwecks Erstattung eines Gutachtens liege nicht im Interesse des Betriebes, sondern ausschließlich im Interesse des Verletzten und des Versicherungsträgers.
Der Unfall sei auch keine mittelbare Folge des Arbeitsunfalls vom 5. Juli 1960. Es könne nicht angenommen werden, daß irgendwelche Folgen des Arbeitsunfalls Ursache des Verkehrsunfalls gewesen seien. Die Beobachtungen der Zeugen ließen den Schluß zu, daß der Ehemann der Klägerin entweder von einem plötzlichen Unwohlsein befallen oder über das plötzliche Herannahen des Lkws erschreckt gewesen sei. Ein solcher Unfall hätte auch jedem anderen Verkehrsteilnehmer zustoßen können (BSG 1, 254). Der Umstand, daß der Ehemann der Klägerin den Weg auf Veranlassung der Beklagten zwecks Klärung des Entschädigungsanspruchs unternommen habe, sei nicht geeignet, um den Verkehrsunfall als mittelbare Folge des Arbeitsunfalls werten zu können.
Die Klägerin habe auch keinen Entschädigungsanspruch nach neuem Recht. § 555 RVO i. d. F. des UVNG trete erst am 1. Juli 1963 in Kraft, d. h., erst von diesem Zeitpunkt an gelte als Folge des Arbeitsunfalls auch ein Unfall auf dem Weg zum Arzt zur Untersuchung wegen eines Arbeitsunfalls. Nur wenn ein solcher Unfall auf dem Weg zum Arzt sich nach dem 30. Juni 1963 ereigne, würde er also als Folge des Arbeitsunfalls entschädigt. Hier hätten sich sowohl der Arbeitsunfall als auch die mittelbare Folge, der Unfall auf dem Wege zur Untersuchung, vor dem 1. Juli 1963 ereignet.
Das Urteil ist den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 6. August 1963 zugestellt worden. Sie haben am 9. August 1963 Revision eingelegt und sie nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 6. November 1963 an diesem Tage begründet.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren;
hilfsweise beantragt sie,
ihr Hinterbliebenenrente vom 1. Juli 1963 ab zu gewähren.
Zur Begründung der Revision führt die Klägerin u. a. aus: Es bestehe vom Gesetzeswortlaut her keine Notwendigkeit, § 555 nF RVO einschränkend auszulegen, wie es das LSG getan habe. Im Falle des § 555 nF RVO sei der den Entschädigungsanspruch auslösende Tatbestand der "Zweitunfall" als Folge des "Erstunfalls". Da Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG bestimme, daß § 555 nF RVO auch für Arbeitsunfälle gelte, die sich vor dem 1. Juli 1963 ereignet hätten, sei darunter zwanglos der (Zweit-) Unfall des Versicherten vom 24. Oktober 1960 zu verstehen. Es entspreche auch dem Sinn des Gesetzes, im Interesse einer gleichmäßigen Behandlung aller Unfallverletzten das neue Leistungsrecht nicht nur für künftige Arbeitsunfälle, sondern auch für Unfälle vor dem Inkrafttreten des UVNG gelten zu lassen. Die soziale Tendenz des Gesetzes würde willkürlich eingeschränkt, wenn man aus dem Gebrauch des Wortlauts "Arbeitsunfall" in Art. 4 § 2 UVNG schließen wolle, daß darunter nur der sog. Erstunfall zu verstehen sei. Denn dann würden alle "Zweitunfälle" von der Entschädigung ausgeschlossen bleiben, die nach der bisherigen Rechtsprechung nicht gem. § 542 aF RVO entschädigt worden seien, denen aber gerade die Rechtswohltat der Rückwirkung zugute kommen solle. Bei der einschränkenden Auslegung hätte es der Übergangsvorschrift nicht bedurft, weil sich schon aus einer vernünftigen Gesetzesauslegung ergebe, daß es im Rahmen der Rückwirkung auf den Zeitpunkt des "Erstunfalls" überhaupt nicht ankommen könne. Der Klaganspruch sei deshalb in jedem Falle für die Zeit vom 1. Juli 1963 ab begründet.
Der Klaganspruch sei jedoch bereits bei extensiver Auslegung des § 542 aF RVO gerechtfertigt. Gegenüber dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. März 1956 - 2 RU 52/54 - habe schon Baresel (BABl 1957 S. 105) dargetan, daß eine abweichende rechtliche Beurteilung denkbar sei, wenn die rein persönlichen Belange des Unfallverletzten beim Aufsuchen des Arztes hinter den Anliegen der Allgemeinheit erheblich zurücktreten. Diese Auffassung werde auch von Lauterbach für die Fälle vertreten, in denen der Verletzte auf Anweisung des Versicherungsträgers zum Arzt gehen müsse (Anm. 3 I u zu § 542 aF, Anm. 66 zu § 548 nF RVO). Die Interessenlage sei hier anders als in den Fällen, in denen der Versicherte aus eigenem Antrieb zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt einen ihm genehmen Arzt aufsuche. In Fällen wie dem vorliegenden walte das ausschließliche Interesse des Versicherungsträgers ob, der dem Vorletzten letztlich im Allgemeininteresse eine bestimmte Verhaltensweise vorschreibe. Selbstverständlich bestehe kein Versicherungsschutz für alle anläßlich eines Arbeitsunfalls erforderlich werdenden Wege, wohl aber für solche, die im Rahmen des § 555 nF RVO liegen, weil hier für die Zurücklegung des Weges und die dadurch geschaffene Gefahrenlage die spezielle Weisung des Versicherungsträgers entscheidend sei, der sich der Versicherte nicht entziehen könne. Es entspreche der Gerechtigkeit, daß in diesen Fällen die Allgemeinheit für die Folgen des Unfalls eintrete, auch wenn dieser sich nicht unmittelbar im Unternehmen ereignet habe. Dieser stehe aber mit der versicherten Tätigkeit in unlösbarem Zusammenhang.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung führt sie u. a. aus, das angefochtene Urteil treffe zum Nachteil der Beklagten in tatsächlicher Hinsicht in einem entscheidenden Funkt nicht zu, das LSG hätte die Feststellung, daß der Ehemann der Klägerin sich auf dem Weg zu einer Untersuchung in N ereignet habe, nicht treffen dürfen. Es habe damit gegen § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen. Die Beklagte habe den Gutachtensauftrag am 21. Oktober 1960 zur Post gegeben, wie sich aus Bl. 34 Rückseite ihrer Akten ergebe. Dieser Tag sei ein Freitag gewesen, die Paketsendung mit den Akten hätte bestenfalls am Sonnabend, dem 22. Oktober 1960, im Krankenhaus eintreffen können. Es sei völlig unwahrscheinlich, daß das Krankenhaus noch am gleichen Sonnabend den Untersuchungstermin auf den 24. Oktober 1960 festgesetzt und die Bestellkarte weggeschickt hätte. Erst recht sei es unwahrscheinlich, daß bei solch eiligem Vorgehen die Bestellkarte bereits am Montag (24. Oktober 1960) in die Hände des Ehemannes der Klägerin gelangt sei. Eine einfache Nachprüfung durch Anfrage bei der Post hätte ergeben, daß ein an einem Freitag in Hannover zur Post gegebenes Aktenpaket keinesfalls schon am folgenden Sonnabend beim Kreiskrankenhaus in Nordenham eintreffen könnte. Wenn die Beklagte diese Feststellung auch nicht innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist im Wege einer Anschlußrevision gerügt habe, so erscheine die Unrichtigkeit der Feststellung doch derart auf der Hand zu liegen, daß sie auch ohne Rüge kaum zur Grundlage der Entscheidung des Senats gemacht werden könne.
Selbst wenn man aber von der Unterstellung des LSG ausgehe, treffe die Verneinung des Unfallversicherungsschutzes zu. Ein Versicherter müsse aus Anlaß einer Arbeitsunfähigkeit eine Vielzahl von Wegen zurücklegen. Diese stünden auch dann mit der eigentlichen Betriebstätigkeit nicht in Zusammenhang, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen sei. In § 555 nF RVO habe der Gesetzgeber nicht etwa eine von Rechtsprechung und Rechtslehre geschaffene Rechtsübung nachträglich sanktioniert. Die gelegentlich vertretenen abweichenden Auffassungen hätten sich nicht durchsetzen können.
Zur Frage der Rückwirkung des § 555 nF RVO vertritt die Beklagte mit sehr ausführlichen Darlegungen die Auffassung, daß die Fiktion, ein Unfall auf dem Wege zum Arzt sei eine mittelbare Folge des Arbeitsunfalls, der das Aufsuchen des Arztes notwendig gemacht habe, nur auf derartige Wegeunfälle angewendet werden könne, die sich nach dem Inkrafttreten des UVNG ereignet haben. Die von der Rückwirkungsklausel erfaßten Vorschriften setzen nach Auffassung der Beklagten voraus, daß die besonderen Leistungsvoraussetzungen nach dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten sind oder zumindest in diesem Zeitpunkt in Gestalt eines Dauerzustandes fortbestanden haben.
Die beigeladene AOK beantragt,
die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Beklagte zur Leistung zu verurteilen.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Der Senat brauchte nicht zu entscheiden, ob die von der Beklagten gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG erhobene Verfahrensrüge zulässig ist. Selbst wenn man mit dem LSG davon ausgeht, daß der Ehemann der Klägerin sich auf dem Weg zum Kreiskrankenhaus in N befand, entspricht die Auffassung des LSG, daß er auf diesem Weg weder nach § 543 noch nach § 542 der RVO idF vor dem UVNG (vom 30. April 1963 BGBl I S. 241) unter Versicherungsschutz gestanden habe, der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. BSG 23, 139 mit weiteren Nachweisen).
Die Anwendung des § 543 RVO aF scheidet deshalb aus, weil die Arbeitsstätte weder Ziel noch Ausgangspunkt des Weges war, auf dem der Ehemann der Klägerin verunglückt ist. Vor allem aber fehlt es an einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Aufsuchen des Krankenhauses und der versicherten Arbeitstätigkeit des Ehemannes der Klägerin. Es reicht hierfür nicht aus, daß ein Arbeitsunfall der Anlaß zur Nachuntersuchung im Krankenhaus war und daß das Unternehmen auch ein eigenes Interesse an einer ordnungsmäßigen Durchführung des Feststellungsverfahrens und insbesondere an der ärztlichen Betreuung der bei der Arbeit Verletzten hat. Gegenüber diesen Umständen steht vielmehr das eigene Interesse des Verletzten am Feststellungsverfahren und an der ärztlichen Beratung und Überwachung als rechtlich allein wesentlich im Vordergrund. Besondere Umstände, aus denen sich ein rechtlich wesentliches Interesse des Unternehmens daran ergeben könnte, daß der Ehemann der Klägerin am Unfalltage das Kreiskrankenhaus in N aufsuchte, liegen nicht vor. Das LSG hat den Weg zum Krankenhaus deshalb ohne Rechtsirrtum dem unversicherten persönlichen Lebensbereich des Ehemannes der Klägerin zugerechnet.
Der Unfall auf diesem Weg ist auch nach dem bis zum Inkrafttreten des UVNG geltenden Recht keine - mittelbare Folge des Arbeitsunfalls vom 5. Juli 1960. Auch hierfür genügt es nicht, daß dieser Arbeitsunfall der Anlaß für die Nachuntersuchung gewesen ist. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, besteht kein Anhalt dafür, daß Folgen des Arbeitsunfalls eine der Ursachen für das Unfallereignis am 24. Oktober 1960 oder für die Schwere seiner Auswirkungen gewesen sind (vgl. z. B. BSG 1, 254, 256).
Der erkennende Senat stimmt mit dem LSG auch darin überein, daß § 555 RVO i. d. F. des Art. 1 UVNG auf den Unfall des Ehemannes der Klägerin vom 24. Oktober 1960 nicht anwendbar ist. In dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber nunmehr bestimmt, daß u. a. Unfälle auf dem Weg zu einer wegen eines Arbeitsunfalls angeordneten ärztlichen Nachuntersuchung als Folge dieses Arbeitsunfalls zu gelten haben. Wie der Senat im Urteil vom 30. Juni 1965 (2 RU 175/63 - BSG 23, 139) mit ausführlicher Begründung dargelegt hat, ist § 555 RVO nF jedoch nicht anwendbar, wenn der Unfall auf dem Wege zur ärztlichen Nachuntersuchung sich, wie im vorliegenden Fall, vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet hat.
Entsprechend einem nicht nur im Sozialversicherungsrecht geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß "Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchbegründend sind, aber bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen, von der Rechtsänderung nicht erfaßt werden, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinne nach seinen Geltungsbereich auf diese Sachverhalte erstreckt" (vgl. die Nachweise in BSG 23, 139, 140), gilt das neue Recht des UVNG grundsätzlich nur für Arbeitsunfälle, die sich nach seinem Inkrafttreten ereignen (Art. 4 § 1 UVNG). Das steht auch mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes nicht in Widerspruch.
Jedoch hat der Gesetzgeber in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG die Geltung des neuen Rechts in beschränktem Umfang auch auf Unfälle ausgedehnt, die sich vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet haben. Wie der Senat in dem in BSG 23, 139 veröffentlichten Urteil näher dargelegt hat, sind die in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG in einer Rückwirkungsvorschrift zusammengefaßten Vorschriften so verschiedenartig, daß ihre rückwirkende Anwendung nicht einheitlichen Regeln folgen kann. Bei der Mehrzahl dieser Vorschriften hat die Rückwirkung zur Folge, daß beim Inkrafttreten des UVNG laufende Leistungen an das neue günstigere Leistungsrecht angepaßt werden. Durch diese Übergangsregelung wird verhindert, daß die Versicherungsträger nicht nur bei der Neufeststellung alter Leistungen, sondern auch bei der Gewährung neuer Leistungen (z. B. Abfindung, Witwenrente) je nach dem Zeitpunkt des Arbeitsunfalls verschiedenes Recht anwenden müßten. Die Überleitung in das durch das UVNG geschaffene neue Recht setzt jedoch voraus, daß der vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfall in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirkt; und § 555 RVO nF gehört zu den - verhältnismäßig wenigen - der in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG zusammengefaßten Vorschriften, die nur dann einen Anspruch begründen, wenn außer dem Arbeitsunfall noch ein neues zusätzliches Tatbestandsmerkmal erfüllt ist. Der Unfall im Sinne des § 555 RVO nF gilt nicht als Arbeitsunfall im Sinne des § 548 RVO nF, sondern als - weitere - Folge des bereits vorangegangenen Arbeitsunfalls. Hat sich ein solcher als Folge eines noch weiter zurückliegenden Arbeitsunfalls geltender Unfall bereits vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet, so handelt es sich dabei um ein abgeschlossen in der Vergangenheit liegendes Ereignis, das als solches nicht in den Geltungsbereich des neuen Rechts hinein fortwirkt. Wie der Senat in dem bereits angeführten Urteil näher dargelegt hat, enthält die Entstehungsgeschichte des UVNG keine ausreichenden Hinweise dafür, daß der Gesetzgeber entgegen der bisherigen Gesetzgebungspraxis die in der Übergangsvorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG zusammengefaßten Vorschriften ohne jede zeitliche Begrenzung rückwirkend auch auf in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Vorgänge anwenden wollte. Der Senat hat sich deshalb der in Rechtsprechung und Schrifttum überwiegend vertretenen Ansicht angeschlossen, daß § 555 RVO nF zwar grundsätzlich auch für Arbeitsunfälle vor dem 1. Juli 1963 gilt, jedoch nur dann anwendbar ist, wenn die besonderen Tatbestände dieser Vorschrift nach dem 30. Juni 1963 erfüllt worden sind. An dieser Voraussetzung fehlt es im vorliegenden Fall, da der Unfall des Ehemannes der Klägerin auf dem Weg zur ärztlichen Untersuchung sich vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet hat.
Da das LSG somit die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Oldenburg ohne Rechtsirrtum zurückgewiesen hat, ist die Revision der Klägerin unbegründet und war zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.
Fundstellen