Leitsatz (amtlich)
Ein die persönliche Rentenbemessungsgrundlage übersteigendes Entgelt beruht nicht auf dem Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten iS des RKG § 86 Abs 2, wenn die früher erworbenen neuen Kenntnisse und Fertigkeiten durch eine Änderung der Bedingungen des Arbeitsplatzes bedeutungslos werden, so daß jeder berufsfremde Versicherte die Tätigkeit schon nach kurzer Einarbeitung und Einweisung verrichten kann.
Normenkette
RKG § 86 Abs. 2 Fassung: 1967-12-21
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. März 1972 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger die Bergmannsrente entziehen durfte.
Die Ruhrknappschaft gewährte dem am 22. September 1928 geborenen Kläger, der bis 1960 als Hauer im Bergbau gearbeitet hatte, mit Bescheid vom 2. Februar 1962 die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) für die Zeit vom 6. Dezember 1960 bis zum 31. Mai 1961 und darüber hinaus die bereits mit Bescheid vom 5. Oktober 1961 festgestellte Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit. Die Beklagte entzog dem Kläger, der außerhalb des Bergbaus verschiedene Arbeiten verrichtete und seit dem 1. Oktober 1964 als Laborant im Angestelltenverhältnis tätig ist, die Bergmannsrente zum 1. August 1968 mit Bescheid vom 5. Juni 1968, weil der Kläger auf Grund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten ein Entgelt erziele, das seine persönliche Rentenbemessungsgrundlage übersteige. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) holte eine Arbeitgeberauskunft ein und hörte als sachverständigen Zeugen den Chemotechniker K. Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 11. Februar 1969 unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Juni 1968 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. August 1968 verurteilt, dem Kläger Bergmannsrente über den Zeitpunkt der Entziehung hinaus zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) holte weitere Arbeitgeberauskünfte sowie ein Gutachten des Dr.-Ing. S vom 20. Juli 1971 ein. Das LSG hat mit Urteil vom 16. März 1972 auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte sei nach § 86 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) zur Entziehung der Bergmannsrente berechtigt gewesen. Der Kläger erziele mit seiner jetzigen Tätigkeit als Laborant ein Entgelt, das über der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage liege. Diese Tätigkeit setze eine Anlernzeit von drei bis vier Monaten voraus und erfordere also neue Kenntnisse und Fertigkeiten im Sinne des § 86 Abs. 2 RKG. Daran ändere der Umstand nichts, daß der Kläger die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten möglicherweise in kürzerer Zeit erworben habe. Unerheblich sei auch, daß der Kläger die erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten nur in seinem jetzigen Betrieb und nicht außerhalb dieses Betriebes verwerten könne. Zwar sei seit einiger Zeit in dem Aufgabenbereich des Klägers eine Änderung eingetretenen, weil ein elektronischer Spektralautomat eingeführt worden sei. Wenn auch die Ausbildung an diesem Gerät nur kurze Zeit erfordere, so daß die vorher erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten nicht mehr in vollem Umfang benötigt würden, so erwerbe der Kläger das die Rentenbemessungsgrundlage übersteigende Entgelt auch jetzt noch auf Grund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten. Abgesehen davon, daß nach Einführung des Spektralautomaten und nach Anlernung des Klägers an diesem Gerät die Kenntnisse und Fertigkeiten gegenüber vorher sogar noch erweitert worden seien, könne man nicht daran vorbeikommen, daß der Kläger weiterhin Schichtlaborant sei und sein Gehalt sich nach Einführung des neuen Geräts nicht etwa verringert habe. Es könne aber nicht angenommen werden, daß der technische Fortschritt, wenn er zur Arbeitserleichterung und -vereinfachung führe, den Umfang der vorher vorhandenen Kenntnisse und Fertigkeiten einschränke und im Bereich der knappschaftlichen Rentenversicherung den Fortfall der Voraussetzungen des § 86 Abs. 2 Satz 1 RKG bewirke.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, um neue Kenntnisse und Fertigkeiten im Sinne des § 86 Abs. 2 RKG handele es sich nicht, wenn die Kenntnisse und Fertigkeiten nur in einem bestimmten Betrieb und nicht auf dem allgemeinen Arbeitsfeld verwertbar seien. Zur Rentenentziehung könnten neue Kenntnisse und Fertigkeiten nur dann führen, wenn der Versicherte einer anderen Berufsgruppe zugeordnet werden könnte. Das sei aber nicht der Fall, weil die Kenntnisse und Fertigkeiten nicht außerhalb des jetzigen Betriebes verwertbar seien. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger noch weiter gerügt, bei den unterschiedlichen Angaben in den Auskünften des Betriebes, der Aussage des sachverständigen Zeugen K und dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S hätte das LSG nicht zu dem Ergebnis kommen dürfen, daß für die jetzige Tätigkeit des Klägers eine Einarbeitung und Anlernung von mehr als drei Monaten erforderlich sei.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 11. Februar 1969 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Nach § 86 Abs. 1 RKG kann die Bergmannsrente entzogen werden, wenn der Versicherte infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr vermindert bergmännisch berufsfähig ist. Eine Änderung in den Verhältnissen ist jeder nach der Rentengewährung eintretende Umstand, der die Erwerbsfähigkeit des Versicherten erhöht, also auch der Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten. Davon geht auch § 86 Abs. 2 RKG aus. Nach dieser Vorschrift gilt der Versicherte nicht mehr als vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn er auf Grund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten aus versicherungspflichtiger Beschäftigung mindestens ein Entgelt erwirbt, das der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage entspricht. Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden ist, hat der Kläger nach der Rentengewährung die für die Tätigkeit eines Schichtlaboranten erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten erworben, die im Normalfall eine Anlernzeit von drei bis vier Monaten erfordern. Zwar hat der Kläger die Feststellung über die normale Anlernzeit in der mündlichen Verhandlung angegriffen. Im Gegensatz zu der Ansicht des Klägers kann auch im Rahmen einer statthaften Revision - von Ausnahmefällen abgesehen - ein Verfahrensmangel der Berufungsinstanz nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG nur dann berücksichtigt werden, wenn er innerhalb der Revisionsbegründungsfrist in der gehörigen Form gerügt worden ist. Im übrigen hat das LSG aber auch die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht überschritten. Auch wenn die Angaben über die erforderliche Anlernzeit in den einzelnen Beweismitteln auseinandergehen mögen, so stand es dem LSG doch frei, sich insoweit dem Gutachten des Dr. S anzuschließen, von dessen Richtigkeit es überzeugt war. Es ist rechtlich ohne Bedeutung, ob der Kläger die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten in einer kürzeren als der normalen Anlernzeit erworben hat, denn wesentlich ist, daß ein Hauer im Normalfall nicht von vornherein in der Lage ist, nach kurzer Einweisung und Einarbeitung am Arbeitsplatz die Tätigkeit eines Schichtlaboranten auszuführen. Der Senat hat bereits entschieden, daß eine dreimonatige Einweisung und Einarbeitung neue Kenntnisse und Fertigkeiten im Sinne des § 86 Abs. 2 RKG vermittle (vgl. Urteil vom 19. Oktober 1967 - 5 RKn 29/65 -; ebenso SozR Nr. 40 zu § 45 RKG). Es ist auch unwesentlich, daß der Kläger die neuen Kenntnisse und Fertigkeiten außerhalb seines Betriebes nicht verwerten kann, sondern in anderen Betrieben erneut angelernt werden müßte. Für die Frage, ob der Kläger nach § 86 Abs. 2 RKG nicht als vermindert bergmännisch berufsfähig gilt, ist nur von Bedeutung, ob er sein Arbeitsentgelt am konkreten Arbeitsplatz auf Grund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten erwirbt, ob also die neuen Kenntnisse und Fertigkeiten einerseits ausreichen und andererseits erforderlich sind, um die konkrete Tätigkeit zu verrichten. Das ist nach den Feststellungen des LSG für eine gewisse Zeit durchaus der Fall, denn bis zur Einführung der elektronischen Spektralautomaten waren zur Durchführung der Analysen die vom Kläger erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten notwendig und ausreichend.
Seit Einführung des elektronischen Spektralautomaten hat sich jedoch die Tätigkeit des Klägers wesentlich verändert. Zwar hat der Kläger die vorher erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten nicht verloren. Es ist jedoch fraglich, ob und inwieweit sie zur Verrichtung der vom Kläger ausgeübten Tätigkeit noch erforderlich sind. Solche Kenntnisse und Fertigkeiten, die für die Ausübung der maßgebenden Tätigkeit, auf die es im einzelnen Fall ankommt, ohne Bedeutung sind, können für den Erwerb des Entgelts nicht kausal sein und also auch nicht die negative Fiktion des § 86 Abs. 2 RKG rechtfertigen. Das gilt auch dann, wenn die Kenntnisse und Fertigkeiten erst später durch eine Änderung der Arbeitsbedingungen bedeutungslos geworden sind. Das Berufungsurteil läßt zwar erkennen, daß die Bedienung des elektronischen Spektralautomaten eine gewisse - kurze - Anlernung erfordert. Es fehlt jedoch die Feststellung, inwieweit dabei die früher erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten verwertet werden können und müssen. Darüber hinaus steht auch nicht fest, ob die Bedienung des elektronischen Spektralautomaten einem berufsfremden Versicherten schon nach kurzer Einweisung und Einarbeitung möglich ist oder ob die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten erst in einer echten Anlernung erworben werden können. Geht man von der nicht auszuschließenden Möglichkeit aus, daß auch jeder berufsfremde Versicherte in der Lage ist, die Tätigkeit des Klägers in ihrer jetzigen Form schon nach kurzer Einweisung und Einarbeitung zu verrichten, so erfordert diese Tätigkeit keine neuen Kenntnisse und Fertigkeiten im Sinne des § 86 Abs. 2 RKG, so daß auch der Erwerb des Entgelts nicht auf solchen Kenntnissen und Fertigkeiten beruhen kann. In einem solchen Falle wäre es unerheblich, daß der Kläger tatsächlich mehr als die persönliche Rentenbemessungsgrundlage verdient. Das LSG wird deshalb zu ermitteln und festzustellen haben, welche Kenntnisse und Fertigkeiten die Tätigkeit des Klägers nach Einführung des elektronischen Spektralautomaten erfordert, wie und in welcher Zeit sie erworben werden und wann die Tätigkeit des Klägers sich verändert hat.
Da die festgestellten Tatsachen zur abschließenden Entscheidung nicht ausreichen, hat der Senat das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen