Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachverständiger. Gutachter. Beweisantrag
Orientierungssatz
Strebt der Kläger zunächst an, daß ein Gutachten von Amts wegen eingeholt werde, so begeht er keine grobe Nachlässigkeit, wenn er im Termin zur mündlichen Verhandlung hilfsweise beantragt, einen Sachverständigen auf seine Kosten nach § 109 SGG zu hören.
Normenkette
SGG §§ 109, 103
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 28.03.1961) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. März 1961 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater des Klägers zu 2), der Oberingenieur Dr. G... St..., fuhr am 7. Mai 1957 auf dem Wege von seiner Wohnung zu dem von ihm geleiteten Büro in K... mit dem Kraftwagen auf eine haltende Straßenbahn auf. Er wurde in das M... Krankenhaus in K... gebracht und ist dort noch in der Nacht desselben Tages gestorben.
Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen durch Bescheid vom 7. November 1958 mit folgender Begründung ab: Nach dem Bericht des Chefarztes des M... Krankenhauses, des Facharztes für Chirurgie Dr. ... der mit der Auffassung des zur Beratung zugezogenen Facharztes für Neurologie Dr. M... übereinstimme, sei der Tod infolge Kreislaufversagens nach vorausgegangener Gehirnblutung mit linksseitiger Halbseitenlähmung eingetreten. Dieses Leiden sei nicht durch den Unfall verursacht worden, sondern schon vor dem Unfall aus innerer Ursache entstanden und habe zu dem Verkehrsunfall geführt. Ein Zusammenhang des Todes mit dem Wegeunfall bestehe daher weder im Sinne der Verursachung noch der wesentlichen Beschleunigung.
Die Klage gegen diesen Bescheid hat das Sozialgericht (SG) Kassel durch Urteil vom 31. März 1960 abgewiesen. Die Berufung gegen dieses Urteil ist vom Hessischen Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 28. März 1961 als unbegründet zurückgewiesen worden.
Gegen dieses Urteil, das am 17. April 1961 zugestellt worden ist, haben die Kläger am 12. Mai 1961 Revision eingelegt und sie nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 14. Juli 1961 am 20. Juni 1961 begründet. Sie beantragen, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II.
Die Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden. Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) und eines Gesetzesverletzers im Sinne der Nr. 3 des § 162 Abs. 1 SGG nicht gerügt ist, hängt die Statthaftigkeit der Revision davon ab, ob das Verfahren des LSG an einem von der Revision gerügten wesentlichen Mangel leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Die Revision rügt in erster Linie, das LSG habe zu Unrecht den in der mündlichen Verhandlung am 28. März 1961 hilfsweise gestellten Antrag, nach § 109 SGG Dr. R... (Klinik für Hirnverletzte in M...) gutachtlich zu hören, mit der Begründung abgelehnt, es beruhe auf grober Nachlässigkeit, daß der Antrag erst in der mündlichen Verhandlung und nicht schon früher gestellt worden sei. Für die Entscheidung über diese Rüge ist es nicht erforderlich, im einzelnen zu prüfen, welche grundsätzlichen Folgerungen daraus zu ziehen sind, daß die mündliche Verhandlung auch im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit insofern eine besondere Bedeutung hat, als ein Urteil, falls die Beteiligten nicht ausdrücklich auf die mündliche Verhandlung verzichten, nur auf Grund mündlicher Verhandlung ergehen darf (§ 124 SGG), während andererseits das Gesetz dem Vorsitzenden die Verpflichtung auferlegt, die Erforschung des Sachverhalts (vgl. § 103 SGG) bereits vor der mündlichen Verhandlung soweit voranzutreiben, daß die Beweisaufnahmen, die vor dem Gericht erfolgen sollen, und die mündliche Verhandlung "möglichst" in einem Verhandlungstermin erledigt werden können (§§ 106 Abs. 2, 155 SGG). Das LSG hat die Schlußfolgerung, der auf § 109 SGG gestützte Hilfsantrag sei von den Prozeßbevollmächtigten der Kläger aus grober Nachlässigkeit erst in der mündlichen Verhandlung gestellt worden, im wesentlichen auf die Umstände gestützt, daß der Berichterstatter bei den Prozeßbevollmächtigten der Kläger bereits zweimal angefragt hatte, ob ein Antrag nach § 109 SGG gestellt werden solle. Es hat hierbei die Besonderheiten dieses Falles nicht ausreichend berücksichtigt.
Die Kläger hatten bereits in der von ihren damaligen Prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalt Dr. ... unterzeichneten Berufungsschrift vom 27. April 1960 mit näherer Begründung den Antrag gestellt, von Amts wegen das "Gutachten eines neutralen medizinischen Sachverständigen, der auf dem Gebiet der Gehirnblutung besondere Erfahrung hat", beizuziehen. Nachdem im August 1960 Rechtsanwalt … die Vertretung der Kläger übernommen und Ende Oktober 1960 die Akten eingesehen hatte, hat der neue Prozeßbevollmächtigte auf die Anfrage des Berichterstatters vom 9. November 1960, ob ein Antrag nach § 109 SGG gestellt werden solle, mit Schreiben vom 15. November 1960 nicht verneinend geantwortet, sondern ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Kläger bemüht seien, den Rat eines sachverständigen Arztes einzuholen, und hat zu diesem Zweck eine Fotokopie der Krankengeschichte des M... Krankenhauses und eine Abschrift des im Termin vor dem SGG am 31. März 1960 von Reg. Med. Rat Dr. ... erstatteten Gutachtens angefordert. Schon hieraus war ersichtlich, daß die Kläger an ihrem Antrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens festhalten wollten. Über den im Berufungsschriftsatz gestellten Beweisantrag lag auch bisher noch keine Entscheidung des Gerichts vor. Die Schreiben des Berichterstatters an Rechtsanwalt Dr. L... vom 15. Juni 1960 und an Rechtsanwalt L... vom 9. November 1960 konnten rechtlich nur die Bedeutung haben, daß der Berichterstatter es nicht für erforderlich hielt, im Rahmen der ihm übertragenen Befugnisse nach § 106 Abs. 2 SGG ein weiteres Gutachten beizuziehen. Das Gericht war hierdurch nicht gehindert, auf Grund des Vortrages in der mündlichen Verhandlung doch noch die Beiziehung eines Gutachtens von Amts wegen zu beschließen. Dazu kommt, daß im vorliegenden Fall die Entscheidung über den Anspruch der Kläger sehr wesentlich von naturwissenschaftlichen Fragen abhängt, die ohne die Hilfe ärztlicher Sachverständiger nicht beantwortet werden können. Wie schon aus dem erwähnten Antwortschreiben des Prozeßbevollmächtigten, Rechtsanwalt L..., vom 15. November 1960 hervorgeht, bedurfte auch der Prozeßbevollmächtigte des sachverständigen Rates eines Arztes, um sich darüber schlüssig zu werden, welcher Gutachter gegebenenfalls beigezogen werden sollte und welche Einwendungen im einzelnen gegen die bisher vorliegenden Gutachten erhoben werden können. Aus dem im Termin vom 28. März 1961 überreichten Schriftsatz vom 27. März 1961 ergibt sich auch, daß der Prozeßbevollmächtigte sich inzwischen näher in die ihm annehmbar verhältnismäßig fernliegenden naturwissenschaftlichen Probleme eingearbeitet hatte, nachdem er seine Handakte bei der Akteneinsicht Mitte Dezember 1960 durch die bisher nicht in Abschrift vorhandenen; ärztlichen Unterlagen ergänzt hatte.
Unter diesen Umständen kann daraus, daß der Prozeßbevollmächtigte der Kläger im Termin vom 28. März 1961 in erster Linie die Einholung eines weiteren Gutachtens von Amts wegen angestrebt und lediglich hilfsweise in diesem Termin nunmehr den Antrag gestellt hat, Dr. R... auf Kosten der Kläger nach § 109 SGG als Sachverständigen zu hören, nicht der Schluß gezogen werden, der Prozeßbevollmächtigte der Kläger habe die ihm anvertraute Sache "grob nachlässig" bearbeitet, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, das nicht schon jede Nachlässigkeit die Zurückweisung eines auf § 109 SGG gestützten Antrags rechtfertigt, sondern nur ein sehr starker Grad der Nachlässigkeit, der im Gesetz mit "grob" bezeichnet ist. Da für eine Absicht, "das Verfahren zu verschleppen", erst recht kein Anhalt besteht, hätte das LSG, wenn es der Auffassung war, daß es nicht erforderlich sei, ein weiteres Gutachten von Amts wegen einzuholen, dem im Termin vom 28. März 1961 hilfsweise gestellten Antrag, Dr. ... als Gutachter zu hören, entsprechen müssen. Das Verfahren des LSG leidet somit an einem wesentlichen Mangel, der von der Revision gerügt ist. Die Revision ist statthaft.
Sie ist auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG, wenn es Dr. R... als Gutachter gehört hätte, zu einem für die Kläger günstigeren Ergebnis hinsichtlich der Frage gekommen wäre, ob das Unfallereignis bei der Herbeiführung des Todes rechtlich wesentlich mitgewirkt hat.
Da eine Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst nicht möglich ist, mußte das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, ohne daß es eines Eingehens auf die gegen die Würdigung der bereits vorliegenden Beweise gerichteten Revisionsrügen bedurfte.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen