Entscheidungsstichwort (Thema)
Zustellung. Zustellungsmängel. Prozeßurteil. Sachurteil
Orientierungssatz
1. Vor der Herstellung diplomatischer Beziehungen zu Polen waren Zustellungen in dieses Gebiet durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes ungesetzlich, selbst dann, wenn es sich um früheres deutsches Gebiet handelte (vgl BSG 1973-01-31 9 RV 706/71 = SozR Nr 1 zu § 14 VwZG).
2. Entscheidet das Gericht durch Prozeßurteil statt durch Sachurteil, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel.
Normenkette
VwZG § 14 Abs. 1, § 4
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.05.1972) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Mai 1972 wird aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Gründe
I
Der in Polen wohnhafte Kläger beantragte im August 1966 Teilversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Versorgungsamt lehnte den Antrag mit Bescheid vom 12. September 1968 mangels einer rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ab. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Bescheid vom 17. September 1969, Urteil vom 18. Oktober 1971). Das Urteil des Sozialgerichts (SG) wurde am 5. November 1971 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben und dem Kläger laut Rückschein am 9. November 1971 ausgehändigt. Mit Schreiben vom 21. Januar 1972, eingegangen beim Landessozialgericht (LSG) am 24. Februar 1972, legte der Kläger gegen dieses Urteil Berufung ein; auf Rückfrage teilte er mit, er habe das Berufungsschreiben 20 Tage vor Fristablauf abgesandt.
Das LSG verwarf die Berufung des Klägers als unzulässig (Urteil vom 17. Mai 1972): Die Zustellung des Urteils gelte gemäß § 63 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) als am 9. November 1971 erfolgt, so daß die Berufungsfrist von drei Monaten am 9. Februar 1972 abgelaufen sei. Die laut Poststempel erst am 15. Februar 1972 - also nach Ablauf der Berufungsfrist - zur Post gegebene und am 24. Februar 1972 beim LSG eingegangene Berufung sei verspätet. Wiedereinsetzungsgründe seien nicht ersichtlich. Dieses Urteil wurde am 29. Mai 1972 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben und dem Kläger laut Rückschein am 2. Juni 1972 ausgehändigt.
Auf seinen rechtzeitig gestellten Antrag wurde dem Kläger das Armenrecht für das Revisionsverfahren bewilligt. Der ihm beigeordnete Prozeßbevollmächtigte legte am 9. Februar 1973 zugleich mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisions- und der Revisionsbegründungsfrist Revision ein mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Zur Begründung führte er aus, bei Eingang der Berufung des Klägers sei die Berufungsfrist noch nicht gelaufen, weil die Zustellung des Urteils des SG durch Einschreiben mit Rückschein nicht Rechtens gewesen sei. Die Zustellung hätte nach § 15 VwZG vorgenommen werden müssen.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Er hat erklärt, daß er von einer Stellungnahme absehe.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und auch begründet worden. Da die Übersendung des Urteils des LSG mit eingeschriebenem Brief gegen Rückschein die Revisionsfrist ebenso nicht in Lauf gesetzt hat, wie dies für die Berufungsfrist noch darzulegen ist, bedarf es einer Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag des Klägers nicht. Die Revision ist auch statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, weil der Kläger zutreffend einen Mangel im Verfahren des LSG rügt; das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern eine Sachentscheidung treffen müssen (BSG 1, 283, 287; SozR Nr. 21 zu § 162 SGG).
Wie der erkennende Senat bereits in den Urteilen vom 31. Januar 1973 (SozR Nr. 1 zu § 14 VwZG) und vom 23. Mai 1973 - 9 RV 436/72 - und - 9 RV 26/72 - entschieden hat, waren auch vor der Herstellung diplomatischer Beziehungen zu Polen Zustellungen in dieses Gebiet durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes (§ 4 VwZG) ungesetzlich, selbst dann, wenn es sich um früheres deutsches Gebiet handelte. Auf die dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers und dem Beklagten bekannte Begründung dieser Urteile wird verwiesen. Da das Urteil des SG dem Kläger unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften (§§ 9, 14, 15 VwZG) zugegangen ist, ist die Berufungsfrist nicht in Lauf gesetzt worden (§§ 63 Abs. 2, 64 SGG). Die Berufung des Klägers war daher nicht verspätet, das LSG hätte über sie sachlich entscheiden müssen. Da es durch Prozeßurteil entschieden hat, leidet sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG, wenn es die für eine Sachentscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen hätte, zu einem für den Kläger günstigen Urteil gelangt wäre. Deshalb war sein Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Ihm bleibt auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen