Entscheidungsstichwort (Thema)
Auswahlverfahren. Begründung. Behandlungsweise. Beurteilungsspielraum. Durchschnittswert. Ermessen. Grenze. Honorarkürzung. Normalverteilung. Prüfvereinbarung. Standardabweichung. Überschreitung. Unwirtschaftlichkeit
Leitsatz (amtlich)
Zur Festlegung fester Grenzwerte im Rahmen der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung.
Normenkette
SGB V § 106
Verfahrensgang
SG Düsseldorf (Urteil vom 10.03.1993; Aktenzeichen S 2 Ka 14/92) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10. März 1993 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen Aufwendungen für das Revisionsverfahren zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig sind Kürzungen von Honoraranforderungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise.
Der Beigeladene zu 3., der als Gynäkologe niedergelassen und an der vertragsärztlichen Versorgung der Versicherten von Ersatzkassen beteiligt ist, behandelte im Quartal IV/90 394 (Fachgruppendurchschnitt: 577) und im Quartal I/91 392 Ersatzkassenpatienten (Fachgruppe: 584). Den Gesamtfallwert der Fachgruppe pro Patient überschritt er im Quartal IV/90 um 127 % Standardabweichung (Honorardurchschnitt: 82,41 DM; Fachgruppe: 52,83 DM) und im Quartal I/91 um 134 % Standardabweichung (Honorardurchschnitt: 83,44 DM; Fachgruppe: 52,60 DM). Seine Honoraranforderungen bei den Sonderleistungen überstiegen den Fallwert der Fachgruppe im Quartal IV/90 um 272 und im Quartal I/91 um 245 % Standardabweichung.
Die Prüfungskommission Ersatzkassen bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) Nordrhein (Beigeladene zu 2.) kürzte die Honoraranforderungen des Beigeladenen zu 3. bei den Sonderleistungen im Quartal IV/90 um 16 % und im Quartal I/91 um 10 %. Die Widersprüche des klagenden Verbandes der Angestellten-Krankenkassen (VdAK), der eine weitergehende Kürzung erstrebte, wies die beklagte Beschwerdekommission zurück (Bescheide vom 16. Dezember 1991 und 10. März 1992). Zur Begründung führte sie in den Bescheiden insoweit übereinstimmend aus, eine Kürzung unter die Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses, das bei einer Überschreitung der Fallwerte der Vergleichsgruppe um 2 Sigma (S) angenommen werde, sei nicht gerechtfertigt.
Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, die Widersprüche des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (Urteil vom 10. März 1993). Zur Begründung hat das SG im wesentlichen dargelegt, die Beklagte habe ermessensfehlerhaft gehandelt, weil sie nicht begründet habe, warum sie den Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses bei einer Überschreitung von 2 S annehme. Zwar sehe § 8 Abs 5 der Prüfvereinbarung/Ersatzkassen vor, daß Honoraranforderungen, bei denen in den einzelnen Leistungsgruppen der Fallwert der Vergleichsgruppe um mehr als 200 % der mittleren Abweichung überschritten werde, in der Regel in das Auswahlverfahren zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit einbezogen werden sollten. Diese Auswahlkriterien stellten aber keine Grenzwerte für die gemäß § 9 der Prüfvereinbarung durchzuführende Wirtschaftlichkeitsprüfung dar. Da die Beklagte bei der Ausübung ihres Kürzungsermessens den Grenzwert von 200 % Standardabweichung zugrunde gelegt habe, ohne daß die Gründe hierfür ersichtlich seien, habe sie ihr Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt.
Die Beklagte rügt mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision eine Verletzung des § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 und Abs 5 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) sowie der §§ 8 und 9 der Prüfvereinbarung/Ersatzkassen. Sie macht geltend, das SG habe zu Unrecht das Vorliegen eines Ermessensfehlers angenommen. Die Partner der Prüfvereinbarung/Ersatzkassen bewerteten eine Honorarabrechnung erst dann als statistisch auffällig, wenn bei einer Leistungssparte der Fallwert der Vergleichsgruppe um mehr als 200 % der mittleren Abweichung überschritten werde. Dabei sei es schon denkgesetzlich ausgeschlossen, daß die Grenze zum offensichtlichen Mißverhältnis im Normalfall noch unterhalb der Überschreitung von 2 S anzunehmen sei. Denn eine Honorarüberschreitung, die überhaupt erst Anlaß zur Durchführung einer Prüfung gebe, könne nicht schon jenseits der Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses liegen, weil anderenfalls sich bereits im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses befindende Überschreitungen ungeprüft und damit ungekürzt blieben. Es könne dahingestellt bleiben, ob die Vertragspartner mit den von ihnen festgelegten Auswahlkriterien für den Regelfall die Grenze eines Verdachtes unwirtschaftlicher Behandlungsweise oder aber bereits die Grenze für die Vermutung einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise festlegen wollten. Für beide Fälle gelte jedenfalls, daß mit diesen Überschreitungswerten die Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses noch nicht erreicht sei.
Die Beklagte beantragt,
die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach seiner Auffassung erweisen sich die angefochtenen Bescheide als rechtswidrig, weil die Beklagte nicht habe erkennen lassen, aus welchen Gründen sie weitergehende Honorarkürzungen unterlassen habe, die dem tatsächlichen Ausmaß der Unwirtschaftlichkeit entsprochen hätten. Die Prüfvereinbarung sehe für die Fälle, in denen die durchschnittliche Honoraranforderung in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten der Vergleichsgruppe stehe, eine auf einer Schätzung beruhende pauschale Honorarkürzung ohne Angaben von Beispielsfällen vor. Die Beklagte hätte daher das Ausmaß der Unwirtschaftlichkeit durch Schätzung ermitteln müssen und sich nicht damit begnügen dürfen, eine Kürzung der Honoraranforderung auf 200 % Überschreitung vorzunehmen. Die Vorgehensweise der Beklagten, die nach ihren eigenen Angaben dem Prüfantrag nicht nachgekommen sei, weil sie nicht über exakte Feststellungen zum Ausmaß der Unwirtschaftlichkeit verfügt habe, stelle sich als teilweise Verweigerung der Wirtschaftlichkeitsprüfung dar.
Die übrigen Beteiligten haben sich nicht geäußert und keine Anträge gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig.
Nach § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V in der hier maßgebenden Fassung des Gesundheitsreformgesetzes (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477), der gem Abs 7 aaO für die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung entsprechend gilt, wird die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung durch arztbezogene Prüfung ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten geprüft. Dem entspricht § 7 Abs 1 Nr 1 der zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Verbänden der Ersatzkassen geschlossenen, ab 1. Oktober 1990 geltenden Prüfvereinbarung/Ersatzkassen. Danach prüft die Prüfungskommission arztbezogen die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung durch Prüfung ärztlicher Leistungen (Behandlungsweise) und ärztlich verordneter Leistungen (Verordnungsweise) nach Durchschnittswerten.
Nach der Rechtsprechung des Senats beruht die Prüfung nach Durchschnittswerten auf einer Gegenüberstellung der durchschnittlichen Fallkosten des geprüften Arztes einerseits und der Gruppe vergleichbarer Ärzte andererseits. Eine Unwirtschaftlichkeit ist dann anzunehmen, wenn der Fallwert des geprüften Arztes so erheblich über dem Vergleichsgruppendurchschnitt liegt, daß sich die Mehrkosten nicht mehr durch die Unterschiede in der Praxisstruktur und den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lassen und deshalb zuverlässig auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise als Ursache der erhöhten Aufwendungen geschlossen werden kann. Wann dieser mit dem Begriff des offensichtlichen Mißverhältnisses gekennzeichnete Überschreitungsgrad erreicht ist, hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Prüfungsgegenstandes und den Umständen des konkreten Falles ab und entzieht sich einer allgemein verbindlichen Festlegung. Die zur Festlegung des offensichtlichen Mißverhältnisses angestellten Erwägungen müssen, damit sie auf ihre sachliche Richtigkeit und auf ihre Plausibilität und Vertretbarkeit hin überprüft werden können, im Bescheid genannt werden oder jedenfalls für die Beteiligten und das Gericht erkennbar sein. Im Hinblick darauf, daß die Festlegung des Grenzwertes von der Beurteilung zahlreicher mehr oder weniger unbestimmter und in ihren wechselseitigen Auswirkungen nicht exakt quantifizierbarer Einzelfaktoren abhängt und auch bei Berücksichtigung aller relevanten Umstände letztlich eine wertende Entscheidung erfordert, verbleibt den Prüfgremien insoweit ein Beurteilungsspielraum. Die Kontrolle der Gerichte beschränkt sich hierbei auf die Prüfung, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Verwaltung die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs ermittelten Grenzen eingehalten und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, daß im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (vgl zB BSG SozR 2200 § 368n Nr 38, S 124; SozR aaO Nr 57, S 194; BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 14, S 84).
Im vorliegenden Fall hat die Beklagte entweder die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des offensichtlichen Mißverhältnisses bestimmten Grenzen nicht eingehalten oder jedenfalls ihre Subsumtionserwägungen nicht nachvollziehbar verdeutlicht.
Die Beklagte hat in den Quartalen IV/90 und I/91 die Honoraranforderungen des Beigeladenen zu 3) bei den Sonderleistungen in einem Umfang gekürzt, daß diesem Überschreitungen des Fachgruppendurchschnitts um 2 S (200 % Standardabweichung) verblieben. Daß sie die Grenze zum offensichtlichen Mißverhältnis in dieser Höhe gezogen hat, könnte darauf beruhen, daß von ihr die in § 8 Abs 5 der Prüfvereinbarung/Ersatzkassen enthaltenen Werte als Festlegung des offensichtlichen Mißverhältnisses verstanden worden sind. Hierauf deuten sowohl die Begründungen der angefochtenen Bescheide als auch die Ausführungen der Beklagten im gerichtlichen Verfahren hin. Sollte dies der Fall sein, hätte sie von dem ihr zustehenden Beurteilungsspielraum fehlerhaft Gebrauch gemacht. Dabei dürfte, was letztlich offenbleiben kann, den Partnern der Prüfvereinbarung/Ersatzkassen nicht die Kompetenz zustehen, gegenüber den Prüfgremien verbindlich festzulegen, ab welcher Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts das offensichtliche Mißverhältnis beginnt. Maßgebliche Ermächtigungsgrundlage ist insoweit der – über § 106 Abs 7 SGB V für die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung entsprechend geltende – § 106 Abs 3 SGB V. Danach vereinbaren die Verbände der Ersatzkassen und die KÄVen die Verfahren zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit nach § 106 Abs 2 SGB V gemeinsam (Satz 1 aaO). Nach Satz 3 aaO ist in den Verträgen auch festzulegen, unter welchen Voraussetzungen pauschale Honorarkürzungen vorgenommen werden können. Darunter dürfte nicht die Befugnis fallen, generell die Grenze zum offensichtlichen Mißverhältnis festzulegen. Hiergegen spricht bereits die alleinige funktionelle Zuständigkeit der Prüfgremien zur Durchführung der Wirtschaftlichkeitsprüfung. Eine derartige Festlegung der Grenzwerte für die Annahme eines offensichtlichen Mißverhältnisses enthält die Prüfvereinbarung/Ersatzkassen jedoch nicht.
Entsprechende Grenzwerte lassen sich insbesondere nicht aus § 8 der Prüfvereinbarung ableiten. Die Vorschrift betrifft die Auswahl zur Prüfung der ärztlichen Behandlungsweise nach Durchschnittswerten und damit ein der eigentlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung (§ 9 der Prüfvereinbarung/Ersatzkassen) vorgeschaltetes Verfahren. Allerdings finden sich in § 8 Abs 5 und Abs 6 der Prüfvereinbarung Werte, von deren Überschreitung an Honorarabrechnungen in der Regel in das Auswahlverfahren einbezogen werden sollen. Wird – wie im vorliegenden Fall – die Abweichung vom Fachgruppendurchschnitt bei Leistungsgruppen nach der dafür in § 8 Abs 3 Satz 2 aaO vorgeschriebenen Methode der Gaußschen Normalverteilung ermittelt, ist § 8 Abs 5 Nr 2 aaO maßgebend. Danach sollen in der Regel Honorarabrechnungen, bei denen in den einzelnen Leistungsgruppen der Fallwert der Vergleichsgruppe um mehr als 200 % der mittleren Abweichung überschritten wird, in das Auswahlverfahren einbezogen werden.
Sowohl nach Wortlaut und Sinnzusammenhang des Abs 5 aaO als auch nach der Stellung der Vorschrift in § 8 der Prüfvereinbarung und in der Prüfvereinbarung insgesamt handelt es sich bei den dort genannten Werten nicht um solche, die die Grenze zum offensichtlichen Mißverhältnis festlegen, sondern vielmehr um Aufgreifkriterien, an Hand derer vor Beginn der eigentlichen Prüfung zu ermitteln ist, welche Honorarabrechnungen in eine Prüfung einbezogen werden sollen. Das wird weiter durch § 8 Abs 2 Satz 1 der Prüfvereinbarung verdeutlicht, in dem die in Abs 5 und 6 genannten Voraussetzungen ausdrücklich als Auswahlkriterien bezeichnet werden. § 9 der Prüfvereinbarung, der die Wirtschaftlichkeitsprüfung und die Anforderungen für Honorarkürzungen zum Inhalt hat, enthält ebenfalls keine Grenzwerte für die Annahme des offensichtlichen Mißverhältnisses.
Auch eine – sowohl von der Beklagten ins Auge gefaßte – analoge Heranziehung der in § 8 Abs 5 und 6 der Prüfvereinbarung als Auswahlkriterien zugrunde gelegten Werte als Grenzwerte für das offensichtliche Mißverhältnis im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung scheidet aus. Bei dieser Anwendung würden einerseits die Funktion der Aufgreifwerte, andererseits die Bedeutung, die statistischen Aussagen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung zukommt, verkannt.
Die Prüfvereinbarung stellt in § 8 Abs 5 und 6 für die Frage, ob Honorarabrechnungen in ein Prüfverfahren einzubeziehen sind, auf statistische Überschreitungswerte ab. Da es sich insoweit nur um ein vorgeschaltetes Auswahlverfahren handelt, bestehen auch unter dem Gesichtspunkt der Kompetenz (§ 106 Abs 3 Satz 1 SGB V) keine Bedenken gegen die Vereinbarung fester Grenzwerte für die Einbeziehung in das Verfahren. Als Instrument für eine gleichmäßige Erfassung von Ärzten für die Prüfung können sie sich als sachgerecht erweisen. Eine weitergehende Funktion kommt ihnen jedoch nach der Prüfvereinbarung nicht zu; denn aus der Vereinbarung selbst ergibt sich, daß den auf statistischem Wege gewonnenen Daten nur im begrenzten Umfang Aussagen über die Wirtschaftlichkeit ärztlicher Behandlungsweise entnommen werden können. Das zeigen die Regelungen über das Auswahlverfahren, in denen die aufgrund statistischer Methode gewonnenen Ergebnisse relativiert werden. So schreibt § 8 Abs 7 der Prüfvereinbarung vor, daß vor der Einbeziehung von Ärzten in das Auswahlverfahren bei diesen anerkannte Praxisbesonderheiten und damit Umstände, die sich aufgrund medizinisch-ärztlicher Beurteilung ergeben, zu berücksichtigen sind. Die Bestimmungen über das Auswahlverfahren lassen es weiterhin zu, daß unter bestimmten Voraussetzungen die Auswahl zur Prüfung erfolgen kann, obwohl die in § 8 Abs 5 Nr 1 bis 3 oder Abs 6 aaO festgelegten Überschreitungen nicht erreicht werden (Abs 8 aaO).
Erweisen sich somit bereits nach der Prüfvereinbarung die Aufgreifwerte des § 8 Abs 5 nur als relative Kriterien, deren Über- oder Unterschreitung nicht automatisch zur Einbeziehung in das Auswahlverfahren führt, so kann ihnen erst recht nicht im Rahmen der Prüfung nach Durchschnittswerten die Festlegung des offensichtlichen Mißverhältnisses entnommen werden. Diese Vorgehensweise würde im Verhältnis zu der im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung durchzuführenden sog intellektuellen Prüfung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte zum Tragen kommen, einseitig die Ergebnisse statistischer Untersuchungen überbetonen, obwohl diesen nach der Systematik der Prüfung nach Durchschnittswerten eine solche ausschlaggebende Rolle nicht zukommt.
Die im Rahmen der statistischen Prüfung herangezogene statistische Methode “Randlage in der Normalverteilung”, die auch als sog Gaußsche Normalverteilung bezeichnet wird, ist in § 8 Abs 3 Satz 2 der Prüfvereinbarung als Regelmethode für die Ermittlung der Aufgreifwerte vereinbart worden. Sie geht davon aus, daß von einem bestimmten Wert – der sog Grenzwahrscheinlichkeit – an nicht mehr eine nur zufällige Abweichung vom Fachgruppendurchschnitt gegeben sein kann (vgl Gaus, Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise des Kassenarztes, 1988, S 21). Die Methode, bei der nach wie vor sowohl über die notwendigen Voraussetzungen für ihre Anwendung im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung als auch über die Aussagefähigkeit der mit ihr gewonnenen Daten keine Einigkeit in der statistischen Wissenschaft besteht (s dazu Klar/Schulgen/Schulte-Mönting, MedR 1994, 349 ff), fordert an sich die Festlegung fester Grenzwerte für die Annahme eines offensichtlichen Mißverhältnisses. Wird dieser Grenzwert bei den Leistungsgruppen auf eine Abweichung vom Fachgruppendurchschnitt auf ± 2 Standardabweichungen bestimmt, bedeutet dies, daß sich innerhalb dieser Bandbreite 95,5 % der abrechnenden Ärzte befinden. Da bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung nur die Überschreitung, jedoch nicht die Unterschreitung von Interesse ist, beträgt in diesem Fall die Anzahl der Ärzte, die den Leistungsgruppenfallwert um mehr als 2 S überschreiten, noch 2,25 %. Damit verringert sich die Wahrscheinlichkeit, daß ein Arzt aufgrund statistischer Aussagen gekürzt wird, obwohl er in Wirklichkeit wirtschaftlich handelt, auf 2,25 % (vgl zum Ganzen: Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht nach dem Gesundheitsstrukturgesetz, 1994, RdNrn 554 ff; Raddatz, Die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen und kassenzahnärztlichen Versorgung in der Rechtsprechung – WKR –, 6.3.3; s auch Clemens in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 1, 1994, § 35 RdNrn 72 ff). Trotz der so gewonnenen Wahrscheinlichkeitsaussage kann die statistische Prüfung nach der Methode “Randlage in der Normalverteilung” kein alleiniges Kriterium für eine Kürzung der Honoraranforderung sein (ebenso Klar/Schulgen/Schulte-Mönting, aaO, S 350), abgesehen davon, daß ihr Mängel anhaften, die zusätzlich der ausschließlichen Berücksichtigung der mit ihr erzielten Ergebnisse bei der Festlegung des Grenzwertes für das offensichtliche Mißverhältnis entgegenstehen. Auch wenn man unterstellt, daß bei der jeweiligen Leistungsgruppe eine Normalverteilung gegeben ist, wovon jedoch nicht regelmäßig ausgegangen werden kann (s Klar/Schulgen/Schulte-Mönting, aaO, S 350), hat sie bei homogener Leistungserbringung bei der jeweiligen Leistungsgruppe zur Folge, daß bei einem Grenzwert von 2 S für das offensichtliche Mißverhältnis bereits geringe Überschreitungen des Fachgruppendurchschnitts die Vermutung der unwirtschaftlichen Behandlungsweise nach sich zögen, während bei inhomogenen Fachgruppen auch erhebliche Abweichungen noch nicht zu einer Überschreitung des Grenzwertes von 2 S ausreichten. Diese Gesichtspunkte und das sich aus der Systematik der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten iS des § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V ergebende Gebot der Berücksichtigung der medizinisch-ärztlichen Besonderheiten einer Praxis (vgl dazu im einzelnen das Urteil des Senats vom heutigen Tage – 6 RKa 23/93 –) lassen auch bei der Methode “Randlage in der Normalverteilung” eine starre Grenzwertfestlegung auf ein bestimmtes Maß der Standardabweichung nicht zu. Wann eine Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts die Grenze zum offensichtlichen Mißverhältnis übersteigt, bedarf daher in jedem Einzelfall der individuellen Festlegung, wobei der Wert von 2 S je nach Fallage durchaus auch unterschritten werden kann. Wäre die Beklagte somit von einem Grenzwert von 2 S Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts ausgegangen, hätte sie insoweit den ihr zustehenden Beurteilungsspielraum verkannt mit der Folge, daß schon deswegen die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind.
Allerdings ist nicht auszuschließen, daß die Beklagte aus medizinisch-ärztlichen Erwägungen den Grenzwert auf eine Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts von 2 S hätte festlegen können. Die dafür maßgebenden Gesichtspunkte hätte sie dann allerdings im Bescheid aufzeigen müssen. Dies ist nicht geschehen, so daß den angefochtenen Bescheiden die ihnen zugrunde liegenden Beurteilungsmaßstäbe nicht hinreichend und nachvollziehbar zu entnehmen sind. Die Bescheide der Beklagten erweisen sich daher insgesamt als beurteilungsfehlerhaft und damit als rechtswidrig.
Nach allem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 921735 |
Breith. 1995, 664 |