Leitsatz (redaktionell)
1. Durch ein vor dem 1950-10-01 ergangenes den Versorgungsanspruch nach dem damals geltenden Versorgungsrecht rechtskräftig verneinendes Urteil ist nicht entschieden, ob der Versorgungsanspruch nach dem BVG begründet ist (vergleiche BSG 1956-09-04 10 RV 70/54 = BSGE 3, 251, 257 und BSG 1959-10-13 11/10 RV 63/57 = BSGE 10, 251).
2. Der früheren Entscheidung kann eine Rechtsverbindlichkeit nur im Rahmen des BVG § 85 zukommen; es macht dabei keinen Unterschied, ob der Ursachenzusammenhang bejaht oder verneint ist.
3. Die in BVG § 85 ausgesprochene Bindung findet ihre Grenze in dem auch vor Inkrafttreten des KOV-VfG § 40 im Versorgungsrecht geltenden Grundsatz, daß die Versorgungsbehörde jederzeit zugunsten des Berechtigten einen Bescheid erteilen und in diesem auch den Ursachenzusammenhang ohne Rücksicht auf die frühere Entscheidung beurteilen kann; dies gilt auch wenn die frühere den Ursachenzusammenhang verneinende Verwaltungsentscheidung durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist.
4. Wird in einem Bescheid nach dem BVG der Rentenantrag unter Berufung auf die Rechtsverbindlichkeit eines vor dem 1950-10-01 erlassenen Bescheides zur Frage des ursächlichen Zusammenhanges (BVG § 85) abgelehnt, versagt der Widerspruchsbescheid die Rente aber erst nach neuer sachlicher Prüfung des Ursachenzusammenhanges, dann handelt es sich um einen - wenn auch im Verhältnis zu dem vor dem 1950-10-01 erlassenen im Verfügungssatz gleichlautenden - neuen Bescheid (vergleiche BSG 1959-10-13 11/8 RV 49/57 = BSGE 10, 248 und BSG 1959-12-16 9 RV 394/57 = BSGE 11, 194).
Normenkette
BVG § 85 Fassung: 1950-12-20; KOVVfG § 40 Fassung: 1955-05-02
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 10. Januar 1957 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Am ... 1943 starb der Vater der Klägerin als Obergefreiter in einem Lazarett. Als Todesursache wurde bei der Obduktion eine Drucklähmung des Atemzentrums festgestellt, die durch eine nach Meinung der Ärzte anlagebedingte Gehirngeschwulst ausgelöst worden war.
Die Mutter der Klägerin, deren Ehe mit dem Verstorbenen 1939 geschieden worden war, reichte dem Versorgungsamt (VersorgA.) 1946 einen Fragebogen für die Witwen- und Waisenversorgung ein. Sie erhielt von der Außenstelle der Landesversicherungsanstalt (LVA.), der damaligen Versorgungsbehörde, den Bescheid, daß die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente aus der Invaliden-, Angestelltenversicherung zur Zeit nicht gegeben seien. Im Anschluß hieran teilte die LVA. am 29. Februar 1947 mit, der Tod des Verstorbenen gehe auf eine Drucklähmung des Atemzentrums zurück, die nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Wehrdienst stehe. Die Mutter der Klägerin legte Berufung ein und wiederholte den Antrag auf Waisenrente. Das Oberversicherungsamt (OVA.) S wies mit Urteil vom 22. Juli 1947 die Berufung mit der Begründung zurück, der Mutter der Klägerin stehe ein "Witwengeld" aus der Angestelltenversicherung nicht zu, da ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Leiden des Verstorbenen und dem Wehrdienst nicht bestehe.
1953 beantragte die Klägerin Waisenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Der Antrag wurde durch Bescheid des VersorgA. vom 8. Oktober 1953 abgelehnt, da die Entscheidung vom 29. Februar 1947 über den ursächlichen Zusammenhang auch nach dem BVG rechtsverbindlich sei. Der während des Widerspruchsverfahrens gehörte Neurologe Dr. Z verneinte wiederum einen Zusammenhang zwischen dem Wehrdienst und der Hirngeschwulst. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) wies den Widerspruch mit Bescheid vom 29. Mai 1954 zurück. Es führte aus, daß nach dem neurologischen Gutachten keine Veranlassung bestehe, von der Auffassung des Pathologischen Instituts im Obduktionsbericht abzuweichen. Die Rechtsverbindlichkeit der früheren Entscheidung wurde nicht mehr erwähnt. Das Sozialgericht (SG.) hörte den Facharzt für Chirurgie Dr. E als Sachverständigen. Es wies die Klage mit der Begründung ab, das LVersorgA. habe im Widerspruchsbescheid nicht auf die Rechtsverbindlichkeit der Entscheidung des OVA. vom 22. Juli 1947 verzichten wollen. Der angefochtene Bescheid sei auch sachlich richtig. Das Landessozialgericht (LSG.) ließ den Bruder des Verstorbenen als Zeugen durch das Amtsgericht Eutin vernehmen und hörte gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Professor Dr. D als Sachverständigen. Der Zeuge bekundete, sein Bruder habe ihm erzählt, er sei 1943 bei S verwundet worden und habe später bei seiner Einheit auch noch einen Unfall als Kraftfahrer erlitten. Der Sachverständige verneinte den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Leiden des Verstorbenen und dem Wehrdienst, da Hirngeschwülste der bei dem Verstorbenen festgestellten Art anlagebedingt seien. Eine Verletzung, die Entstehung oder Wachstum der Geschwulst ausgelöst haben könnte, liege nicht vor. Der Unfall 1943 könne nicht als Ursache, sondern nur als erste Folge der Geschwulst angesehen werden, weil deren Entwicklung schon im Kindesalter beginne. Das LSG. wies die Berufung mit Urteil vom 10. Januar 1957 zurück und ließ die Revision zu. Es führte aus, die Rechtskraft der Entscheidung des OVA. vom 22. Juli 1947 stehe der Klage nicht entgegen, denn die Wirkung der Rechtskraft versage nach Aufhebung der in der Entscheidung angewandten Gesetze jedenfalls gegenüber später - nach neuem Recht - erlassenen Verwaltungsakten. Auch aus § 85 Satz 1 BVG folge keine Bindung an die frühere Entscheidung, die das OVA. nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 11 und somit nicht nach "bisherigen" versorgungsrechtlichen Vorschriften entschieden habe. Bisherige Vorschriften seien nur am 30. September 1950 noch geltende Versorgungsvorschriften, nicht frühere Bestimmungen. Ein Versorgungsanspruch der Klägerin sei nicht gegeben, es sei unwahrscheinlich, daß der Tod ihres Vaters mit dem Wehrdienst im ursächlichen Zusammenhang stehe. Die Entwicklung der Gehirngeschwulst reiche bis in das Kindesalter zurück, sie habe sich durch den Wehrdienst auch nicht verschlimmert. Eine Schädelverletzung sei bei der Obduktion nicht festgestellt worden und der Unfall 1943 sei nicht Ursache, sondern wahrscheinlich bereits Folge der Hirnerkrankung gewesen.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung der §§ 103 und 128 SGG sowie des § 1 BVG in Verbindung mit § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG. Das LSG. habe seiner Aufklärungspflicht nicht genügt, weil es den Bruder des Verstorbenen nur durch das Amtsgericht Eutin habe vernehmen lassen und die Beteiligten dadurch gehindert gewesen seien, den Zeugen durch Fragen zu präziseren Angaben - insbesondere über die Kopfverletzung des Verstorbenen - zu veranlassen. Das LSG. habe auch versäumt, Professor Dr. D zur Auswirkung der Kopfverletzung auf das Leiden des Verstorbenen zu hören. Schließlich sei der Begriff der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 BVG und damit der ursächliche Zusammenhang vom LSG. verkannt worden. Wegen der für die Beschädigten bestehenden Beweisschwierigkeiten müsse der Kausalitätsbegriff so weit ausgelegt werden, daß er schon durch die objektive Vermutung eines Zusammenhangs erfüllt werde. Für diese Vermutung genüge es, wenn der Tod während des Wehrdienstes eingetreten sei, denn dann spreche der Beweis des ersten Anscheins für einen Zusammenhang mit dem Wehrdienst.
Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, ihr ab 1. Juli 1953 Halbwaisenrente nach dem BVG zu zahlen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist daher zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 und 166 SGG).
Sachlich ist sie nicht begründet.
Gegenstand der Klage ist der Bescheid des Beklagten vom 8. Oktober 1953 in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 1954 erhalten hat (§ 95 SGG). Während der Bescheid vom 8. Oktober 1953 den Rentenantrag der Klägerin unter Berufung auf die Rechtsverbindlichkeit des Bescheides vom 28. Februar 1947 zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs (§ 85 BVG) ablehnte, versagte der Widerspruchsbescheid die Rente erst nach neuer sachlicher Prüfung des Ursachenzusammenhangs. Es handelt sich mithin um eine neue - wenn auch im Verhältnis zum Bescheid vom 28. Februar 1947 im Verfügungssatz gleichlautende - Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts und damit um einen neuen Verwaltungsakt (BSG. 10 S. 248, 11 S. 194). Am Erlaß dieses neuen Verwaltungsakts war die Versorgungsverwaltung nicht durch das rechtskräftige Urteil des OVA. S vom 22. Juli 1947 gehindert. Mit diesem Urteil war nur entschieden, daß der Klägerin der Anspruch nach dem damals geltenden Versorgungsrecht nicht zustand, nicht aber auch, ob der Versorgungsantrag der Klägerin nach dem BVG begründet war. Die Entscheidung über den Versorgungsanspruch der Klägerin nach dem vor Inkrafttreten des BVG geltenden Recht (SVD Nr. 1, 11, 19 und 24) ist für ihren Antrag nach dem BVG gegenstandslos (BSG. 3 S. 251 (257), 10 S. 251). Eine Rechtsverbindlichkeit könnte ihr nur noch im Rahmen des § 85 Satz 1 BVG zukommen, soweit über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG entschieden war. Es macht dabei keinen Unterschied, ob der Ursachenzusammenhang bejaht oder verneint ist. Das folgt aus § 85 Satz 2 BVG, der überflüssig wäre, wenn die Bindung des Satzes 1 dieser Vorschrift sich nur auf Entscheidungen bezöge, die den Ursachenzusammenhang bejahen. Indessen findet die in § 85 BVG ausgesprochene Bindung ihre Grenze in dem auch vor Inkrafttreten des § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG) (§ 51 a.a.O.: 1.4.55) im Versorgungsrecht geltenden Grundsatz, daß die Versorgungsbehörde jederzeit zugunsten des Berechtigten einen neuen Bescheid erteilen und in diesem auch den Ursachenzusammenhang ohne Rücksicht auf die frühere Entscheidung beurteilen kann. Stand aber der Versorgungsbehörde beim Erlaß des Widerspruchsbescheids vom 29. Mai 1954 dieses Recht zu, so konnte sie es auch ausüben, wenn bereits ein rechtskräftiges Urteil vorlag, das die frühere den Ursachenzusammenhang verneinende Verwaltungsentscheidung bestätigte. Die Verwaltung war demnach nicht gehindert, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen, insofern sie dies zu deren Gunsten tat.
Der Senat ist der Auffassung, daß Zugunstenbescheide vor Inkrafttreten des VerwVG nach denselben Grundsätzen zu beurteilen sind wie Zugunstenbescheide nach § 40 VerwVG. Danach ist es für einen Zugunstenbescheid nicht erforderlich, daß eine Änderung des materiellen Bescheidsinhalts zugunsten des Berechtigten erfolgt. Es genügt, daß eine neue, wenn auch im Verfügungssatz gleichlautende Regelung getroffen wird, die rechtlich als Verwaltungsakt zu werten ist, sofern darin die Belastung gegenüber der früheren Regelung nicht erhöht wird. Der Begriff "zugunsten" ist erfüllt, wenn die neue Regelung sich für den Staatsbürger nicht ungünstiger darstellt als die bisherige (BSG. 10 S. 248, Urteil des erkennenden Senats vom 5.5.1960 - 9 RV 422/56). Das trifft im vorliegenden Fall zu. Der Widerspruchsbescheid lehnt, nunmehr gestützt auf neue ärztliche Begutachtung, den Ursachenzusammenhang ab - ebenso wie der vom OVA. bestätigte Bescheid vom 28. Februar 1947.
Der Beklagte war daher auch durch § 85 Abs. 1 Satz 1 BVG nicht gehindert, über den Anspruch der Klägerin nach sachlicher Prüfung eine neue Regelung zu treffen, die für die Klägerin nicht ungünstiger war als die frühere. Auf die Frage, ob unter bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften im Sinne des § 85 Abs. 1 Satz 1 BVG nur die Vorschriften zu verstehen sind, die bis zum Inkrafttreten des BVG gegolten haben, oder auch diejenigen, die schon vor dem Inkrafttreten des BVG außer Kraft getreten waren, kommt es demnach nicht mehr an. Im übrigen hat das Bundessozialgericht (BSG.) bereits entschieden, daß § 85 Abs. 1 Satz 1 BVG auch anzuwenden ist, wenn nach versorgungsrechtlichen Vorschriften, die bereits vor dem Inkrafttreten des BVG aufgehoben wurden, über den ursächlichen Zusammenhang entschieden worden war, SozR. BVG § 86 Ca 6 Nr. 10 (Ca 7).
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG. setzt eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) voraus, daß der dem LSG. bekannte Sachverhalt vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des Gerichts aus nicht zur Entscheidung ausreichte, sondern zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen (BSG. in SozR. SGG § 103 Bl. Da 2 Nr. 7). Das war nicht der Fall. Aus dem Obduktionsbefund ergab sich kein Anhalt für eine Schädel- und Gehirnverletzung durch Granatsplitter. Deshalb kam es für die Entscheidung nicht mehr darauf an, den Zeugen B zu einer Aussage hierüber zu veranlassen. Auch eine Ergänzung des von Professor Dr. D erstatteten Gutachtens in Bezug auf eine Schädel- oder Gehirnverletzung war nicht geboten, denn der Gutachter hatte erklärt, eine Schädigung im Kriegseinsatz oder die Einwirkung von Strapazen könne auf die Entstehung und auf das Wachstum der Hirngeschwulst keinen Einfluß ausgeübt haben. Da der Tod ärztlicherseits übereinstimmend auf diese Hirngeschwulst zurückgeführt wurde, kam es auf die Feststellung einer Gehirn- und Schädelverletzung durch Kriegseinwirkung nicht mehr an.
Das LSG. hat auch den Begriff der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 BVG nicht verkannt. Der Revision ist zuzugeben, daß oft erhebliche Schwierigkeiten bestehen, nach langer Zeit noch den Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem versorgungsrechtlich geschützten Vorgang nachzuweisen. Deshalb genügt nach § 1 Abs. 3 BVG der Nachweis der Wahrscheinlichkeit. Allein der Umstand, daß der Tod während des Wehrdienstes mit schädigenden Vorgängen eingetreten ist, begründet jedoch noch nicht die Wahrscheinlichkeit, daß er auch im Sinne des § 1 BVG ursächlich zusammenhängt. Andererseits würde die Wahrscheinlichkeit dieses Zusammenhangs auch nicht allein dadurch ausgeschlossen, daß der Tod nach der Entlassung aus dem Wehrdienst eingetreten ist. Der Tod eines Soldaten während des Wehrdienstes ergibt nur einen zeitlichen, nicht auch einen ursächlichen Zusammenhang. Der zeitliche Zusammenhang deutet zwar auf die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs hin; dessen Wahrscheinlichkeit besteht jedoch nicht, wenn festgestellt wird, daß ein ursächlicher Zusammenhang schon medizinisch nicht in Betracht kommt. Im vorliegenden Fall hat das LSG. aber auf Grund der fachärztlichen Gutachten festgestellt, daß das Leiden des Verstorbenen seiner Natur nach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht durch den Wehrdienst verursacht, sondern anlagebedingt sei und bis in die frühe Kindheit zurückreiche. Diese Feststellung hat die Revision nicht zu erschüttern vermocht. Die Revision ist daher unbegründet. Sie war nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen