Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit
Orientierungssatz
Die Anwendung des § 44 SGB 10 wird nicht durch § 48 Abs 2 SGB 10 ausgeschlossen. Ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt ist daher für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewendet worden ist. Das ergibt sich aus § 48 Abs 2 letzter Halbsatz SGB 10, wonach diese Regelung § 44 des Gesetzes unberührt läßt (vgl BSG 1983-04-20 5a RKnU 2/81 = BSGE 55, 87).
Normenkette
SGB 10 § 44 Abs 1 S 1 Fassung: 1980-08-18, § 48 Abs 2 Halbs 2 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 08.06.1982; Aktenzeichen L 2 Kn 16/80) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 05.08.1980; Aktenzeichen S 8 Kn 78/78) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger rückwirkend eine höhere Leistung zu zahlen.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 30. November 1970 ab 1. Februar 1968 Knappschaftsruhegeld sowie eine Leistung nach § 28 des Gesetzes zur Angleichung des Sozialversicherungsrechts im Saarland an das im übrigen Bundesgebiet geltende Recht (Sozialversicherungs-Angleichungsgesetz Saar -SVAG Saar-) vom 15. Juni 1963 (BGBl I, 402). Auf diese Leistung wurden die Zahlungen der französischen Zusatzpensionskasse für Bergarbeiter (Caisse de Retraites Complementaires des Ouvriers Mineurs -CARCOM-) angerechnet. Im Januar 1977 beantragte der Kläger bei der Beklagten, die Leistung nach § 28 SVAG Saar neu zu berechnen und dabei die französische Zusatzpension nicht zu berücksichtigen. Unter dem 21. März 1978 teilte die Beklagte dem Kläger mit, aufgrund der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juli 1977 - 5 RKn 8/76 - sehe sie für die Zeit vom Monatsersten nach der Verkündung dieses Urteils, also ab 1. August 1977 von einer Anrechnung der französischen Zusatzpension auf die Leistung nach dem SVAG Saar ab. Der Widerspruch des Klägers, mit dem er die höhere Leistung auch für die Zeit vorher begehrte, wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 30. August 1978).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger die erwähnte Leistung unter Nichtanrechnung der CARCOM-Rente auch für die Zeit vor dem 1. August 1977 zu gewähren (Urteil vom 5. August 1980). Auf die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Juni 1982). Das Berufungsgericht hat den angefochtenen Verwaltungsakt sowohl unter dem rechtlichen Aspekt des vor dem 1. Januar 1981 geltenden § 93 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) als auch nach den zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen §§ 44 und 48 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) überprüft. Nach altem Recht habe sich die Beklagte nicht davon zu überzeugen brauchen, daß die Anrechnung der CARCOM-Leistung während der streitigen Zeit zu Unrecht erfolgt sei. § 48 Abs 2 SGB 10 sehe - sofern überhaupt von einer "ständigen Rechtsprechung" iS dieser Vorschrift die Rede sein könne - jedenfalls nur eine Korrektur des bindenden Bescheides für die Zukunft vor. § 44 SGB 10 könne wegen der Sondervorschrift in § 48 Abs 2 SGB 10 im Falle des Klägers nicht angewendet werden.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er trägt vor, nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juli 1977 stehe fest, daß die Anrechnung der CARCOM-Leistung unzulässig sei. Da allein dieser Senat zur Entscheidung dieser Rechtsfrage höchstrichterlich berufen sei, bestehe kein einleuchtender Grund, die fehlerhafte Rechtsanwendung durch die Beklagte erst für die Zeit ab 1. August 1977 zu korrigieren.
Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Der bindende Verwaltungsakt der Beklagten vom 30. November 1970 ist - soweit in ihm auf die Leistung nach dem SVAG Saar die Zahlung aus der französischen Zusatzpensionskasse für Bergarbeiter angerechnet worden sind - auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Nach der Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 15. Dezember 1982 (BSGE 54, 223, 226 ff) ist im Falle des Klägers § 44 SGB 10 anzuwenden, denn es stehen Leistungen aus der Zeit vor dem 1. Januar 1981 in Streit, und eine entsprechende Leistungs- bzw Verpflichtungsklage ist über den 31. Dezember 1980 hinaus anhängig. Die genannte Vorschrift soll nach Art II § 40 Abs 2 SGB 10 auch dann gelten, wenn nach dem 31. Dezember 1980 ein Verwaltungsakt zurückzunehmen ist, der vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist. Das trifft hier zu, nicht dagegen die Ausnahme in Art II § 40 Abs 2 Satz 3 SGB 10, die sich auf Verwaltungsakte bezieht, die bereits bestandskräftig waren und bei denen auch nach § 1744 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der vor dem 1. Januar 1981 geltenden Fassung eine neue Prüfung nicht vorgenommen werden konnte.
Das bereits begonnene Verfahren ist gemäß Art II § 37 Abs 1 SGB 10 nach den Vorschriften dieses Gesetzes zu Ende zu führen.
§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 bestimmt nun, daß auch ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist, soweit sich ua im Einzelfall ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewendet worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Wie der Senat mit dem bereits erwähnten Urteil vom 28. Juli 1977 entschieden hat, sind die von der CARCOM gewährten Leistungen keine Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern haben auf diese keinen Einfluß und treten zu ihnen hinzu. Zwischen den Beteiligten herrscht daher auch kein Streit mehr darüber, daß die Leistungen der CARCOM auf diejenigen nach dem SVAG Saar nicht anzurechnen sind. Insoweit ist im Bescheid vom 30. November 1970 das Recht unrichtig angewendet worden. Daher muß nun nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 dieser Verwaltungsakt - auch mit Wirkung für die Vergangenheit - zurückgenommen werden, und dem Versicherungsträger ist nicht mehr wie früher in den §§ 93 RKG, 1300 RVO ein Beurteilungsspielraum für seine Überzeugungsbildung eingeräumt (so Urteile des erkennenden Senats vom 20. April 1983 - 5a RKnU 2/81 - und des 4. Senats des BSG vom 21. Juni 1983 - 4 RJ 69/82 -).
Die Anwendung des § 44 SGB 10 wird nicht durch § 48 Abs 2 SGB 10 ausgeschlossen. Die zuletzt genannte Vorschrift betrifft den einer Änderung der Verhältnisse gleichgestellten Fall, daß der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes. Daneben besteht die Pflicht, den unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakt für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewendet worden ist. Das ergibt sich aus § 48 Abs 2 letzter Halbsatz SGB 10, wonach diese Regelung § 44 des Gesetzes unberührt läßt (so Urteil des Senats vom 20. April 1983 aaO).
Im übrigen hat der Kläger den Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 30. November 1970 schon im Januar 1977 gestellt. Demnach lief ein Verwaltungsverfahren zur Neufeststellung der Leistung nach dem SVAG Saar bereits, als der Senat am 28. Juli 1977 entschied, die Leistung der CARCOM dürfe auf diejenige der gesetzlichen Rentenversicherung nicht angerechnet werden. Für die Zeit vor der Entscheidung des Senats kommt aber nur eine Rücknahme des Verwaltungsaktes nach § 44 SGB 10 in Betracht. Gemäß Abs 4 dieser Vorschrift werden Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der entsprechende Antrag gestellt worden ist. Im Falle des Klägers bedeutet das eine Neuberechnung der Leistung nach dem SVAG Saar ab 1. Januar 1973. Von diesem Zeitpunkt an mußte das der Klage stattgebende Urteil des SG wiederhergestellt werden, während es für die Zeit vorher bei der Klageabweisung durch das LSG zu verbleiben hatte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen