Entscheidungsstichwort (Thema)
Satzung. Unfallversicherung. Ermächtigungsnorm
Orientierungssatz
Eine Satzungsbestimmung, die Zuschläge zum Beitrag des Unternehmens allein nach der Unfallbelastung dieses Unternehmens im Verhältnis zur Durchschnittsbelastung aller der BG angehörenden Unternehmer auferlegt, berücksichtigt nicht ausreichend Zahl und Schwere der Unfälle iS des § 725 Abs 2 S 1 RVO (vgl BSG 1972-11-30 2 RU 43/71 = BSGE 35, 74).
Normenkette
RVO § 725 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 14.10.1970) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 11.12.1968) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Oktober 1970 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 1968 nur insoweit aufgehoben wird, als er der Klägerin einen Beitragszuschlag auferlegt.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, von der Klägerin für das Geschäftsjahr 1967 einen Beitragszuschlag gemäß § 725 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu fordern.
§ 28 der von der Vertreterversammlung der Beklagten am 28. November 1965 und 18. Mai 1966 beschlossenen Satzung (§ 28 aF) sah einen Beitragsnachlaß vor, wenn die Eigenbelastung des Einzelunternehmens die Durchschnittsbelastung aller am Verfahren beteiligten Unternehmen um mindestens 10 v. H. unterschritt. Diese Satzungsbestimmung wurde durch Beschluß der Vertreterversammlung vom 21. November 1967 mit Wirkung vom 1. Januar 1967 - genehmigt durch Entscheidung des Bundesversicherungsamtes (BVA) vom 18. Dezember 1967 - geändert. Das Nachlaßverfahren wurde durch ein kombiniertes Zuschlag- und Nachlaßverfahren ersetzt. Nunmehr wird ein Zuschlag auferlegt bzw. ein Nachlaß bewilligt, wenn die Eigenbelastung des Einzelunternehmens die Durchschnittsbelastung aller am Verfahren beteiligten Unternehmen um mehr als 5 v. H. über- bzw. unterschreitet.
Aufgrund der geänderten Satzungsbestimmung veranlagte die Beklagte die Klägerin für das Geschäftsjahr 1967 durch Bescheid vom 6. Mai 1968 zur Zahlung von 112.140,34 DM. Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen:
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Beitrag zur Berufsgenossenschaft |
79.266,34 DM |
Beitrag zur Bergbaulast |
8.873,15 DM |
Zuschlag zum Beitrag der Berufsgenossenschaft |
24.000,85 DM |
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch mit der Begründung, daß die - durch die Änderung des § 28 der Satzung - rückwirkend erfolgte Ablösung des reinen Nachlaßverfahrens durch ein kombiniertes Zuschlag- und Nachlaßverfahren in Tatbestände eingreife, welche bereits abgeschlossen seien, und somit verfassungswidrig sei. § 725 Abs. 2 RVO bezwecke in erster Linie, den Unternehmer zu wirksameren Unfallverhütungsmaßnahmen anzuhalten. Durch eine rückwirkend in kraft gesetzte Satzungsbestimmung sei dieser Zweck nicht erreichbar. In einem solchen Fall könne sich ein Unternehmen bei seiner Kalkulation nicht rechtzeitig auf eine möglicherweise eintretende höhere Beitragsbelastung einstellen. Die geänderte Satzungsbestimmung verstoße ferner gegen § 725 Abs. 2 RVO, weil sie nicht, wie das Gesetz vorschreibe, Zahl und Schwere der vorgekommenen Arbeitsunfälle, sondern lediglich die Eigenunfallbelastung des jeweiligen Unternehmens im Verhältnis zur Durchschnittsunfallbelastung sämtlicher Mitgliedsunternehmen berücksichtige.
Die Beklagte begründete ihren ablehnenden Widerspruchsbescheid vom 19. September 1968 wie folgt:
Das einzelne Unternehmen könne nicht im voraus einen bestimmten Beitrag für ein bestimmtes Kalenderjahr seiner Kalkulation zugrunde legen; der Beitrag könne erst nach Ablauf des Geschäftsjahres festgesetzt werden, wenn der Gesamtbedarf des Versicherungsträgers feststehe und die Mitgliedsunternehmen die Lohnsummen des abgelaufenen Jahres mitgeteilt hätten. Die rückwirkend zum 1. Januar 1967 erfolgte Änderung des § 28 der Satzung sei somit kein verfassungswidriger Eingriff in einen abgeschlossenen Tatbestand. Darüber hinaus habe bereits die ursprüngliche Fassung dieser Satzungsbestimmung ein Beitragsnachlaßverfahren zum Gegenstand gehabt. Dadurch sei den Mitgliedern der Berufsgenossenschaft bekannt gewesen, daß die Höhe ihres Beitrags von der Eigenbelastung abhänge. Die Umwandlung des reinen Nachlaßverfahrens in ein kombiniertes Zuschlag- und Nachlaßverfahren habe daher keinen Anreiz geschaffen, zusätzlich Unfallverhütungsmaßnahmen einzuführen. Das nach der neuen Satzungsbestimmung maßgebliche Verhältnis der Eigenunfallbelastung zur Durchschnittsunfallbelastung aller Unternehmen berücksichtige Zahl und Schwere der vorgekommenen Unfälle.
Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat durch Urteil vom 11. Dezember 1968 im wesentlichen aus den Gründen des Widerspruchsbescheids die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 14. Oktober 1970 unter Änderung der Entscheidung des Erstgerichts die Bescheide der Beklagten aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Die rückwirkend zum 1. Januar 1967 erfolgte Einführung eines kombinierten Zuschlag- und Nachlaßverfahrens anstelle des bisherigen reinen Nachlaßverfahrens durch Änderung des § 28 der Satzung sei rechtswidrig. Das neue Beitragsverfahren erhöhe gegenüber dem bisherigen die Beitragsbelastung der Mitglieder der Beklagten nicht unerheblich, deren Eigenunfallbelastung wesentlich über die Durchschnittsunfallbelastung sämtlicher Mitglieder reiche. Mit einer solchen - teilweise belastenden - Änderung ihrer Rechtsstellung hätten die Mitglieder der Beklagten nicht zu rechnen brauchen; sie hätten sich nicht vorher darauf einstellen können. Wesen und Sinn des in § 725 Abs. 2 RVO den Unfallversicherungsträgern auferlegten Verfahrens schlössen ihre rückwirkende Änderung aus. Dieses Verfahren solle in erster Linie nicht zu einer gerechteren Verteilung der Beitragslast unter den Mitgliedern führen, sondern nach dem Willen des Gesetzgebers vor allem der Unfallverhütung dienen, indem es die Unternehmer veranlasse, neben den Unfallverhütungsvorschriften zusätzliche Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen zu treffen. Die Ablösung des reinen Nachlaßverfahrens durch ein kombiniertes Zuschlag- und Nachlaßverfahren könne im wesentlichen nur bezwecken, den Anreiz zu Unfallverhütungsmaßnahmen zu verstärken. Dieser Zweck könne jedoch nicht nachträglich für einen bereits abgelaufenen Zeitraum erreicht werden. Rückwirkende Änderungen entsprechender Satzungsbestimmungen entsprächen somit unzulässigen rückwirkenden Eingriffen in einen abgeschlossenen Tatbestand. Die angefochtenen Beitragsbescheide seien somit rechtswidrig. Ob das nunmehr geltende kombinierte Zuschlag- und Nachlaßverfahren mit § 725 Abs. 2 RVO vereinbar sei, brauche nicht entschieden zu werden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie hat auf die Begründung ihres Widerspruchsbescheides sowie darauf verwiesen, daß die Schwere eines Unfalls allein durch die Unfallbelastungsziffer nachzuweisen sei. Schwere und Zahl der Unfälle könnten nicht voneinander gelöst werden. Wäre die Zahl eine von der Schwere völlig zu isolierende Größe, so würden die Kleinbetriebe bis zu 10 Beschäftigten die Durchschnittsbelastung stets überschreiten.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klagpartei zurückzuweisen,
hilfsweise,
Zurückverweisung an die Vorinstanz.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Wie der erkennende Senat in der Parallelstreitsache 2 RU 43/71, in welcher er sich ebenfalls mit der Rechtswirksamkeit des § 28 der Satzung der Beklagten zu befassen hatte, entschieden hat, ist diese Bestimmung mit § 725 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht vereinbar, weil sie jedenfalls die Zahl der Unfälle nicht in einem dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift gerechtwerdenden Maß berücksichtigt.
Ob die Unfallbelastung, auf die § 28 der Satzung der Beklagten abstellt, die "Schwere" der Unfälle, welche nach § 725 Abs. 2 RVO zusammen mit der Zahl der Unfälle bei der satzungsmäßigen Bestimmung der Beitragszuschläge oder -Nachlässe zu berücksichtigen ist, zutreffend wiedergibt, bedarf auch in der vorliegenden Sache keiner Entscheidung. Es wird seitens des Senats nicht verkannt, daß in der Summe der von den Mitgliedern der Beklagten jährlich aufzuwendenden Sach- und Geldleistungen (Unfallbelastung) die Zahl der vorgekommenen Arbeitsunfälle mit in Erscheinung tritt. Dies wirkt sich jedoch nicht in einem Maße aus, daß dem Sinn und Zweck des § 725 Abs. 2 RVO genügt wird. So führt u. U. schon ein einzelner folgenschwerer Unfall - z. B. bei einem Querschnittsgelähmten oder bei einem tödlich Verletzten mit mehreren Hinterbliebenen - nicht nur im Jahre des Unfallereignisses zu einer Unfallbelastung des Einzelunternehmens, die erheblich über der Durchschnittsbelastung liegen kann. Mit dem Sinn und Zweck der im Gesetz vorgeschriebenen Einführung eines Zuschlags-, Nachlaß- oder kombinierten Verfahrens, das sowohl die Zahl als auch die Schwere der Arbeitsunfälle berücksichtigen muß, ist es nicht vereinbar, die Auferlegung eines Beitragszuschlags allein von der Überschreitung der Durchschnittsbelastung ohne Rücksicht darauf abhängig zu machen, ob dieselbe Unfallbelastung durch einen einzigen oder durch eine Mehrzahl von Arbeitsunfällen verursacht worden ist. Es entspricht sowohl der durch § 725 Abs. 2 RVO vom Gesetzgeber beabsichtigten verstärkten, den Besonderheiten des einzelnen Unternehmens Rechnung tragenden Unfallverhütung als auch dem Versicherungsgedanken, daß bei der Auferlegung von Beitragszuschlägen darauf abgestellt wird, ob die gleiche Unfallbelastung in verschiedenen Unternehmen aufgrund eines oder mehrerer Unfälle entstanden ist. Die Berücksichtigung von Zahl und Schwere der vorgekommenen Unfälle ermöglicht auch bei den Unternehmen eine dem Sinn und Zweck des § 725 Abs. 2 RVO gerechtwerdende Lösung, in denen die Zahl der Unfälle wesentlich über dem Durchschnitt liegt, die allgemeine Durchschnittsbelastung durch diese Unfälle jedoch nicht überschritten wird. Dabei ist zu beachten, daß die Zahl der Unfälle nicht allein, sondern in Verbindung mit ihrer Schwere für einen Beitragszuschlag erheblich ist. Die von der Beklagten aufgezeigten Bedenken entfallen bei der im Gesetz vorgeschriebenen Berücksichtigung von Zahl und Schwere der vorgekommenen Arbeitsunfälle, wenn beispielsweise neben der Schwere der Unfälle nicht die absoluten Unfallzahlen als Maßstab genommen, sondern Bezugsgrößen verwendet werden (etwa: Zahl der Unfälle im Verhältnis zur Zahl der Versicherten), gegebenenfalls unter Beachtung der sich in der Gefahrklasse widerspiegelnden besonderen Betriebsgefahr.
Da somit § 28 der Satzung der Beklagten die höherrangige Norm des § 725 Abs. 2 RVO verletzt, ist er rechtsunwirksam. Die vom Berufungsgericht verneint Frage, ob die Beklagte diese Satzungsbestimmung mit Wirkung vom 1. Januar 1967 in kraft setzten durfte, braucht daher nicht entschieden zu werden. Soweit die angefochtenen Bescheide der Beklagten auf dieser Bestimmung beruhen, hat sie das LSG im Ergebnis zu Recht aufgehoben. Aus Gründen der Rechtsklarheit war die Revision der Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß der Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 1968 nur insoweit aufgehoben wird, als er der Klägerin einen Beitragszuschlag auferlegt.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen