Entscheidungsstichwort (Thema)
Landwirtschaft. mithelfender Familienangehöriger. Zeuge. Zeugenvernehmung. Glaubwürdigkeit. abweichende Würdigung. Verzicht auf erneute Vernehmung. 2. Instanz. Verfahrensfehler
Orientierungssatz
Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung, daß der Kläger nicht als mithelfender Familienangehöriger beim Heuholen verunglückte, aufgrund einer fehlerhaften Art und Weise der Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts gewonnen, wenn es unterlassen hat, die Angehörigen des Klägers unmittelbar als Zeugen zu hören. Solange es das unterlassen hatte, war das LSG an die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des SG gebunden, das diese Zeugen unmittelbar gehört und für glaubwürdig gehalten hatte (vgl BSG vom 18.2.1988 6 RKa 24/87 = SozR 2200 § 368a Nr 21).
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 1; RVO § 539 Abs 2; SGG §§ 117, 118 Abs 1 S 1; ZPO § 398 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.02.1988; Aktenzeichen L 5 U 86/86) |
SG Trier (Entscheidung vom 16.04.1986; Aktenzeichen S 3 U 50/85) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Entschädigung seines Unfalls vom 30. Januar 1984 als landwirtschaftlichen Arbeitsunfall.
Der 1959 geborene Kläger war im Hauptberuf als Karosseriebauer beschäftigt. Zeitweise half er in dem landwirtschaftlichen Betrieb seines Vaters mit. In der Nacht vom Sonntag, dem 29., zu Montag, dem 30. Januar 1984 kam er gegen 0.30 Uhr auf dem Weg nach Hause mit seinem Personenkraftwagen vom Typ BMW 323 i von der Fahrbahn ab. An dem Wagen entstand Totalschaden, während er nahezu unverletzt blieb. Zu Fuß ging er nach Hause. Dort stürzte er gegen 1.00 Uhr mit einer ca 3 Meter hohen, zum Heustall des landwirtschaftlichen Betriebes seines Vaters führenden Leiter so unglücklich in den Hof, daß er sich eine Kompressions-Luxationsfraktur Th 12 mit anschließender kompletter Querschnittslähmung unterhalb Th 12/L 1 zuzog. Seine Ehefrau brachte ihn mit Hilfe seines aus dem Nachbarort herbeigerufenen Schwagers in die Wohnung der Eltern, die zu dieser Zeit noch nicht von einem Ausflug zurückgekehrt waren. Nach der Rückkehr der Eltern wurde um 2.23 Uhr ein Notarztwagen angefordert, der den Kläger zum Krankenhaus D brachte. Anschließend wurde er nach T und schließlich in eine Spezialklinik für Rückenmarkverletzte in W verbracht.
In der Unfallmeldung vom 25. Juni 1984 gab der Kläger an, er habe am Abend vergessen gehabt, vom Heustall Heu herunterzuholen, damit seine Mutter am nächsten Morgen damit das Vieh füttern könne. Er sei deshalb die Leiter hinaufgeklettert, habe einen Tritt verfehlt und sei dadurch hinuntergefallen. Demgegenüber ließ sich die Beklagte von einem Arzt der Spezialklinik in W über Gerüchte berichten, daß der Kläger nicht beabsichtigt gehabt habe, Heu aus der Scheune zu holen, sondern sich dort habe verstecken wollen, um den Alkoholeinfluß zu verbergen, der eine der Autounfallursachen gewesen sei.
Die Beklagte lehnte es daraufhin ab, den Unfall als landwirtschaftlichen Arbeitsunfall zu entschädigen (Bescheid vom 22. Februar 1985).
Das Sozialgericht (SG) Trier hat ua die Ehefrau des Klägers, seine Eltern und seinen Schwager als Zeugen gehört und sodann der Klage stattgegeben (Urteil vom 16. April 1986). Das SG hielt es für erwiesen, daß der Kläger von der Leiter stürzte, als er über die Leiter den Heuboden hatte verlassen wollen, von dem er zuvor Heu für die morgendliche Viehfütterung herabgeworfen hatte. Dem entsprächen die Erstangaben des Klägers noch in der Unfallnacht gegenüber den Zeugen. An dieser Schilderung hätten der Kläger und seine Angehörigen die ganze Zeit festgehalten. Diese Schilderungen des Klägers und seiner Angehörigen seien nicht zweckgerichtet. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat allein noch die Krankenhausärztin E als Zeugin gehört und gestützt auf deren Aussage die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. Februar 1988): Aufgrund der Aussagen der Zeugin E stehe fest, daß der Kläger dieser Zeugin etwa 14 Tage nach dem Unfall "gestanden" habe, daß er nicht beim Heuholen, sondern bei dem Versuch, sich vor der Polizei zu verstecken, von der Leiter gestürzt sei. Das lasse sich in keinem Fall mit der Annahme eines landwirtschaftlichen Arbeitsunfalls vereinbaren. Das SG habe verkannt, daß es sich bei den Angaben des Klägers und seiner Angehörigen in der Unfallnacht auch dann um zweckgerichtete Angaben handele, wenn es dabei (noch) nicht um etwaige Entschädigungsansprüche gegangen sei, sondern um die Verheimlichung des vorangegangenen Verkehrsunfalls. Etwaige unrichtige Angaben des Klägers, seiner Ehefrau, seiner Eltern und seines Schwagers gegenüber der Notärztin Dr. G und den Rettungssanitätern sowie in späteren Anzeigen oder Vernehmungen ließen sich zwanglos dahin interpretieren, daß damit zunächst der Verkehrsunfall verheimlicht und später Ansprüche gegen die Beklagte gestützt werden sollten. Eine erneute oder weitere Beweisaufnahme sei unter diesen Umständen nicht erforderlich. Daß es dem Kläger und seinen Angehörigen in der Unfallnacht darum gegangen sei, den Verkehrsunfall nach Möglichkeit zu verheimlichen, ergebe sich nicht zuletzt auch daraus, daß die Verwandten des Klägers den Unfallwagen noch vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus abgeschleppt hätten.
Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt der Kläger, das angefochtene Urteil beruhe auf Verfahrensmängeln. Unter anderem macht er geltend, das LSG hätte seine Ehefrau, seine Eltern und seinen Schwager H -P S unmittelbar als Zeugen vernehmen müssen, obwohl sie schon vor dem SG als Zeugen gehört worden seien. Ein Berufungsgericht, das wie das LSG die Glaubwürdigkeit von Zeugen abweichend von der Meinung des Erstgerichts beurteilen wolle, sei verpflichtet, sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Wäre das LSG dieser Pflicht nachgekommen, hätte es sich von der Glaubwürdigkeit dieser Zeugen überzeugen können.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Für eine Entscheidung über den Entschädigungsanspruch des Klägers fehlen in dem Urteil ausreichende tatsächliche Feststellungen, die der Revisionsrüge des Klägers standhalten.
Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung, daß der Kläger nicht als mithelfender Familienangehöriger beim Heuholen verunglückte (§ 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1, § 548 Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-), aufgrund einer fehlerhaften Art und Weise der Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts gewonnen (§ 153 Abs 1, §§ 117, 118 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG- iVm § 398 Abs 1 Zivilprozeßordnung). Denn das LSG hat es unterlassen, die Angehörigen des Klägers unmittelbar als Zeugen zu hören (§§ 117, 153 SGG). Solange es das unterlassen hatte, war das LSG an die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des SG gebunden, das diese Zeugen unmittelbar gehört und für glaubwürdig gehalten hatte. Das BSG hat bereits entschieden, daß das Berufungsgericht sich nicht ohne weiteres über die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Erstgerichts hinwegsetzen darf, ohne den Zeugen selbst gesehen oder gehört zu haben (Urteil vom 18. Februar 1988 - 6 RKa 24/87 - SozR 2200 § 368a Nr 21 und BSG SozR 1500 § 117 Nr 3, jeweils mwN). Gerade dieser Fehler aber ist dem LSG unterlaufen, indem es die den Klagevortrag bestätigenden Zeugenaussagen der Angehörigen des Klägers nicht für beweiskräftig hielt. Ohne sich bei einer wiederholten Vernehmung dieser Zeugen einen persönlichen Eindruck von ihnen zu verschaffen, unterstellte es den Zeugen, sie hätten vor dem SG wie schon zuvor die Unwahrheit bekundet, um damit zunächst in der Unfallnacht den vorausgegangenen Verkehrsunfall zu verheimlichen und später die Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte zu stützen. Nur mit Hilfe dieser die persönliche Glaubwürdigkeit der Zeugen ausschließenden Unterstellungen konnte das LSG zu dem Ergebnis gelangen, das von der Zeugin E bekundete "Geständnis" des Klägers sei wahr, es widerlege alle vorangegangenen Angaben zum Unfallhergang und ließe sich nicht mit der Annahme eines landwirtschaftlichen Arbeitsunfalls vereinbaren.
Allein der Verfahrensfehler, daß das LSG die Ehefrau des Klägers, seine Eltern und seinen Schwager H -P S nicht als Zeugen vernommen hat, führt zur Zurückverweisung der Sache.
Da der Kläger auch im übrigen nur Verfahrensfehler geltend gemacht hat, die zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung führten, sofern sie vorlägen, stützt der Senat seine Entscheidung allein auf den dargelegten Verfahrensfehler (s auch das Urteil des Senats vom 30. April 1986 - 2 RU 65/85 -).
Das LSG wird nunmehr die Vernehmung der benannten Zeugen nachzuholen haben. Dabei wird es auch zu prüfen haben, ob es nach den §§ 103, 112 Abs 2 Satz 2 SGG erforderlich geworden ist, den Kläger zum Unfallhergang und zum Hergang seines angeblichen Geständnisses gegenüber der Zeugin E persönlich anzuhören (s auch BSG vom 26. Januar 1983 - 9b RU 56/82 - USK 8341).
Die Kostenentscheidung auch für das Revisionsverfahren bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen