Leitsatz (redaktionell)
Liegt für die Folgen eines Arbeitsunfalls (Erstunfall) eine meßbare Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht mehr vor, kann der für einen späteren eingetretenen weiteren Unfall (Zweitunfall) festgesetzte Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht unter Hinweis auf den Erstunfall heraufgesetzt werden.
Normenkette
RVO § 559a Abs. 3 Fassung: 1939-02-17
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Februar 1967 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf die Gewährung einer sogenannten Kleinrente hat (§ 581 Abs. 3 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Der Kläger hatte sich am 10. Juli 1957 bei der Arbeit einen Handwurzelbruch an der rechten Hand zugezogen. Für die Folgen dieses Unfalls hatte ihm die Beklagte eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. bewilligt. Diese Rente wurde durch Bescheid vom 28. Januar 1958 entzogen. Zur Begründung dieser Maßnahme ist in dem Bescheid ausgeführt, daß sich die Beweglichkeit des rechten Handgelenks gebessert habe und die unfallbedingte MdE nur noch 10 v.H. betrage. Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Am 14. Juli 1962 erlitt der Kläger einen weiteren Arbeitsunfall. Für die Folgen dieses Unfalls bezieht er seit dem 13. Januar 1963 Rente von der Papiermacher-Berufsgenossenschaft (EG). Daraufhin beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung Unfalls vom 10 Juli 1957. Die Beklagte holte hierauf ein Untersuchungsgutachten von Dr. F. vom 11. Oktober 1963 ein. Danach bestehen als Folgen des früheren Unfalles Belastungsbeschwerden im rechten Handgelenk, die eine MdE um 10 v.H. verursachen; eine Besserung gegenüber dem Jahre 1958 sei nicht eingetreten. Es liege vielmehr eine Änderung insofern vor, als sich an der Stelle der früheren Knochenverletzung über der Streckseite der Handwurzelknochen eine deutlich sichtbare Knochenvorwölbung gebildet habe, wodurch die subjektiven Beschwerden ihre Erklärung fänden. Die MdE von 10 v.H. bestehe weiterhin und habe auch am 14. Juli 1962 in dieser Höhe bestanden. Die Beklagte ließ hierauf den Kläger in der Unfallklinik des Friederikenstiftes Hannover von Prof.Dr. D. und Oberarzt Dr. G. begutachten. Diese Sachverständigen verneinen eine Funktionsbehinderung des rechten Handgelenks und halten keine meßbare MdE nach dem Unfall vom 10. Juli 1957 mehr für vorhanden.
Durch Bescheid vom 21. Januar 1964 lehnte daraufhin die Beklagte den Antrag des Klägers auf die Gewährung der Rente ab.
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben mit dem Antrag, die Beklagte zu verurteilen, ihm aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom Jahre 1957 eine Rente von 10 v.H. der Vollrente vom 13. Januar 1963 an zu gewähren. Er hält die Frage der MdE wegen der bisherigen uneinheitlichen Beurteilung durch die ärztlichen Sachverständigen für klärungsbedürftig.
Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat ein chirurgisches Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. W. vom 26. August 1964 eingeholt. Danach ist die Funktion der rechten Hand nicht beeinträchtigt; es bestehe auch keine eindeutige Verschmächtigung der Muskulatur des rechten Armes, die auf eine mindere Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand hinweise. Seit dem 1. März 1958 ist nach der Meinung des Sachverständigen keine durch die Folgen des Unfalles vom 10. Juli 1957 bedingte wesentliche MdE mehr vorhanden.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem SG ein ärztliches Gutachten des Facharztes für Röntgendiagnostik und Strahlenheilkunde Dr. H. vom 8. Dezember 1965 überreicht; dieser setzt sich mit den vorliegenden Gutachten auseinander und gibt zu bedenken, daß es sich nicht allein um einen normal verheilten Bruch, sondern darüber hinaus auch um eine Verrenkung mit Bänderschädigung und nicht in idealer Reposition verheilter Lage handele"; die MdE wird auf 15 v.H. geschätzt. In dieser Verhandlung ist als Sachverständiger Kreisobermedizinalrat Dr. H. gehört worden. Er ist der Ansicht, daß die Restbeschwerden, über die im Jahre 1958 geklagt worden sei, behoben seien.
Das SG hat die Klage abgewiesen: Es hält für ausschlaggebend, daß der Entziehungsbescheid vom 28. Januar 1958 bindend festgestellt habe, der Kläger sei durch Unfallfolgen noch um 10 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Der Rentenanspruch sei aber gleichwohl unbegründet, da sich nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten der Zustand, der für die Beurteilung im Zeitpunkt des Bescheides vom 28. Januar 1958 maßgebend gewesen sei, wesentlich gebessert habe.
Die Berufung des Klägers hiergegen ist durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG) vom 22. Februar 1967 zurückgewiesen worden. Zur Begründung ist u.a. ausgeführt: Der Klaganspruch sei nach § 581 Abs. 3 RVO nur begründet, wenn der Kläger bei Eintritt seines Unfalls vom 14. Juli 1962 noch durch Folgen des Unfalls vom 10. Juli 1957 um mindestens 10 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert gewesen sei. Diese Voraussetzung sei entgegen der Ansicht des SG nicht ohne weiteres deshalb gegeben, weil in dem bindend gewordenen Entziehungsbescheid vom 28. Januar 1958 die Höhe der MdE mit 10 v.H. bezeichnet worden sei. Schon aus dem 3. Grundsatz der Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA) vom 5. April 1959 zum Recht der kleinen Renten (AN 1939 S. IV 190 Nr. 5286 = EuM 44, 257) ergebe sich, daß nicht der früher einmal festgestellte, sondern der zur Zeit noch bestehende Grad der MdE bei der Zusammenzählung der Hundertsätze der durch die einzelnen Unfälle hervorgerufenen MdE zu berücksichtigen sei. In den Fällen der Kleinrente komme es für die Feststellung der noch verbliebenen MdE nicht auf die Feststellung im Zeitpunkt des Entziehungsbescheides, sondern des zweiten Unfalles an, welcher den ersten stütze. Der Nachweis einer wesentlichen Besserung der Unfallfolgen sei hierbei nicht notwendig. Der von der Beklagten vertretenen Ansicht, daß durch die Folgen des Unfalls vom 10. Juli 1957 der Kläger nicht um wenigstens 10 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt sei, werde auf Grund des Ergebnisses der Beweiserhebungen beigetreten. Dem erstinstanzlichen Urteil sei daher im Ergebnis zu zustimmen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat gegen das ihm am 10. März 1967 zugestellte Urteil am 22. März 1967 Revision eingelegt und diese am 14. April 1967 wie folgt begründet: Entscheidend sei allein, ob durch Folgen des ersten Unfalls zur Zeit des zweiten keine meßbare MdE des Klägers mehr vorhanden gewesen sei. Die dies bejahende Feststellung des LSG beruhe auf einem nicht ausreichend geklärten Sachverhalt. Insoweit werde gerügt: Sämtliche Sachverständigen hätten sich nicht eingehend genug mit den Röntgenaufnahmen befaßt; es habe nicht eindeutig geklärt werden können, ob eine Absprengung vom Os capitatum oder Os triquetrum stattgefunden habe. Dies sei aber für die Beurteilung der Bewegungsfähigkeit der Hand von großer Bedeutung. Außerdem seien die Gutachten des Prof. Dr. D. und Dr. G. sowie des Dr. H. nicht auf das Gutachten des Dr. H. eingegangen, obwohl dazu Anlaß bestanden habe; Dr. W. habe ein Ganglion festgestellt, ohne daß dazu in dem Gutachten des Friederikenstiftes ein Wort bemerkt sei.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des SG Braunschweig vom 17. Dezember 1965 sowie des Bescheides der Beklagten vom 21. Januar 1964 festzustellen, daß die Gesundheitsstörung "Ganglion an der Streckseite des rechten Handgelenkes mit Belastungsbeschwerden" Folge des Unfalls vom 10. Juli 1957 ist, und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 13. Januar 1963 Unfallrente in Höhe von 10 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie macht geltend, die Revision beanstande die Feststellungen des angefochtenen Urteils zum Grade der MdE zu Unrecht; die ärztlichen Gutachten seien vom LSG zutreffend gewürdigt worden und die auf ihnen beruhenden Feststellungen könnten nicht durch Verfahrensrügen wirksam angegriffen werden.
II
Die Revision ist zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Der Kläger leitet seinen Anspruch auf Gewährung der Rente nach einer MdE von 10 v. H. für Folgen seines Arbeitsunfalls vom 10. Juli 1957 aus dem sogenannten Recht der kleinen Renten her. Das LSG hat den Rechtsstreit nicht nach § 559 a RVO aF, sondern nach dem seit dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) geltenden § 581 Abs. 3 RVO entschieden. Es hat dabei stillschweigend angenommen, daß diese Vorschrift gemäß Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG anwendbar sei, obwohl der Unfall schon vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten war. Ob dies zutrifft oder einer Anwendung der angeführten Übergangsvorschrift der Umstand entgegensteht, daß der zweite (stützende) Unfall vom 14. Juli 1962 auch schon vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten war (vgl. die in BSG 23, 139 ff entwickelten Grundsätze zu der Übergangsvorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG), kann ungeprüft bleiben, weil hinsichtlich der im vorliegenden Fall zu entscheidenden Rechtsfragen die neue Vorschrift gegenüber den Auslegungsgrundsätzen, die in der Rechtsprechung zu § 559 a Abs. 3 RVO aF entwickelt Lauterbach, UV 3. Aufl., S. 474 Anm. 13, 14), keine abweichende Regelung gebracht hat. Durch die Fassung des § 581 Abs. 3 RVO ist nur klargestellt worden, daß wie nach BSG 12, 63, 64 vorher schon, auch für einen früheren Unfall die kleine Rente zu gewähren ist und daß, wie nach Nr. 3 der "Grundsätze zum Recht der kleinen Renten", welche das RVA in der Entscheidung Nr. 5286 (AN 1939, 190 = EuM 44, 258) aufgestellt hat (vgl. Lauterbach, UV, 2. Aufl., S. 107 Anm 10 zu § 559 a RVO aF), ebenfalls vorher schon, die Folgen eines Arbeitsunfalls nur zu berücksichtigen sind, wenn sie die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens 10 v.H. mindern. Das LSG ist sonach zutreffend davon ausgegangen, daß der Anspruch des Klägers auf Rente nach einer MdE von 10 v.H. aus Anlaß des Unfalls vom 10. Juli 1957 nur begründet ist, wenn der Kläger im Zeitpunkt des zweiten Unfalls, nämlich am 14. Juli 1962, durch die Folgen des ersten Unfalls in seiner Erwerbsfähigkeit um mindestens 10 v.H. beeinträchtigt war und geblieben ist. Die in dem letzten Rentenfest Stellungsbescheid, dem Entziehungsbescheid vom 28. Januar 1958, getroffene Feststellung über die Höhe der verbliebenen MdE von 10 v.H. ist bei der Beurteilung der Voraussetzungen des § 539 a Abs. 3 RVO aF (= § 581 Abs. 3 RVO) nicht bindend, (vgl. Brackmann, Handbuch der SozVers 1. bis 6. Aufl., Bd. II S. 576 c). Im übrigen wäre in diesem Bescheid kein der Bindungswirkung zugänglicher Ausspruch enthalten (vgl. BSG 18, 84, 89; Urt. vom 30. Juli 1965 - 2 RU 16/64 Urt. v. 15. Dezember 1966 - 2 RU 128/65 -).
Mit der vorstehend dargelegten Rechtsauffassung stimmt auch die Revision überein. Sie rügt lediglich, das LSG habe den Sachverhalt nicht ausreichend geklärt, um entscheiden zu können, ob der Unfall vom 10. Juli 1957 beim Eintritt des zweiten Unfalls am 14. Juli 1962 und anschließend noch Folgen hinterlassen habe, welche die Annahme einer MdE von mindestens 10 v.H. rechtfertigen. Hiermit greift die Revision nicht die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen im Sinne des § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an. An diese ist das Revisionsgericht daher gebunden. Wohl aber ist zu prüfen, ob auf Grund dieser Feststellungen über die Voraussetzungen des § 581 Abs. 3 RVO bzw. § 559 a Abs. 3 RVO aF abschließend entschieden werden kann. Dies ist nach Auffassung des erkennenden Senats zu bejahen. Entgegen der Ansicht der Revision bedarf es keiner ergänzenden Beweiserhebungen zu den Ermittlungen, auf deren Ergebnis das angefochtene Urteil beruht. Es ist nicht ersichtlich, daß in den diesem Urteil zugrunde liegenden Gutachten die Auswirkungen des Unfalls vom 10. Juli 1957 auf nie Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand des Klägers im Laufe der Zeit bis zum 14. Juli 1962 nicht auf Grund ausreichend erhobener Befunde, insbesondere Röntgenbefunde, beurteilt worden seien. Die Revision trägt selbst nicht vor, was geeignet wäre, zur gegenteiligen Ansicht zu führen. Ihr Hinweis darauf, daß die Beantwortung der Frage, ob "eine Absprengung vom os capitatum oder vom os triquetrum stattgefunden" habe, für die Beurteilung der Bewegungsfähigkeit der Hand von großer Bedeutung sei, läßt unberücksichtigt, daß die Frage der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit in den Gutachten eingehend erörtert worden ist. Soweit die Revision beanstandet, die Gutachten des Prof. Dr. D. und Dr. G. sowie des Dr. H. seien nicht auf das Gutachten des Dr. H. eingegangen, trifft dies hinsichtlich des Gutachtens von Dr. H. nicht zu. Das andere Gutachten ist schon im Verwaltungsverfahren erstattet worden, während sich Dr. H. erst im Klageverfahren geäußert hat. Das weitere Vorbringen der Revision, in dem Gutachten des Prof. Dr. D. und Dr. G. sei kein Wort zu dem von Dr. W. festgestellten Ganglion bemerkt, läßt nicht erkennen, inwiefern diese Tatsache für die Ermittlung des Grades der MdE zur streitigen Zeit von erheblicher Bedeutung sein soll. Soweit auf die- Berufungsbegründung des Klägers Bezug genommen wird, erschöpfen sich jene Darlegungen in einer Beanstandung der fachärztlichen Beurteilung der Unfallfolgen durch die gehörten Sachverständigen, ohne daß erhebliche neue tatsächliche Gesichtspunkte geltend gemacht worden wären, welche dem LSG hätten Veranlassung geben müssen, weiteren Sachverständigenbeweis zu erheben.
Da nach alledem keine Aufklärungslücke ersichtlich ist, reichen die Feststellungen, nach denen der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit durch die Folgen des Unfalls vom 10. Juli 1957 am 14. Juli 1962 nicht mehr um wenigstens 10 v.E. gemindert war und seitdem auch nicht gemindert ist, aus, um den Rechtsstreit abschließend zu entscheiden. Das LSG hat zu Recht angenommen, daß die vom Kläger begehrte Rente nach einer MdE von 10 v.H. nicht begründet sei.
Die Revision war somit zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen