Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang sozialgerichtlicher Aufklärungspflicht
Orientierungssatz
Zum Umfang sozialgerichtlicher Aufklärungspflicht:
Das Gericht verletzt seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu klären, wenn es ohne Anhörung eines Sachverständigen über Fragen entscheidet, für die ihm die Sachkunde fehlt oder bei nicht ausreichenden Gutachten die Anhörung eines weiteren Sachverständigen unterläßt. Das Gericht hat darzutun, daß es über die Sachkunde verfügte, anstelle von Fachärzten schwierige medizinische Fragen selbst zu beantworten.
Normenkette
SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 07.09.1955) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. September 1955 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
J S, der Ehemann der Klägerin, wurde im August 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Im Juni 1950 beantragte er Versorgung wegen der Folgen einer Verwundung durch Granatsplitter. Am 6. Dezember 1950 stellte der Versorgungsarzt außerdem eine Tbc fest. Am 12. Dezember 1950 nahm sich S das Leben. Das Versorgungsamt (VersorgA) erkannte nachträglich Narben hinter dem linken Ohr und am rechten Oberarm nach Verwundung sowie die Tbc als Schädigungsfolgen an und bewilligte S Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. Eine Hirnverletzung wurde nicht festgestellt. Den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenversorgung lehnte das VersorgA durch Bescheid vom 30. Oktober 1951 ab, weil die Selbsttötung nicht mit den anerkannten Leiden zusammenhänge. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) hob durch Urteil vom 7. September 1955 das Urteil des Sozialgerichts (SG) sowie die angefochtenen Bescheide auf und verurteilte den Beklagten, vom 1. Januar 1951 an Witwenrente zu gewähren. Die Klägerin könne Witwenrente nur dann beanspruchen, wenn sich ihr Ehemann in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden oder wesentlich beeinträchtigenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit selbst getötet habe und die Selbsttötung ursächlich mit einer Gesundheitsstörung, zusammenhänge, die als Schädigungsfolge anzuerkennen sei. Entscheidend für den Entschluß zur Selbsttötung sei eine seelische Veranlagung. Je nach dem, ob sie durch Umstände des Kriegsdienstes beeinflußt werde oder nicht, müsse man den ursächlichen Zusammenhang mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anerkennen oder ablehnen. Das gelte auch für die nachwirkenden Einflüsse der Kriegsgefangenschaft. Die Belastungen in der russischen Kriegsgefangenschaft von Dezember 1943 bis August 1947, dazu vielleicht noch die Sorge um den Verlust der Heimat und der alten Arbeitsstätte, hätten S schwer betroffen. Der behandelnde Arzt habe Dystrophie, Bronchitiden, Schmerzen und rheumatische Beschwerden bescheinigt, auch habe S nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft sich anders verhalten als seine Kameraden. Seine Arbeitskameraden hätten von seinem unverträglichen, unausgeglichenen Wesen und seinen unbeständigen Leistungen gesprochen. Nach der Ansicht des Nervenarztes Dr. L könne die Tbc für eine Verschlimmerung des seelischen Zustandes S verantwortlich gemacht werden; die Versorgungsärzte hätten einen Zusammenhang mit Schädigungen im Sinne des BVG jedoch verneint. Soweit die seelische Reaktionsfähigkeit zu beurteilen sei, führe auch das Gutachten des Dr. L nicht weiter und von einer nochmaligen psychiatrischen Begutachtung allein auf Grund der Akten seien neue Ergebnisse nicht zu erwarten. Deshalb müsse das Gericht auf das Gesamtbild der Persönlichkeit S zurückgehen. S sei vor dem Wehrdienst gesund gewesen. Berücksichtige man die außergewöhnlichen Belastungen der Kriegsgefangenschaft, die Anfälle nicht geklärter Art nach der Entlassung und das ungewöhnliche Verhalten seit 1947, so liege wahrscheinlich der äußerst seltene Fall vor, in dem "die plötzliche Erkenntnis der Tbc" S zur Kurzschlußhandlung der Selbsttötung getrieben habe. Dies folge auch daraus, daß die Selbsttötung nur sechs Tage nach der versorgungsärztlichen Untersuchung am 6. Dezember 1950 ausgeführt worden sei. Das Zusammenwirken von Faktoren, die auf den Kriegsdienst oder die Gefangenschaft zurückgingen und den primitiven, labilen Charakter S ungleich schwerer betroffen hätten als verständige, ausgeglichene Menschen sowie die Mitteilung der Tbc, hätten die freie Willensbestimmung beeinträchtigt und S zu der Kurzschlußhandlung, veranlaßt. Das LSG ließ die Revision nicht zu.
Mit der Revision beantragte der Beklagte, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen, hilfsweise die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG habe den Sachverhalt nicht genügend geklärt. Es hätte einen psychiatrischen Sachverständigen hören müssen, zumal es nicht den vorliegenden ärztlichen Gutachten gefolgt sei, sondern von sich aus angenommen habe, die plötzliche Erkenntnis der Tbc habe S zur Selbsttötung getrieben. Das LSG habe weder seine eigene Auffassung an die Stelle der medizinischen Beurteilung setzen noch die Anhörung eines Psychiaters deshalb ablehnen dürfen, weil davon ein für die Frage des Zusammenhangs verwertbares Ergebnis nicht mehr hätte erwartet werden können. Auch die Begriffe der Ursächlichkeit und der Wahrscheinlichkeit seien verkannt. Entscheidend seien nicht Umstände des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft, sondern der primitive und labile Charakter S gewesen. Sein Verhalten sei nicht das Kennzeichen einer späten psychischen Schädigung durch die Kriegsgefangenschaft, sondern einer psychopathischen Persönlichkeit. Die versorgungsärztliche Diagnose der Tbc könne nicht entscheidend gewesen sein, sie hätte auch bei einer anderen Untersuchung bekannt werden können und dieselbe Reaktion erwarten lassen. Das LSG habe auch nicht erörtert, inwieweit das anlagebedingte psychische Leiden zur Selbsttötung beigetragen habe und inwieweit eine Verschlimmerung dieses Leidens durch die Kenntnis von der Tbc bedingt gewesen sei. Nachwirkungen der 1947 beendeten Kriegsgefangenschaft seien für die Selbsttötung im Dezember 1950 nicht verantwortlich. Die Anfälle S seien psychogen, seine Konstitution abnorm gewesen. Eine Verschlimmerung durch die Kriegsgefangenschaft wäre so geringfügig, daß sie nicht als wesentliche Bedingung für die Selbsttötung anzusehen sei. Das LSG habe sonach die §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und außerdem das Gesetz im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG verletzt.
Die Klägerin beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen; hilfsweise sie als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagte hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Die Revision ist daher zulässig. Sie ist auch statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Mit Recht rügt der Beklagte, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel.
Das LSG ist davon ausgegangen, die Witwenrente könne (§ 38 BVG) nur gewährt werden, wenn die Selbsttötung in einem die freie Willensbestimmung beeinträchtigenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit ausgeführt worden ist und in ursächlichem Zusammenhang mit einer Gesundheitsstörung steht, die als Dienstbeschädigung anzuerkennen ist. Das LSG hat beide Voraussetzungen bejaht. Es hat festgestellt, zur Zeit der Selbsttötung sei die freie Willensbestimmung beeinträchtigt gewesen. Es kann dahinstehen, ob dies allein daraus geschlossen werden konnte, daß sich S. von der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft bis zu seinem Tode ungewöhnlich verhalten habe und daß die Selbsttötung als Kurzschlußhandlung bezeichnet worden sei. Jedenfalls genügen die tatsächlichen Feststellungen nicht für die Entscheidung, der Zustand, in dem sich S selbst getötet habe, hänge mit Schädigungen durch den Wehrdienst oder die Kriegsgefangenschaft zusammen. Das LSG hat festgestellt, nachwirkende Einflüsse der Kriegsgefangenschaft, insbesondere die Dystrophie, der allgemein schlechte Gesundheitszustand bei der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, die als nachträgliche Schädigungsfolge anerkannte Tbc und besonders "die plötzliche Erkenntnis" dieses Leidens hätten die seelische Reaktionsfähigkeit und damit die freie Willensbestimmung beeinträchtigt. Die dafür und für den Entschluß zur Selbsttötung wesentlichen Gesundheitsstörungen seien Schädigungsfolgen im Sinne des BVG. Diese Feststellung ist verfahrensrechtlich nicht einwandfrei zustande gekommen. Das LSG hat dabei von sich aus über Fragen entschieden, die im wesentlichen medizinischer Natur sind und zu denen noch medizinische Sachverständige hätten gehört werden müssen. Dazu bestand um so mehr Anlaß, als die Versorgungsärzte zu anderen Ergebnissen gekommen sind und das LSG das Gutachten des Nervenfacharztes Dr. L selbst nicht als ausreichend angesehen hat. Deswegen durfte es sich der Anregung, den medizinischen Sachverhalt weiter zu klären, nicht versagen, zumal es selbst einen besonders schwierigen und äußerst seltenen Fall annahm. Es hätte die medizinische Beurteilung eines Sachverhalts nicht selbst vornehmen dürfen, bei dem es auf die sachkundige Erörterung schwieriger psychischer Fragen durch Fachärzte besonders ankam.
Zwar steht die Anhörung eines Sachverständigen grundsätzlich im Ermessen des Gerichts; es darf jedoch davon nur absehen, wenn es die erforderliche Sachkunde besitzt und darlegt, worauf sie beruht (SozR SGG § 103 Bl. Da 11 Nr. 33). Das Gericht verletzt seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu klären (§ 103 SGG), wenn es ohne Anhörung eines Sachverständigen über Fragen entscheidet, für die ihm die Sachkunde fehlt oder bei nicht ausreichenden Gutachten die Anhörung eines weiteren Sachverständigen unterläßt. Diese Grundsätze hat das LSG nicht beachtet.
Das LSG hatte zu klären, ob S seinen Tod absichtlich oder in einem Zustande herbeigeführt hat, in dem seine freie Willensbestimmung beeinträchtigt gewesen ist, und ob dieser Zustand auf Schädigungen im Sinne des § 1 BVG beruht hat. Diese Frage liegt auf tatsächlichem Gebiet (BSG 1 S. 153). Ihre Beantwortung setzt besondere psychiatrische oder psychologische Kenntnisse und Erfahrungen voraus. Dies gilt erst recht, wenn die Selbsttötung mehr als drei Jahre nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft ausgeführt worden ist, nachdem deren Einfluß längst nachgelassen hat, und wenn Anzeichen vorgelegen haben, die die Annahme eines von Umständen des Wehrdienstes oder der Kriegsgefangenschaft unabhängigen seelischen Leidens nahegelegt haben. Schon deshalb hätte das LSG, wenn es das Gutachten des Dr. L nicht für ausreichend gehalten hat, noch andere Sachverständige hören müssen, auch wenn die nochmalige Begutachtung nur auf Grund der Akten möglich war. Es hat nicht übersehen dürfen, daß Selbsttötungsfälle in der Regel nur an Hand der Akten und nachträglicher Ermittlungen begutachtet werden können; Aufgabe des Gerichts wäre es gewesen, alle insoweit erheblichen Umstände so umfassend wie möglich zu ermitteln und ärztlichen Sachverständigen zu unterbreiten. Das LSG hat ihrer Sachkunde nur nicht entraten können, auch nicht mit der Erwägung, der Richter müsse auf das Gesamtbild der Persönlichkeit zurückgehen, wenn die Psychiater nichts Verwertbares angeben könnten. Es hätte dies wenigstens versuchen müssen. Gerade hier ist es auf die medizinische Beurteilung des Einflusses der psychischen Komponenten im Gesamtbild der Persönlichkeit S auf das Verhalten zur Zeit der Selbsttötung entscheidend angekommen. Dies hätte aber in erster Linie den in solchen Fragen besonders geschulten Fachärzten überlassen werden müssen. Das LSG hat nicht dargetan, daß es die Sachkunde gehabt hätte, auf Grund deren es an Stelle solcher Fachärzte von sich aus nach dem Gesamtbild der Persönlichkeit darüber hätte befinden können, durch welche Umstände hier die freie Willensbestimmung beeinträchtigt gewesen ist und ob diese mit schädigenden Vorgängen im Sinne des BVG zusammenhängen. Es steht nicht einmal fest, daß S vor dem Wehrdienst psychisch völlig gesund gewesen ist. Zwar hat die Klägerin angegeben, ihr Mann sei 1940 völlig normal gewesen. Jedoch hätte gerade sein späteres Verhalten Anlaß sein müssen, durch Zuziehung ärztlicher Sachverständiger auch das frühere Verhalten unter Berücksichtigung des Gesamtbildes der Persönlichkeit zu würdigen, insbesondere nachdem eine Hirnverletzung nicht hat festgestellt werden können. Das LSG hat sich nicht mit der Angabe begnügen dürfen, seit 1947 habe ein sonderbares Verhalten vorgelegen, und es hat dessen Zusammenhang mit Einwirkungen der Kriegsgefangenschaft nicht von sich aus bejahen dürfen, wenn die ärztlichen Sachverständigen ihn nicht für wahrscheinlich gehalten haben. Das LSG hat auch allein daraus, daß der Charakter S. primitiv und labil war, nicht schließen dürfen, die Belastungen der Kriegsgefangenschaft hätten ihn schwerer getroffen als verständige, ausgeglichene Menschen; es hätte mit Hilfe ärztlicher Sachverständiger klären müssen, ob nicht gerade dieser Charakter ein Leiden offenbart, das sich unabhängig von Umständen der Gefangenschaft entwickelt habe. Das LSG hat somit seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen in dem erforderlichen Umfange und in geeigneter Weise aufzuklären (§ 103 SGG), nicht genügt. Es hat damit auch die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen (§ 128 SGG), überschritten. Diese Mängel hat der Beklagte in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG vorgeschriebenen Form gerügt. Die Revision ist deshalb schon nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Es braucht daher nicht geprüft zu werden, ob das LSG auch das Gesetz im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG verletzt hat.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG bei ausreichender Klärung des medizinischen Sachverhalts, insbesondere nach Anhörung eines psychiatrischen oder eines anderen, gerade für die hier vorkommenden Fragen zuständigen ärztlichen Sachverständigen und bei verfahrensrechtlich einwandfreier Würdigung ausreichender Beweise zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre (BSG 2 S. 197).
Da das LSG die §§ 103, 128 SGG verletzt hat, war das Urteil aufzuheben. Der Senat konnte nicht selbst entscheiden, weil noch Ermittlungen tatsächlicher Art erforderlich sind. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen