Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen besonderen beruflichen Betroffenseins für den Fall, daß der Antrag nach BVG § 30 Abs 2 erst nach dem 1960-06-01 gestellt und abgelehnt worden ist und erst während des sozialgerichtlichen Verfahrens Maßnahmen nach BVG § 26 eingeleitet wurden.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2 Fassung: 1960-06-27, Abs. 6 Fassung: 1960-06-27, § 26 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. Juni 1965 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger ist als Schreiner ausgebildet und war nach einer im Kriege erlittenen Verwundung wegen der dadurch entstandenen Berufsbehinderung als Treppenbauer tätig. Bei ihm wurde 1953 eine Verkürzung des rechten Beines um 3 cm nach in guter Stellung fest verheiltem Unterschenkelschußbruch als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) unter 25 v. H. anerkannt, ein Antrag auf Rente wegen Verschlimmerung des Leidens wurde abgelehnt. Im Januar 1961 beantragte er Neufeststellung des Versorgungsanspruchs wegen ständiger stärkerer Beschwerden im Bein und der hierdurch entstehenden Verdienstausfälle. Das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10. August 1961 ab, da eine wesentliche Änderung der Schädigungsfolgen nicht eingetreten sei; die Beschwerden beruhten auf altersbedingten arthrotischen Veränderungen bzw. angeborener Bindegewebsschwäche. Im Widerspruchsbescheid wurde auch ein besonderes berufliches Betroffensein im Schreinerberuf verneint. Ein im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) von Dr. J eingeholtes Gutachten, in dem eine Umschulung des Klägers angeregt wurde, sowie ein schon im März 1954 gestellter, nicht beschiedener Antrag des Klägers gaben dem VersorgA im August 1962 Anlaß, die Hauptfürsorgestelle um Prüfung und Stellungnahme zu ersuchen, ob arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen nach § 26 BVG möglich und zumutbar seien und ob solche Maßnahmen bereits durchgeführt wurden. Die Prüfung führte zur Anerkennung der Umschulung des Klägers zum technischen Zeichner, die später in eine Umschulung zum Elektromechaniker geändert wurde. Der Kläger unterzog sich deshalb einem Lehrgang beim Berufslehrwerk F, der am 1. April 1963 begann und am 30. September 1965 beendet wurde.

Durch Urteil vom 15. Januar 1964 wies das SG die Klage ab, mit der unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins Rente nach einer MdE von 40 v. H. ab Januar 1961 begehrt worden war. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung durch Urteil vom 30. Juni 1965 zurück. Gemäß § 30 Abs. 6 BVG sei eine höhere MdE nach § 30 Abs. 2 BVG nur zu gewähren, wenn arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen nach § 26 BVG aus vom Beschädigten nicht zu vertretenden Gründen erfolglos geblieben seien oder nicht zum Ausgleich des beruflichen Schadens geführt hätten. Der Kläger befinde sich seit 1. April 1963 in einem Lehrgang zwecks Umschulung zum Elektromechaniker, der am 30. September 1965 ende. Während dieser Zeit könne er eine Höherbewertung der MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG nicht beanspruchen. Der eindeutige Gesetzeswortlaut von § 30 Abs. 6 BVG bedeute, daß berufsfördernde Maßnahmen im Sinne des § 26 BVG vorauszugehen hätten und voll ausgeschöpft sein müßten, bevor eine Höherbewertung der MdE im Hinblick auf den Beruf vorgenommen werden könnte. Diese Auffassung sei in dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 15. Dezember 1961 - 8 RV 1445/59 - vertreten. Auch aus dem Urteil des erkennenden Senats vom 27. November 1964 (SozR Nr. 18 zu § 30 BVG) ergebe sich, daß § 30 Abs. 6 BVG nF unter dem Gesichtspunkt einer vorläufigen Zurückstellung einer Höherbewertung der MdE wegen beruflicher Betroffenheit zu betrachten sei.

Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger als Verfahrensmangel Verletzung des § 123 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Streitig sei die Höherbewertung der MdE ab Januar 1961 wegen besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG idF des 1. und 2. Neuordnungsgesetzes (NOG) gewesen. Das LSG habe über den Anspruch für die Zeit vom 1. Januar 1961 bis zum 31. März 1963 nicht entschieden. Der Kläger habe im Berufungsverfahren zum Ausdruck gebracht, ein besonderes berufliches Betroffensein sei "auch" für die Dauer der Umschulung anzunehmen. Damit sei sein Antrag nicht eingeschränkt worden; im Gegenteil sei damit zum Ausdruck gekommen, daß auch für die Zeit vor dem 1. April 1963 eine Erhöhung der MdE beansprucht werde.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Der gerügte Verfahrensmangel liege nicht vor. Dem angefochtenen Urteil könne nicht entnommen werden, daß die Entscheidung nur für die Zeit vom 1. April 1963 an gelten solle. Die Ausführungen im Urteil über die Unzulässigkeit einer MdE-Erhöhung vor Durchführung berufsfördernder Maßnahmen bezögen sich auch auf die Zeit vor dem 1. April 1963, obgleich besonders nur noch zu einer etwaigen Erhöhung der MdE während der Umschulungszeit Stellung genommen worden sei.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und auch statthaft, da der Kläger mit Recht rügt, das LSG habe nicht in vollem Umfang über den im Berufungsverfahren gestellten Antrag entschieden und dadurch § 123 SGG verletzt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Mit der Klage war der Bescheid vom 10. August 1961 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. November 1961 angefochten, mit dem der Antrag des Klägers vom 24. Januar 1961 auf Höherbewertung der MdE wegen Verschlimmerung und besonderen beruflichen Betroffenseins abgelehnt worden war. Demgemäß hat der Kläger im ersten Rechtszuge beantragt, ihm ab Januar 1961 Rente nach einer MdE um 40 v. H. zu gewähren. Diesen Antrag hat er im Berufungsverfahren nicht eingeschränkt. Wenn er vor dem LSG ohne Angabe eines Zeitpunkts des Beginns der Rente Aufhebung des angefochtenen Bescheides und unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins Verurteilung zur Zahlung von Rente nach einer MdE um 40 v. H. beantragte, so lag darin das Begehren, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides im vollen Umfange zu überprüfen und über den Anspruch vom 1. Januar 1961 an zu entscheiden. Insbesondere lassen auch die Schriftsätze des Klägers vom 31. März 1964 und 30. April 1965 nicht den Schluß zu, daß das Begehren des Klägers auf Ansprüche für die Zeit ab 1. April 1963 eingeschränkt werden sollte, denn dort hatte er ausgeführt, daß zumindest "auch" für die Dauer der Umschulung ein besonderes berufliches Betroffensein anzunehmen sei bzw. daß "auch" für diese Zeit ein Ausgleich nach § 30 Abs. 2 BVG in Frage komme. Das konnte nur bedeuten, daß für die Zeit vorher erst recht der Anspruch als begründet angesehen und deshalb aufrechterhalten wurde. Demgemäß ist im Tatbestand des angefochtenen Urteils hervorgehoben, daß nach Auffassung des Klägers eine Erhöhung der MdE "auch" während des Laufs der berufsfördernden Maßnahmen zu erfolgen habe. Die Ausführungen im Urteil darüber, daß der Kläger während der Umschulung eine Höherbewertung der MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG nicht beanspruchen könne, genügen nicht, um annehmen zu können, das LSG habe auch den Anspruch für die Zeit vor dem 1. April 1963 geprüft und verneint. Daß das LSG die Zeit vom 1. Januar 1961 bis zum 31. März 1963 in die Prüfung einbezogen habe, kann umso weniger angenommen werden, als es sich auf das Urteil des BSG vom 15. Dezember 1961 - 8 RV 1445/59 - und das Urteil des erkennenden Senats vom 27. November 1964 (BSG in SozR Nr. 18 zu § 30 BVG) berufen hat; denn beide Urteile lassen nicht den Schluß zu, daß vom 1. Juni 1960 bis zum Beginn der Umschulung am 1. April 1963 die Erhöhung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins ausgeschlossen ist. In dem Urteil vom 15. Dezember 1961 wurde das besondere berufliche Betroffensein mit einer sich daraus ergebenden Erhöhung der MdE auch für die Zeit nach dem Inkrafttreten des 1. NOG vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) bejaht und hervorgehoben, daß arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen weder durchgeführt noch überhaupt eingeleitet worden seien; demgemäß wurde die Revision des beklagten Landes zurückgewiesen. In dem Urteil ist zwar ausdrücklich festgestellt, daß die Priorität berufsfördernder Maßnahmen vom Gesetzgeber bewußt gewollt sei, daß sich daraus aber nicht ergebe, der Beschädigte wäre von sich aus verpflichtet, arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen zu ergreifen und allein durchzuführen. Nach § 26 Abs. 1 und 2 BVG habe der Beschädigte vielmehr Anspruch auf alle Maßnahmen, die der Erlangung und Wiedergewinnung der beruflichen Leistungsfähigkeit dienen und ihn befähigen, sich am Arbeitsplatz und im Wettbewerb mit Nichtbeschädigten zu behaupten. Darüber hinaus wurde entgegen der Meinung des damaligen Revisionsklägers die Auffassung des LSG gebilligt, es habe sich auf die Feststellung beschränken dürfen, daß eine Umschulung nicht erfolgt sei. Dem Urteil vom 15. Dezember 1961 läßt sich somit nur entnehmen, daß § 30 Abs. 6 BVG idF des 1. NOG (nF) einer Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG nicht entgegensteht, solange Maßnahmen nach § 26 BVG nicht getroffen sind. Auch das Urteil des erkennenden Senats vom 27. November 1964 bietet für eine Auffassung des LSG, daß vom Inkrafttreten des 1. NOG, d. h. vom 1. Juni 1960 an, vor der Durchführung arbeits- und berufsfördernder Maßnahmen gemäß § 26 BVG kein Raum für eine Erhöhung der Rente nach § 30 Abs. 2 BVG sei, keine Stütze; denn in diesem Urteil blieb unentschieden, wie § 30 Abs. 6 BVG idF des 1. NOG (nF) in denjenigen Fällen auszulegen ist, in denen nur für die Zeit nach dem Inkrafttreten des 1. NOG eine Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit vorzunehmen war (aaO Ca 16). Aus den anschließenden Ausführungen dieses Urteils, § 30 Abs. 6 BVG nF dürfte unter dem Gesichtspunkt der in den §§ 26 ff BVG geregelten Kriegsopferfürsorge, nämlich einer nur vorläufigen Zurückstellung einer Höherbewertung der MdE wegen beruflicher Betroffenheit zu betrachten sein, ergab sich nicht, daß in jedem Fall für die Zeit vor der Umschulung eine Erhöhung der MdE wegen beruflichen Betroffenseins ausgeschlossen ist. Die Ausführungen in diesem Urteil legten vielmehr den Schluß nahe, daß das berufliche Betroffensein bei der Bemessung der MdE auch dann berücksichtigt werden dürfe, wenn der Anspruch für einen Zeitraum nach dem Inkrafttreten des 1. NOG bis zum Beginn der Umschulung geltend gemacht, aber zunächst abgelehnt wurde und daß - nach Abschluß der Berufsumschulung - eine Erhöhung der MdE sogar für die Zeit der Umschulung in Betracht komme. Das LSG hätte somit ausführen und klarstellen müssen, warum § 30 Abs. 6 BVG einer Erhöhung der MdE auch für die Zeit vor dem 1. April 1963 entgegenstand. Da dies nicht geschehen ist, kann dem Urteil des LSG jedenfalls nicht zweifelsfrei entnommen werden, daß es auch über den Anspruch vom 1. Januar 1961 bis zum 31. März 1963 entscheiden wollte.

Der gerügte Verfahrensmangel macht die Revision statthaft. Da nicht ausgeschlossen ist, daß das LSG ohne diesen Mangel zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, zumal auch der Beklagte nicht mehr bestritten hatte, daß im vorliegenden Falle die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BVG medizinisch gegeben sein dürften, war das angefochtene Urteil aufzuheben. Das LSG hat die zur Prüfung des besonderen beruflichen Betroffenseins erforderlichen Feststellungen nicht getroffen; sie können im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden. Deshalb war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG wird, nachdem die Umschulung des Klägers abgeschlossen ist, nicht nur über die Bemessung der MdE vom 1. Januar 1961 bis zum 31. März 1963, sondern auch für die Zeit danach zu entscheiden haben. Der Senat ist der Auffassung, daß, solange die Durchführung von Maßnahmen nach § 26 BVG unterbleibt, weil die Versorgungsbehörde ein berufliches Betroffensein verneint, eine Erhöhung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins für die Zeit vor der Umschulung nicht unter Hinweis auf § 30 Abs. 6 BVG idF des 1. und 2. NOG abgelehnt werden kann. § 30 Abs. 6 BVG nF räumt zwar der Berufsumschulung Vorrang vor einer höheren Bemessung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG ein. Deshalb ist die Höherbewertung der MdE davon abhängig gemacht worden, daß die Maßnahmen nach § 26 BVG zu keinem Ausgleich des beruflichen Schadens geführt haben. Die Priorität der Förderungsmaßnahmen nach § 26 BVG bedeutet aber nur, daß der Beschädigte nicht mit einer Rente abgefunden werden soll, wo ihm durch eine Umschulung geholfen werden könnte, und daß er keine höhere Rente erhalten soll, solange das Ergebnis der Umschulung noch aussteht. § 30 Abs. 6 BVG nF setzt nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift voraus, daß die Versorgungsverwaltung die Möglichkeit und Zumutbarkeit von Maßnahmen nach § 26 BVG überhaupt erkannt und die hiernach gebotenen Maßnahmen eingeleitet hat. An dieser Voraussetzung fehlt es jedenfalls, solange die Versorgungsverwaltung eine berufliche Betroffenheit verneint. § 30 Abs. 6 BVG nF regelt sonach nur die Fälle, in denen die Versorgungsbehörde zu dem Ergebnis gelangt ist, daß der Antragsteller durch die Schädigungsfolgen besonders beruflich betroffen ist. Erst dann kann sie arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen in Erwägung ziehen bzw. einleiten lassen. Diese Vorschrift kann deshalb nicht auf Zeiten bezogen werden, für die die Versorgungsverwaltung das berufliche Betroffensein verneint hat. Sie hat nur die Bedeutung, daß bei Anerkennung eines beruflichen Betroffenseins die Entscheidung über die Höherbewertung der MdE zurückgestellt werden soll. Die Förderungsmaßnahmen sollen die durch § 30 Abs. 2 BVG nF bindend vorgeschriebene Erhöhung der Rente nicht ersetzen, sondern sie stellen eine ergänzende Hilfe dar. Der Gesetzgeber wollte nur vermeiden, daß durch eine vorzeitige Erhöhung der MdE das Interesse des Beschädigten an der Umschulung beseitigt und damit der Erfolg dieser Maßnahme in Frage gestellt würde. Stellt sich jedoch erst im Lauf des gerichtlichen Verfahrens heraus, daß der Beklagte zu Unrecht die berufliche Betroffenheit verneint hat und sind arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen aus diesem Grunde erst erhebliche Zeit nach Antragstellung eingeleitet worden, so ist die MdE zumindest bis zum Zeitpunkt der Einleitung der Umschulungsmaßnahmen zu erhöhen.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2347504

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