Leitsatz (amtlich)
Für einen Versicherten, der nur noch eingeschränkt, aber vollschichtig arbeiten und auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden kann, ist die konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten nur dann erforderlich, wenn die Einschränkungen so erheblich sind, daß von vornherein ernste Zweifel daran aufkommen müssen, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen auch in einem Betrieb einsetzbar ist (Fortführung von BSG 1978-04-19 4 RJ 55/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 30).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 16.03.1981; Aktenzeichen L 2 J 290/80) |
SG Mainz (Entscheidung vom 08.07.1980; Aktenzeichen S 4 J 302/79) |
Tatbestand
Die im Jahr 1933 geborene Klägerin war als Hausangestellte, Landwirtschaftshelferin, Stations- und Küchenhilfe und zuletzt als Fabrikarbeiterin beschäftigt. Wegen eines im Juli 1977 erlittenen Unfalls bezog sie von April 1978 bis Februar 1979 eine Rente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit. Seitdem ist sie (nur noch) imstande, leichte Arbeiten, die kein Heben, Tragen, Bücken und Steigen, keinen Fließband-, Akkord- oder Schichteinsatz und keinen Einsatz an Maschinen erfordern, vollschichtig zu leisten; sie ist auf Tätigkeiten vorwiegend im Sitzen angewiesen und darf keine Arbeit an Maschinen leisten. Ihren Antrag vom Januar 1979 auf Weitergewährung der Rente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Mai 1979 ab.
Das Sozialgericht (SG) Mainz hat mit Urteil vom 8. Juli 1980 die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 16. März 1981 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. März 1978 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Das zuständige Landesarbeitsamt habe mitgeteilt, daß es zwar bestimmt Vollzeitarbeitsplätze für die geschilderte Leistungseinschränkung gebe; diese seien jedoch nicht bekannt und könnten deshalb auch nicht beschrieben werden. Die Beklagte benenne ebenfalls keine Tätigkeit, die für die Klägerin geeignet sei. Das Unvermögen, eine konkrete Tätigkeit für die der Klägerin verbliebene Erwerbsfähigkeit anzugeben, gehe nicht zu Lasten des Anspruchs der Klägerin. Es sei nicht offensichtlich im Sinn der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 - (SozR 2200 § 1246 Nr 30), daß die Versicherte noch für bestimmte Tätigkeiten in Betracht komme. Weitere Ermittlungen seien nicht geboten, da kein Anlaß bestehe, an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Auskunft des Landesarbeitsamtes zu zweifeln.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor, das LSG habe den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt, gegen Denkgesetze verstoßen und der Klägerin mehr zugesprochen als diese beantragt habe. Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Mainz als unbegründet zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinn der Zurückverweisung begründet. Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben. Zu einer abschließenden Entscheidung fehlen aber die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen.
Die Revision bekämpft die Rechtsansicht des LSG, für die als ungelernte Kraft anzusehende Klägerin müsse der in Frage stehende Verweisungsberuf konkret bezeichnet werden. Sie meint, die Klägerin könne als Ungelernte auf das ganze Feld des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden; selbst wenn von einem überdurchschnittlich stark geminderten Leistungsvermögen auszugehen wäre, könne man die Klägerin auf eine Reihe von Tätigkeiten, zB die einer Verpackerin von leichtgewichtigen Gegenständen, verweisen. Das LSG hätte nach der Ansicht der Revision sich auch nicht mit der Auskunft des Landesarbeitsamtes begnügen dürfen. Dieser Revisionsangriff ist im Ergebnis begründet.
Ein Versicherter ist nicht berufsunfähig - und erst recht nicht erwerbsunfähig -, wenn er zwar seinen bisherigen Beruf nicht mehr verrichten, aber auf Tätigkeiten verwiesen werden kann, die einerseits seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und andererseits ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 1246 Abs 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Dazu hat das BSG in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, daß dem Arbeiter, der keinen anerkannten Ausbildungsberuf im Sinn des Berufsausbildungsgesetzes hat und auch nicht dem Inhaber eines Ausbildungsberufes gleichsteht, jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsfeldes zugemutet werden kann, sofern diese nur seinen gesundheitlichen - körperlichen und geistigen - Kräften entspricht (Urteil vom 23.6.1981 - 1 RJ 72/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 81 mwN).
Deshalb bedarf es auch bei Versicherten mit dem bisherigen Beruf des nicht qualifizierten Arbeiters in der Regel keiner konkreten Benennung von Verweisungstätigkeiten.
Etwas anderes gilt lediglich dann, wenn ein solcher Versicherter selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes nur noch mit vielfältigen und/oder erheblichen Einschränkungen ausüben kann (BSG aa0 S 252 f). Der erkennende Senat hat hierzu bereits im Urteil vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 (= SozR 2200 § 1246 Nr 30) ausgeführt, daß die konkrete Bezeichnung geeigneter Tätigkeiten erforderlich ist, falls der Versicherte - und das bezog sich auch auf Ungelernte - gesundheitlich stärker oder in spezifischer Weise (zB Einarmigkeit, Einäugigkeit) eingeschränkt ist oder nur unter besonderen, unüblichen Arbeitsbedingungen tätig sein kann. Dabei ist zu beachten, daß ein Versicherter, der (nur) noch leichte Arbeiten verrichten kann, noch nicht schon deshalb als stärker eingeschränkt in diesem Sinne anzusehen ist und mithin für ihn stets konkrete Tätigkeiten benannt werden müßten. Vielmehr muß es sich um Einschränkungen handeln, die so erheblich sind, daß von vornherein ernste Zweifel daran aufkommen müssen, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen auch in einem Betrieb einsetzbar ist (zB Erfordernis häufiger, wenngleich kürzerer Pausen, besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz, Erfordernis besonderer Überprüfung wegen stärkerer Konzentrationsmängel).
Ob derartige besondere Umstände, die eine Bezeichnung konkreter Tätigkeiten erfordern, bei der Klägerin vorliegen, hat das LSG nicht untersucht. Dies kann indessen nicht offen bleiben; denn fehlte es an den Kriterien für eine konkrete Bezeichnungspflicht, so wäre damit im Hinblick auf das festgestellte Leistungsvermögen gleichzeitig der Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente verneint.
Ergibt die Prüfung, die nicht vom Revisionsgericht, sondern nur vom LSG als Tatsacheninstanz vorgenommen werden kann, daß unter Beachtung der oben genannten Kriterien konkrete Tätigkeiten zu benennen sind, dann wird jedoch das LSG nicht, wie im angefochtenen Urteil, aufgrund der Auskunft des Landesarbeitsamtes die Folgerung ziehen dürfen, es seien keine Verweisungstätigkeiten vorhanden. Denn in der Auskunft heißt es lediglich, es gebe zwar "bestimmt" geeignete Vollzeitarbeitsplätze, diese seien jedoch nicht bekannt und könnten deshalb auch nicht beschrieben werden. Diese Ausführungen machen deutlich, daß das Berufungsgericht das Erfordernis, konkrete Verweisungstätigkeiten zu benennen, verkannt hat. Nicht die Angabe und Beschreibung einzelner Arbeitsplätze, sondern nur die Benennung von Tätigkeiten ist erforderlich. Dazu genügt es, diejenigen Tätigkeiten zu benennen, die in der Arbeitswelt nicht nur vereinzelt vorkommen. Das hat hier das SG getan; es hat die Tätigkeit einer Verpackerin von leichtgewichtigen Industrie- und Handelserzeugnissen, einer mit leichten Prüf- und Montierarbeiten beschäftigten Fabrikarbeiterin und einer Sortiererin als für die Klägerin geeignete und zumutbare Verweisungstätigkeiten bezeichnet. Das LSG ist auf diese Hinweise nicht eingegangen.
Das angefochtene Urteil war aufzuheben, die Sache war an das LSG zurückzuverweisen. Bei der erneuten Entscheidung wird beachtet werden müssen, daß die Rente frühestens vom 1. März 1979 an zugesprochen werden könnte, da die Klägerin bis einschließlich Februar 1979 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bezogen hat und auch nur beantragt hat, "die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 28. Februar 1979 hinaus Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren".
Das LSG wird auch über die Kosten entscheiden.
Fundstellen