Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung von Unterhaltsansprüchen auf die wiederaufgelebte Witwenrente
Orientierungssatz
Eine Anrechnung von Unterhaltsansprüchen auf die wiederaufgelebte Witwenrente findet selbst dann statt, wenn die Ehefrau gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann wirksam auf ihren Unterhaltsanspruch verzichtet hat, da dieser Unterhaltsverzicht im Verhältnis zum Rentenversicherungsträger unwirksam ist.
Normenkette
AVG § 68 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 04.10.1963) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 25.05.1960) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. Oktober 1963 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin nach § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) die Zahlung der wiederaufgelebten Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes verlangen kann, nachdem ihre zweite Ehe aus Alleinschuld des zweiten Ehemannes im Oktober 1957 geschieden worden ist.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hatte die Klägerin am Tage der Scheidung in einem gerichtlichen Vergleich auf alle Unterhaltsansprüche gegen den früheren (zweiten) Ehemann verzichtet. Zuvor hatte sich dieser in einem privaten Vergleich verpflichtet, den aus der Ehe hervorgegangenen drei Kindern monatlich 300,- DM Unterhalt zu zahlen.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Zahlung der mit 90,70 DM monatlich errechneten Witwenrente ab, weil der hierauf anzurechnende Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den geschiedenen Mann höher sei als der Rentenbetrag; den Unterhaltsverzicht der Klägerin brauche sie nicht gegen sich gelten zu lassen (Bescheid vom 10. August 1959).
Das Sozialgericht (SG) Hamburg gab der Klage statt (Urteil vom 25. Mai 1960); das LSG Hamburg wies die Klage ab und ließ die Revision zu: Der frühere Ehemann der Klägerin, der zur Zeit der Ehescheidung ein Gehalt von 600,- DM, später von 900,- DM monatlich verdient habe, sei, wenn man von dem gerichtlichen Vergleich absehe, der Klägerin gegenüber zum Unterhalt verpflichtet. Hieran ändere auch nichts die von ihm neu eingegangene Ehe. Trotz des Verzichts der Klägerin müsse der Unterhaltsanspruch auf die wiederaufgelebte Witwenrente angerechnet werden. In Wahrheit habe die Klägerin überhaupt nicht auf den Unterhalt verzichtet, er werde ihr vielmehr tatsächlich in Form einer erhöhten Unterhaltszahlung an die drei Kinder gewährt. Die richtige Aufteilung des Betrages von 300,- DM auf die vier Unterhaltsberechtigten ergebe, daß die Klägerin 120,- DM und jedes der Kinder 60,- DM Unterhalt erhielten. Der Unterhaltsanspruch der Klägerin in Höhe von 120,- DM monatlich übersteige die Witwenrente auch nach der Erhöhung durch die inzwischen ergangenen Rentenanpassungsgesetze (Urteil vom 4. Oktober 1963).
Die Klägerin legte, nachdem ihr vom Senat das Armenrecht bewilligt und ihr jetziger Prozeßbevollmächtigter beigeordnet worden war, Revision ein mit dem Antrag,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zur Gewährung der Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes zu verurteilen;
gleichzeitig beantragte sie, ihr die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisions- und Revisionsbegründungsfristen zu gewähren. Zur Begründung der Revision machte sie geltend, sie habe infolge ihres Unterhaltsverzichts keinen Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann erworben. Es liege ein echter Verzicht vor, der sich zum Beispiel beim Wegfall eines oder mehrerer Kinder praktisch auswirke. Sie habe mit dem Verzicht im Vertrauen auf das Wiederaufleben ihrer Witwenrente einen Versorgungsanspruch erwerben wollen, der ihr ein Unterhaltsminimum gewährleistet hätte. Der frühere Ehemann sei dadurch in keiner Weise auf Kosten der Versichertengemeinschaft begünstigt worden. Bei dem vom LSG festgestellten Einkommen von 600,- DM monatlich brutto habe er nach Abzug der Sozialabgaben und der Unterhaltsbeträge für die drei Kinder nur noch über 260,- bis 270,- DM für den eigenen Lebensunterhalt verfügt, dieser Betrag liege nur geringfügig über dem zur Bestreitung seines eigenen notwendigen Unterhalts erforderlichen Betrag (230,- DM). Ohne den Verzicht hätte die Klägerin für den eigenen Unterhalt und den der Kinder von ihm auch nicht mehr als 300,- DM erhalten, im Ergebnis dann aber den Unterhaltsanspruch auf Kosten der gemeinschaftlichen Kinder erlangt. Der Verzicht fördere die Wohlfahrt der Klägerin und der Kinder. Im Hinblick auf die besondere Interessenlage müsse der Versicherungsträger hier den Unterhaltsverzicht als wirksam beachten.
Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Der Klägerin ist zunächst die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen; sie war durch ihre Armut gehindert, Prozeßhandlungen, nämlich die Einlegung und die Begründung der Revision, innerhalb der gesetzlichen Fristen (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG) vorzunehmen; sie hat die versäumten Prozeßhandlungen auch rechtzeitig nach dem Wegfall des Hindernisses nachgeholt. Ihre danach zulässige Revision ist aber unbegründet. Die Annahme des LSG, daß sich die Klägerin auf die wiederaufgelebte Witwenrente den höheren Unterhaltsanspruch anrechnen lassen müsse, den sie infolge der Auflösung der zweiten Ehe ohne den Verzicht erworben haben würde, ist nicht zu beanstanden.
Nach § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG (= § 1291 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) ist auf die wiederaufgelebte Witwenrente ein von der Witwe infolge Auflösung der (zweiten) Ehe erworbener neuer Unterhaltsanspruch anzurechnen. Die Rechtsprechung hat sich schon wiederholt mit der Frage befaßt, in welcher Weise der Anspruch auf Zahlung der wiederaufgelebten Witwenrente davon berührt wird, daß die Witwe vor Eintritt der Rechtskraft des Scheidungsurteils ihrem zweiten Ehemann gegenüber auf den Unterhaltsanspruch verzichtet hat. Sie ist dabei von der Erwägung ausgegangen, daß zwischen den von der Witwe infolge Auflösung der Ehe neu erworbenen Ansprüchen und der wiederaufgelebten Witwenrente eine bestimmte Rangfolge besteht, nach der die Witwenrente gegenüber dem Unterhaltsanspruch aus der zweiten Ehe subsidiär ist. Die vom Gesetz mit dem Wiederaufleben der Witwenrente beabsichtigte Gewährleistung einer "Mindestversorgung" der Witwe soll in der Weise verwirklicht werden, daß hierfür in erster Linie die infolge der Ehescheidung neu erworbenen Ansprüche herangezogen werden; erst wenn die Versorgung hieraus hinter der Versorgung aus der ersten Ehe zurückbleibt, soll die wiederaufgelebte Witwenrente die entstandene Versorgungslücke füllen (vgl. Urteil des Senats vom 23. Mai 1963 - BSG 19, 153). Nach dieser Zweckbestimmung des Gesetzes erscheint es aber gerechtfertigt, daß auf die wiederaufgelebte Witwenrente auch ein solcher "Unterhaltsanspruch" anzurechnen ist, der wegen des Verzichts der Witwe zwar nicht erworben wurde, ohne den Verzicht aber erworben worden wäre. Dem Sinngehalt des § 68 Abs. 2 AVG widerspräche es nämlich, wenn man zuließe, daß die Witwe durch den Verzicht auf den Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann erst eine Versorgungslücke schafft und damit die im Gesetz vorgesehene Rangfolge umstößt. Auch der Umstand, daß § 72 des Ehegesetzes (EheG) Unterhaltsvereinbarungen (Unterhaltsverzichte vor Rechtskraft der Ehescheidung) im allgemeinen zuläßt, ändert daran nichts. Durch die Nichtbeachtung solcher Unterhaltsabkommen bei der Anwendung des § 68 Abs. 2 AVG wird der Witwe weder die Möglichkeit genommen, zur Erleichterung ihrer Ehescheidung eine Unterhaltsvereinbarung zu treffen, noch wird deren Rechtswirksamkeit im Verhältnis zwischen den Eheleuten angetastet, Jedoch kann sich die Witwe dem Träger der Rentenversicherung gegenüber nicht auf den Verzicht berufen und damit die Anrechnung des sonst entstandenen Unterhaltsanspruchs auf die Witwenrente abwenden (vgl. Urteile vom 2. September 1964 - 11/1 RA 189/61 - BSG 21, 279; vom 24. März 1965 - 1 RA 225/61 -; vom 30. Juni 1966 - 4 RJ 471/64 -).
Nach den zutreffenden Feststellungen des LSG hätte die Klägerin infolge der Auflösung ihrer zweiten Ehe - ohne den von ihr erklärten Verzicht - einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann erworben. Dies wird auch von der Revision nicht bestritten. Auch gegen die Annahme des LSG, daß dieser Unterhaltsanspruch nach den beiderseitigen Einkommens- und Vermögensverhältnissen der geschiedenen Eheleute in Höhe von 120,- DM monatlich entstanden wäre (§§ 58 und 59 EheG), bestehen keine rechtlichen Bedenken. Es kommt nach dem Gesetz nicht darauf an, welche Gründe die Klägerin zu der Verzichterklärung bewogen haben. Entgegen der Meinung der Revision brauchte die Beklagte den Verzicht der Klägerin bei der Festsetzung der in Höhe von 90,70 DM monatlich wiederaufgelebten Witwenrente nicht zu berücksichtigen, sie war vielmehr nach § 68 Abs. 2 AVG befugt, auf die Rente den höheren Unterhaltsanspruch anzurechnen, den die Klägerin ohne den Verzicht erworben haben würde mit der Folge, daß die Zahlung der (niedrigeren) Rente an die Klägerin entfiel. An diesem Ergebnis hat sich auch durch die Rentenerhöhungen nichts geändert, welche die in der Zeit bis zum angefochtenen Urteil ergangenen Rentenanpassungsgesetze gebracht haben. Erst recht kann die Beklagte den Unterhaltsanspruch auf die Witwenrente anrechnen, wenn es zutrifft, daß die Klägerin - wie das LSG meint - in Wirklichkeit überhaupt nicht auf den Unterhaltsanspruch verzichtet hat (und den ihr zustehenden Unterhalt in Form der überhöhten Unterhaltszahlungen an die Kinder sogar tatsächlich erhält), wenn sie also die Verzichtserklärung im Scheidungstermin im Einverständnis mit ihrem zweiten Ehemann etwa nur zum Schein abgegeben hätte. Darauf, ob dies der Fall war oder ob der Verzicht der Klägerin, wie diese in der Revisionsbegründung geltend macht, ernstgemeint gewesen ist, kommt es indessen für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht an, weil auch der ernstgemeinte Verzicht der Anrechnung des ohne ihn erworbenen Unterhaltsanspruchs auf die wiederaufgelebte Witwenrente hier nicht entgegensteht.
Die Revision der Klägerin erweist sich danach als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen