Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 20.10.1992) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Oktober 1992 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
II
Der Kläger begehrt die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der 1935 geborene Kläger wohnt in Kroatien. Er hat keine Berufsausbildung durchlaufen. In der Bundesrepublik Deutschland war er von 1962 bis 1984 als Bauarbeiter, zuletzt als Baufachwerker, versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend war er bis Oktober 1986 arbeitsunfähig krank. Im Februar 1988 beantragte der Kläger Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte nach medizinischer Sachaufklärung ab, weil der Kläger noch vollschichtig leichte Arbeiten verrichten könne und bei ihm damit angesichts seines beruflichen Werdeganges keine BU und so auch nicht EU vorliege (Bescheid vom 27. April 1989).
Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 1989, Urteil des Sozialgerichts Landshut ≪SG≫ vom 29. November 1990, Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 20. Oktober 1992). Die Entscheidung des LSG ist im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Der Kläger sei nicht berufs- und damit auch nicht erwerbsunfähig. Die bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen minderten sein Leistungsvermögen auch in ihrer Gesamtheit nicht so gravierend, daß ihm nicht noch die Verrichtung leichter und einfacher Tätigkeiten überwiegend in geschlossenen Räumen ohne stärkere Einwirkungen von Kälte, Nässe und Zugluft, Staub und Rauch, mit zeitweisem Positionswechsel und der Möglichkeit, kleinere Zwischenmahlzeiten einzunehmen, acht Stunden täglich zumutbar wäre. Nicht mehr möglich seien dem Kläger das Heben und Tragen von Lasten, häufigeres und längeres Treppensteigen, Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und an gefährdenden Maschinen, Feinarbeiten, Arbeiten im Akkord und im Schichtdienst sowie solche mit höherer Druck- und Stauchbelastung der Wirbelsäule. Mit diesem Leistungsvermögen sei der Kläger noch in der Lage, mehr als die gesetzliche Lohnhälfte iS des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu verdienen, auch wenn er als Bauhelfer nicht mehr eingesetzt werden könne.
Nach dem von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Mehrstufenschema komme für den Kläger, der keinen Beruf erlernt habe, hinsichtlich seiner in der Bundesrepublik Deutschland verrichteten Tätigkeit und der damit verbundenen tariflichen Einstufung allenfalls eine Zuordnung zum unteren Bereich der „Angelernten” in Betracht; damit sei er auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, die er unter Berücksichtigung seines ärztlicherseits festgestellten Leistungsvermögens noch verrichten könne. Nach den Angaben der Firma M. … A. … AG sei der Kläger als Bauwerker (Bauhilfsarbeiter) eingestellt und nach zwölfmonatiger Tätigkeit als Baufachwerker entlohnt worden. Diese Höherstufung könne nicht als Anlernzeit iS des Mehrstufenschemas angesehen werden, weil sie sich aus dem Tarifvertrag ergebe und lediglich an diesen Zeitablauf gebunden sei. Allein deshalb, weil die Arbeitgeberin die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit des Baufachwerkers als angelernte Tätigkeit bezeichnet habe, rechtfertige sich die Zuordnung zum unteren Bereich der „Angelernten”.
Die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit sei nicht erforderlich, weil bei dem Kläger weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen festzustellen seien. Da der Kläger noch vollschichtig tätig sein könne, finde auch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitkräfte offen oder verschlossen sei, keine Anwendung. Dies gelte auch insbesondere deshalb, weil der Kläger in seiner Fähigkeit, einen Arbeitsplatz zu erreichen, nicht eingeschränkt sei und sich in seiner Umstellungsfähigkeit auf andere einfache Tätigkeiten nicht beeinträchtigt zeige. Es seien auch keinerlei Umstände ersichtlich, daß er nur mehr in der Lage wäre, unter betriebsunüblichen Bedingungen zu arbeiten. Es könne unerörtert bleiben, ob sich ein den medizinischen Anforderungen entsprechender Arbeitsplatz vermitteln ließe, weil die Gewährung einer Versichertenrente davon nicht abhängig sei.
Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 1246, 1247 RVO. Das Berufungsgericht habe den Berufsschutz, den er aufgrund seines bisherigen Berufs als Baufachwerker genieße, nicht richtig beurteilt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei ausschlaggebend für den qualitativen Wert einer Tätigkeit iS des Mehrstufenschemas in der Regel deren tarifvertragliche Einstufung. Die Berufsgruppe VI des hier maßgeblichen Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe, in die der Kläger mit seiner Tätigkeit als Baufachwerker eingestuft gewesen sei, sei tariflich direkt unterhalb der Facharbeitergruppe eingeordnet. Der Aufstieg in diese Gruppe sei kein Bewährungsaufstieg, vorausgesetzt hierfür werde vielmehr eine einjährige Einarbeitungszeit; die Tätigkeit als Baufachwerker sei daher nach den Wertungen des Tarifvertrages dem oberen Bereich der Gruppe des Mehrstufenschemas mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters zuzurechnen. Das LSG hätte ihn deshalb nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen dürfen, sondern hätte eine aus den Tätigkeiten für Ungelernte herausgehobene konkrete Verweisungstätigkeit benennen müssen.
Im übrigen sei selbst bei einem Hilfsarbeiter die Bezeichnung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn der Versicherte gesundheitlich stärker oder in spezifischer Weise eingeschränkt sei oder nur unter besonderen unüblichen Arbeitsbedingungen tätig sein könne. Diese Voraussetzungen lägen bei ihm angesichts der mehr als zwanzig verschiedenen Einschränkungen vor „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen”). Tätigkeiten, auf die er zumutbar verwiesen werden könnte, gebe es nicht.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Bayerischen LSG vom 20. Oktober 1992 und des SG Landshut vom 29. November 1990 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. April 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 1989 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm aufgrund seines Antrags vom 22. Februar 1988 Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Da der Kläger als Bauwerker lediglich einfache Bauarbeiten verrichtet habe und seine nach 12 Monate erfolgte Höherstufung zum Baufachwerker nicht aufgrund einer Anlernzeit, sondern lediglich aufgrund des Zeitablaufs erfolgt sei, könne die letzte tarifliche Eingruppierung keinesfalls zu einer Einstufung als Angelernter des oberen Bereichs führen. Damit erübrige sich auch die Benennung von konkreten Verweisungstätigkeiten. Eine solche komme auch unter dem Gesichtspunkt einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen nicht in Betracht, da es insoweit nicht auf die Anzahl der qualitativen Leistungseinschränkungen ankomme, sondern auf die dadurch bedingte Unmöglichkeit der Ausnutzung der vorhandenen Arbeitskraft. Der Kläger könne aber noch ohne weiteres leichte Tätigkeiten etwa als einfacher Pförtner, Bürobote oder Tankstellenkassierer verrichten. Im Rahmen der von den Arbeitgebern zugestandenen persönlichen Verteilzeiten sei es auch möglich, kleinere Zwischenmahlzeiten einzunehmen. Dabei handele es sich nicht um betriebsunübliche Bedingungen, nachdem entsprechende Pausenregelungen auch tarifvertraglich vorgesehen seien.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig und im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die berufungsgerichtlichen Feststellungen reichen für die abschließende Beurteilung, ob dem Kläger ein Anspruch auf BU- oder EU-Rente zusteht, nicht aus. Es sind vielmehr ergänzende Feststellungen erforderlich.
Der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen BU oder EU richtet sich noch nach den §§ 1246, 1247 RVO, denn der Rentenantrag ist bereits im Februar 1988 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden und bezieht sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 (§ 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung ≪SGB VI≫; vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).
Rente wegen EU, welche der Kläger in erster Linie begehrt, erhält gemäß § 1247 Abs 1 RVO der Versicherte, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. EU liegt vor, wenn der Versicherte infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl § 1247 Abs 2 RVO).
Dabei ist der Kläger zwar ohne subjektive Zumutbarkeitsbeschränkung (iS eines Berufsschutzes) auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Ob er jedoch mit seinen qualitativen Leistungseinschränkungen – gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt – noch in erforderlichem Umfang erwerbstätig sein kann (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8), vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht zu beurteilen.
Nach der vom Großen Senat (GS) des BSG (vgl den Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr S 10 ff mwN) bestätigten ständigen Rechtsprechung des BSG ist einem Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen seine bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr verrichten kann, bei Verweisung auf das übrige Arbeitsfeld grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen, die er noch auszuüben vermag. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen nicht erforderlich, wenn der Versicherte – wie der Kläger – zwar nicht mehr zu körperlich schweren, aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dann zu machen, wenn bei dem Versicherten eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. In diesem Falle kann nämlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.
Im Hinblick darauf, daß der GS die vom erkennenden Senat angestrebte Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Benennung von ungelernten Verweisungstätigkeiten für erheblich leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherte (vgl die Vorlagebeschlüsse vom 24. November 1994 – 13 RJ 19/93 – ua) auch mit Rücksicht auf zwischenzeitliche gesetzgeberische Maßnahmen (vgl §§ 43, 44 SGB VI in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) abgelehnt hat, kommt den Merkmalen „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” eine besondere Bedeutung zu.
Der dargestellten Systematik entsprechend liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nur dann vor, wenn die Fähigkeit des Versicherten, zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zusätzlich in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Dazu hat nach Auffassung des erkennenden Senats der GS in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 – GS 1 bis 4/95 – hinreichend deutlich gemacht, daß die Frage, ob im konkreten Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung anzunehmen ist, nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere auch der dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderungen, zutreffend beantwortet werden kann (vgl bereits BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81).
Unter dem Begriff „schwere spezifische Leistungsbehinderung” werden vom BSG diejenigen Fälle erfaßt, wo bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hingegen trägt das Merkmal „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” dem Umstand Rechnung, daß auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. Jede qualitative Leistungseinschränkung, zB der Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, versperrt dem Versicherten eine bestimmte Gruppe von Arbeitsplätzen, dh alle Tätigkeiten, bei denen – und sei es auch nur gelegentlich – die nicht mehr mögliche Leistungserbringung gefordert wird. Jede weitere Leistungseinschränkung schließt ihrerseits einen anderen Bereich des Arbeitsmarktes aus, wobei sich diese Bereiche überschneiden, aber auch zu einer größeren Einengung des Arbeitsmarktes addieren können. Mit jeder zusätzlichen Einengung steigt die Unsicherheit, ob in dem verbliebenen Feld noch ohne weiteres Beschäftigungsmöglichkeiten unterstellt werden können. In diesem Sinne kann letztlich auch eine größere Summierung „gewöhnlicher” Leistungseinschränkungen zur Benennungspflicht führen.
„Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Konkretisierung nur schwer zugänglich sind. Denn zum einen sind die verschiedenen Leistungsanforderungen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Arbeitsplätze kaum überschaubar und zudem ständigen Veränderungen unterworfen. Zum anderen können sich qualitative Leistungseinschränkungen je nach ihrer bei einem Versicherten vorliegenden Anzahl, Art und Schwere ganz unterschiedlich auf deren betriebliche Einsetzbarkeit auswirken. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff „leichte Arbeiten”, auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit der Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Nur so erscheint eine „vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe” gewährleistet, wie sie der GS in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 (vgl zB GS 2/95 Umdr S 19) vorausgesetzt hat.
Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Die vom BSG jeweils vorgenommenen Beurteilungen mögen zwar – auch wenn sie weder näher begründet noch berufskundlich oder arbeitswissenschaftlich belegt worden sind – im allgemeinen nachvollziehbar sein, ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen; allenfalls können sie – soweit sie auf aktuellen Erkenntnissen zu den Verhältnissen der Arbeitswelt beruhen – Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen liefern.
Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden. Auch der Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, um so eingehender und konkreter muß das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen.
Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des (noch) unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muß aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben. Zwar wird der Richter in vielen Fällen anhand allgemeinkundiger Tatsachen, seiner Berufserfahrung oder durch Beiziehung von Beweisergebnissen aus anderen Verfahren über eine Beurteilungsgrundlage verfügen, die eine Beweisaufnahme im Einzelfall erübrigt. Wegen der großen Beurteilungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten ist dann regelmäßig eine eingehende Erörterung der Einschätzungen mit den Beteiligten erforderlich. Dort, wo dies nicht ausreicht – was vor allem in Grenzfällen so sein wird –, ist jedoch eine Beweisaufnahme erforderlich, zB durch Anhörung eines Sachverständigen der Arbeitsverwaltung, um aufzuklären, ob noch ein ausreichendes Verweisungsfeld vorliegt oder, falls dies nicht der Fall ist, eine geeignete Tätigkeit konkret benannt werden kann.
Nach diesen Grundsätzen reichen die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht aus, um im vorliegenden Fall eine Pflicht zur Benennung einer Verweisungstätigkeit verneinen zu können. Das LSG hat insoweit lediglich festgestellt, bei dem Kläger lägen weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor. Eine solche pauschale Feststellung reicht jedoch im Hinblick auf den Umfang der Leistungseinschränkungen des Klägers nicht aus.
Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Klägers hat das Berufungsgericht festgestellt, er könne noch leichte und einfache Tätigkeiten überwiegend in geschlossenen Räumen ohne höhere Einwirkungen von Kälte, Nässe und Zugluft, Staub und Rauch, mit zeitweisem Positionswechsel und der Möglichkeit, kleinere Zwischenmahlzeiten einzunehmen, acht Stunden täglich verrichten. Nicht mehr möglich seien dem Kläger das Heben und Tragen von Lasten, häufigeres und längeres Treppensteigen, Arbeiten auf Leitern, Gerüsten und an gefährdenden Maschinen, Feinarbeiten, Arbeiten im Akkord und im Schichtdienst sowie solche mit höherer Druck- und Stauchbelastung der Wirbelsäule.
Diese vom LSG festgestellten Leistungseinschränkungen gehen zum Teil deutlich über den Rahmen hinaus, der ohnehin regelmäßig von körperlich leichten Tätigkeiten eingehalten wird. Dies gilt bereits für die Notwendigkeit der Vermeidung bestimmter äußerer Einwirkungen. Leichte Arbeiten sind grundsätzlich auch bei Kälte, Nässe, Zugluft, Staub und Rauch möglich; ihr Ausschluß bedeutet eine zusätzliche Leistungseinschränkung. Dies gilt auch für den Ausschluß von Arbeiten im Akkord, an gefährdenden Maschinen und von Feinarbeiten; hier wäre zu prüfen, ob nicht körperlich leichte und fachlich einfache Arbeiten, wie sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angeboten werden, häufig einen Einsatz am Fließband oder im Akkord bedingen und eine gewisse Fingerfertigkeit voraussetzen.
Erstaunlich ist aber insbesondere, daß die bei dem Kläger bestehende Notwendigkeit, während der Arbeit kleinere Zwischenmahlzeiten einnehmen zu können, im Berufungsurteil nicht erkennbar berücksichtigt worden ist. Immerhin hat das BSG bereits in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen, daß einem Versicherten, der zusätzliche, in der Arbeitszeitordnung nicht vorgesehene Pausen benötigt, der Arbeitsmarkt verschlossen sein kann, wenn auch in der Praxis Arbeitnehmer zu solchen Bedingungen nicht eingestellt werden (vgl BSG SozR 2200 § 1247 Nr 43 mwN; zuletzt Senatsurteil vom 19. August 1997 – 13 RJ 11/96 –). Der diesbezügliche Tatsachenvortrag der Beklagten im Revisionsverfahren kann vom erkennenden Senat nicht berücksichtigt werden, weil ihm die eigene Tatsachenfeststellung verwehrt ist (vgl § 163 SGG).
Da der erkennende Senat die somit noch erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst nachholen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Kommt das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu dem Ergebnis, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, bleibt weiter zu prüfen, ob für die dann zu benennende Verweisungstätigkeit der Arbeitsmarkt verschlossen ist (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139; Beschluß des GS vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr S 14). Dabei ist insbesondere in Betracht zu ziehen, daß es sich um Schonarbeitsplätze handeln könnte.
Kommt das LSG zu dem Ergebnis, daß der Kläger keinen Anspruch auf EU-Rente hat, wird es bei der Prüfung des mit dem Hilfsantrag geltend gemachten Anspruchs auf Gewährung von BU-Rente noch näher zu untersuchen haben, welche Wertigkeit der bisherige Beruf des Klägers (Baufachwerker) hatte. Auch insoweit reichen die von ihm bisher festgestellten Tatsachen nicht aus. Daß der Kläger diesen Beruf nicht erlernt und ihn sein letzter Arbeitgeber als angelernt bezeichnet hat, läßt nicht von vornherein darauf schließen, daß er als ungelernter oder bestenfalls als angelernter Arbeiter des unteren Bereichs einzustufen ist. Die Ausführungen des LSG lassen nicht erkennen, welchen Tarifvertrag mit welcher zeitlichen Geltung es seiner Beurteilung als „maßgebenden Tarifvertrag” zugrunde gelegt hat und wie dieser Tarifvertrag strukturiert ist, so daß eine Bestimmung der Wertigkeit des bisherigen Berufs des Klägers auf dieser Grundlage nicht möglich ist.
Das LSG wird in seinem abschließenden Urteil auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen