Entscheidungsstichwort (Thema)
Zustellung. Zustellungsmängel. Prozeßurteil. Sachurteil
Orientierungssatz
1. Vor der Herstellung diplomatischer Beziehungen zu Polen waren Zustellungen in dieses Gebiet durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes ungesetzlich, auch dann, wenn es sich um polnisch besetztes früheres deutsches Gebiet handelte (vgl BSG 1973-01-31 9 RV 706/71 = SozR Nr 1 zu § 14 VwZG).
2. Das Verfahren des LSG, das durch Prozeßurteil statt durch Sachurteil entschieden hat, leidet an einem wesentlichen Mangel.
Normenkette
VwZG § 14 Abs. 1, § 4
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.11.1972) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. November 1972 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der im ehemaligen Oberschlesien wohnhafte Kläger beantragte im Mai 1968 Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz - BVG - (Teilversorgung). Diesen Antrag lehnte die Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 7. Oktober 1969 mit der Begründung ab, Schädigungsfolgen i. S. des BVG seien nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festzustellen. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 27. April 1970). Das Sozialgericht (SG) wies die Klage mit der gleichen Begründung ab (Urteil vom 10. Januar 1972). Dieses Urteil wurde am 2. Februar 1972 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben und dem Kläger laut Rückschein am 8. Februar 1972 ausgehändigt. Mit Schreiben vom 1. Mai 1972, eingegangen beim Landessozialgericht (LSG) am 12. Mai 1972, legte der Kläger hiergegen Berufung ein, die das LSG als unzulässig verwarf (Urteil vom 15. November 1972). Es führte aus: Das Urteil des SG sei ordnungsgemäß zugestellt worden. Die Rechtsmittelfrist von 3 Monaten sei am 8. Mai 1972 abgelaufen gewesen. Die erst am 12. Mai 1972 eingegangene Berufung sei verspätet. Wiedereinsetzungsgründe seien nicht ersichtlich. Dieses Urteil wurde am 1. Dezember 1972 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben und dem Kläger laut Rückschein am 8. Dezember 1972 ausgehändigt. Auf Antrag des Klägers bestellte das Bundessozialgericht (BSG) mit Beschluß vom 1. März 1973 als besonderen Vertreter nach § 72 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für den Kläger H. B vom Reichsbund der Kriegs- und Zivilbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen. Dieser legte mit Schreiben vom 6. März 1973 Revision ein mit dem Antrag, die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Er führte aus: Die Zustellung des Urteils des SG mit eingeschriebenem Brief an den im Ausland wohnhaften Kläger sei ungesetzlich gewesen. Das Urteil hätte öffentlich zugestellt werden müssen (§ 15 Abs. 1 Buchst. c Verwaltungszustellungsgesetz - VwZG -), wobei nach § 19 Abs. 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum VwZG dem Empfänger die öffentliche Zustellung und der Inhalt des zuzustellenden Schriftstücks hätte mitgeteilt werden sollen und seit dem Änderungsgesetz vom 19. Mai 1972 habe mitgeteilt werden müssen. Die am 12. Mai 1972 beim LSG eingegangene Berufung des Klägers sei deshalb nicht verspätet gewesen. Das LSG hätte sie nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern in der Sache entscheiden müssen. Auch die Revision gegen das Urteil des LSG sei fristgerecht eingelegt und begründet worden, weil dem Kläger auch das Berufungsurteil nicht entsprechend § 15 VwZG zugestellt worden sei.
Der Beklagte hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und auch begründet worden. Die Revisionsfrist ist gewahrt, weil sie durch die vom LSG gewählte Art der Zustellung aus denselben Gründen nicht in Lauf gesetzt worden ist, wie dies für die Berufungsfrist noch darzulegen ist. Die Revision erweist sich auch als statthaft i. S. von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, da der Kläger mit Recht rügt, das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern eine Sachentscheidung treffen müssen (BSG 1, 283, 287, SozR Nr. 21 zu § 162 SGG).
Wie der erkennende Senat bereits in den Urteilen vom 31. Januar 1973 (SozR Nr. 1 zu § 14 VwZG) und vom 23. Mai 1973 - 9 RV 436/72 und - 9 RV 26/72 - entschieden hat, waren auch vor der Herstellung diplomatischer Beziehungen zu Polen Zustellungen in dieses Gebiet durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes (§ 4 VwZG) ungesetzlich, auch dann, wenn es sich um polnisch besetztes früheres deutsches Gebiet handelte. Das in § 2 Abs. 2 VwZG vorgesehene Wahlrecht wird durch die zwingende Vorschrift des § 14 VwZG eingeschränkt. Da vor der Errichtung der deutschen Botschaft in Warschau am 14. September 1972 (Bundesanzeiger Nr. 176 vom 19. September 1972, S. 5) eine Zustellung gem. § 14 Abs. 1 VwZG in Polen unausführbar war, konnte sie nur im Wege der öffentlichen Zustellung (§ 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG) erfolgen, um zu einem eindeutig bestimmbaren, für den Lauf der Rechtsmittelfrist maßgebenden Zustellungsdatum zu führen. Für die nähere Begründung wird auf die genannten Urteile verwiesen. Die fehlerhafte Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils hat die Berufungsfrist nicht in Lauf setzen können. Da somit die Berufung des Klägers beim LSG nicht verspätet eingegangen ist, hätte das LSG über sie sachlich entscheiden müssen. Das Verfahren des LSG, das durch Prozeßurteil entschieden hat, leidet an einem wesentlichen Mangel. Da nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels zu einem für den Kläger günstigen Urteil gelangt wäre, war sein Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG), damit es die für eine Sachentscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nachholen kann.
Ihm bleibt auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen