Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Besuchs einer Fachschule als Berufsausbildung.

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Besuch einer Fachschule kann als Berufsausbildung iS des RVO § 1267 S 2 angesehen werden, wenn er zum Ziel hat, daß der Auszubildende über die mit dem Abschluß seiner Lehre erreichte Elementarstufe hinaus zu einer höheren Stufe des Berufs gelangt.

 

Orientierungssatz

Zum Begriff des "Berufs" iS des RVO § 1267 S 2.

 

Normenkette

RVO § 1267 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Oktober 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Kläger für die Zeit des Besuchs eines einjährigen Lehrgangs der Fachschule des Deutschen Eisenwaren- und Hausrathandels nach beendeter Lehre die Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus beanspruchen kann (§ 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

I

Der am 21. Oktober 1939 geborene Kläger bezog bis zur Beendigung seiner Lehre als Einzelhandelskaufmann - 31. März 1958 - Waisenrente aus der Rentenversicherung seines gefallenen Vaters. Anschließend war er als kaufmännischer Angestellter beschäftigt. Von Anfang 1959 bis Ende März 1962 leistete er Wehrdienst. Vom 1. April 1962 bis Ende März 1963 besuchte er die Internats-Fachschule des Deutschen Eisenwaren- und Hausrathandels in W. Seine Arbeitskraft und Zeit waren dabei durch Unterricht, sonstige schulische Veranstaltungen, Schulwege und Hausarbeit ganz beansprucht. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) suchte sich der Kläger durch den Besuch der Fachschule für den Einsatz in solchen Positionen dieses Handelszweiges zu qualifizieren, die bei höheren Anforderungen und größerer Verantwortung eine bessere Bezahlung bieten.

Die Beklagte lehnte die vom Kläger begehrte Weiterzahlung der Waisenrente ab, da keine Berufsausbildung vorliege (Bescheid vom 15. Mai 1962).

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die Beklagte verurteilt, Waisenrente für die Zeit vom 1. April 1962 bis 31. März 1963 zu gewähren, und die Berufung zugelassen (Urteil vom 24. April 1963).

Das LSG Niedersachsen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 22. Oktober 1963): Der Besuch der Fachschule sei Berufsausbildung. Der Begriff der Berufsausbildung könne nicht auf die für die Erlangung der Gesellen-, Gehilfen- oder Facharbeitereigenschaft unbedingt notwendige Grundausbildung beschränkt werden. Er umfasse vielmehr auch die weiterführende Ausbildung für gehobene und höhere Führungsstellen in Wirtschaft und Verwaltung. Nur eine solche Auslegung werde den sozialpolitischen Erfordernissen der modernen Industriegesellschaft und ihrem steigenden Bedarf an solchen Kräften gerecht. Wegen Einzelheiten des Sachverhalts hat das LSG auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung des Urteils des LSG und des Urteils des SG die Klage abzuweisen.

Die Beklagte rügt Verletzung des § 1267 RVO: Der Gesetzgeber stelle die Begriffe "Berufsausbildung", "berufliche Fortbildung bzw. Weiterbildung" und "Berufswechsel" getrennt gegenüber und messe ihnen je nach der Zweckbestimmung des Gesetzes verschiedene Rechtsfolgen bei. Berufsausbildung sei die allgemein anerkannte aufgrund öffentlich-rechtlicher oder allgemein verbindlicher Richtlinien durchgeführte Ausbildung mit dem Ziel einer entgeltlichen Berufsausübung. Sie sei abgeschlossen, wenn diese Vorbereitung auf den Beruf mit Prüfung, Aushändigung von Diplomen usw. erfolgreich beendet sei. Von Berufsfortbildung werde gesprochen, wenn aufgrund der abgeschlossenen beruflichen Grundausbildung im Anschluß an praktische Berufserfahrungen durch Arbeit im erlernten Beruf gehobene Beschäftigungsverhältnisse und Führungsstellen angestrebt würden. Die Weiterbildung setze einen bereits in der Ausbildung abgeschlossenen Beruf voraus (Hinweis auf AN 1929, 231; BSG 9, 199; 10, 176; 11, 278; 14, 285; §§ 131, 133 AVAVG).

In den Richtlinien des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 16. Juli 1962 zum Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) (BABl 1962, 513) seien die Begriffe Berufsausbildung und Berufsfortbildung klar gegenübergestellt. Die Leistungen, die nach dem AVAVG auch bei der beruflichen Fortbildung und Umschulung gewährt würden, bezweckten die weitgehende Förderung der Arbeitskraft und die leichtere und schnellere Wiedereingliederung in das Arbeitsleben. Demgegenüber sehe der klare Wortlaut des § 1267 RVO Waisenrente nur bei Berufsausbildung, nicht aber bei Berufsfortbildung vor. Die weitergehenden Wohltaten des AVAVG könnten nicht entsprechend bei § 1267 RVO herangezogen werden. Der Besuch einer Fachschule durch einen gelernten Einzelhandelskaufmann sei nirgends als unbedingte Voraussetzung für gehobene kaufmännische Berufe vorgesehen. Nach allgemeiner Erfahrung erschließe vielmehr in der Regel langjährige und erfolgreiche Bewährung in der Praxis den Zugang zu Führungsstellen. Der Kläger habe sein Berufsziel mit erfolgreichem Abschluß der Lehre erreicht und den Beruf eines kaufmännischen Angestellten bereits ausgeübt, bevor er sich zum Besuch der Fachschule entschlossen habe. Es handle sich daher nur um Fortbildung im Beruf.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er meint, wenn Arbeitskraft und Arbeitszeit durch Unterricht, Hausarbeit und schulische Veranstaltungen vollständig beansprucht würden, sei von Berufsausbildung zu sprechen. Der Begriff Berufsausbildung beschränke sich in der heutigen Zeit nicht mehr auf die notwendige Grundausbildung, sondern müsse eine möglichst umfassende weiterführende Ausbildung einschließen.

II

Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat Anspruch auf die "verlängerte" Waisenrente, weil er sich während des Fachschulbesuchs in Berufsausbildung befand (§ 1267 Satz 2 RVO).

Die Verweisung des LSG wegen Einzelheiten des Sachverhalts auf die Gerichts- und Verwaltungsakten umfaßt das Merkblatt und den Prospekt der Fachschule. Danach ist festgestellt, daß die Fachschule eine kommunale Schule ist (Schulträger ist die Stadt W.) sowie daß sie der Schulaufsicht des Landes Nordrhein-Westfalen untersteht. Als Bildungsziel der einjährigen Fachschule ist angegeben:

"Die moderne Wirtschaft verlangt Führungskräfte, die sowohl im kaufmännischen wie im fachlichen Bereich gut durchgebildet sind, damit sie fachkundige Berater ihrer Kunden sein und einen Fachhandelsbetrieb nach neuzeitlichen Gesichtspunkten führen oder als verantwortliche Mitarbeiter den Unternehmern bei diesen Aufgaben zur Seite stehen können. Die Studienpläne, die Unterrichtseinrichtungen, die Auswahl der Lehrkräfte und die Arbeitsweise der Fachschule sind dieser Entwicklung zur Ausbildung eines technisch ausgerichteten Fachkaufmanns angepaßt."

Als "Berechtigung" ist angeführt:

"Das Studienjahr schließt mit einer Abschlußprüfung ab, die unter Vorsitz eines Vertreters der Schulaufsichtsbehörden abgelegt wird. Das Abschlußzeugnis gibt den Nachweis einer gehobenen kaufmännischen und fachlichen Bildung als Eisenwaren- und Hausrathändler. Es erschließt bei der Bewährung in der Praxis den Zugang zu Führungsstellen in der Wirtschaft im eigenen oder fremden Betriebe, sei es im Fachhandel (Groß- und Einzelhandel) oder in der Industrie, bei Fachverbänden, Genossenschaften usw."

In § 1267 Satz 2 RVO wird nur Berufsausbildung genannt.

Es kann offen bleiben, ob nicht - entgegen der Ansicht der Beklagten - auch Weiterbildung, Fortbildung und Vervollkommnung im erlernten Beruf Berufsausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO sein kann (vgl. auch die Entscheidung des Senats vom 29. Oktober 1964 - 12/4 RJ 46/61 in SozR § 1267 RVO Nr. 14). Diese Unterscheidung wird zwar in verschiedenen anderen Vorschriften getroffen (z. B. §§ 79, 131, 133 AVAVG; Leistungsförderungsgesetz vom 22.4.1965 - BGBl I 341 - in Verbindung mit den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften vom 6.9.1965 - BABl 1965, 735; Verordnung zur Kriegsopferfürsorge vom 27.8.1965 - BGBl I 1031; Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zum Einkommenssteuerrecht in BStBl Teil III 1942, 48, 488, 489; 1965, 357; NJW 1966, 2289, 2294); jedoch handelt es sich im vorliegenden Falle allein um die Auslegung des § 1267 Satz 2 RVO. Dafür können andere Vorschriften, die von anderen Sachlagen ausgehen und dementsprechend die berufliche Bildung unter anderen Gesichtspunkten betrachten, nicht maßgeblich herangezogen werden. Im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO handelt es sich in einem Falle wie dem vorliegenden jedenfalls um Berufsausbildung.

Wie schon mehrfach entschieden, ist Berufsausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO die Ausbildung für einen in Zukunft gegen Entgelt auszuübenden Beruf, welche die Zeit und Arbeitskraft der Waise ganz oder überwiegend in Anspruch nimmt (BSG 14, 285; 18, 115; 21, 185; 23, 231; SozR § 1267 RVO Nr. 12). Daß die letztere Voraussetzung hier erfüllt ist, ist nach den Feststellungen des LSG nicht zweifelhaft. Der Senat hat aber ferner entschieden, daß Berufsausbildung nicht nur die Ausbildung für die Elementarstufe eines Berufes ist, sondern auch die darauf aufbauende Ausbildung für die nächsthöhere Stufe des Berufs jedenfalls dann, wenn diese von der unteren Stufe hinreichend klar abgegrenzt ist (Urteil vom 30. März 1967 - 12 RJ 590/63). Dabei ist unter "Beruf" im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO eine für die Dauer vorgesehene Arbeit zu verstehen, die der Existenzsicherung dient und die geeignet ist, in der Gesellschaft auftretende materielle und geistige Bedürfnisse zu befriedigen und zu der die Befähigung durch Ausbildung erworben wird (BSG 23, 231).

In Anwendung der in dem genannten Urteil vom 30. März 1967 ausgesprochenen Grundsätze ist hier auch der Besuch der Fachschule durch den Kläger Berufsausbildung; denn durch diese Ausbildung mit Abschlußprüfung unter Vorsitz eines Vertreters der Schulaufsichtsbehörde sollte und konnte der Kläger eine gehobene kaufmännische und fachliche Bildung als Eisenwaren- und Hausrathändler erhalten und dadurch befähigt werden, unter der Voraussetzung der Bewährung auch in der Praxis, Führungsstellen im Fachhandel oder bei Fachverbänden u. s. w. einzunehmen. Dabei ist naturgemäß zunächst nur an mittlere Führungsstellen zu denken. Es handelt sich bei dem Fachschulbesuch um eine Ausbildung mit dem Ziel, über die mit dem Abschluß der Lehre erreichten Elementarstufe hinaus zu einer höheren Stufe des Berufs des Einzelhandelskaufmanns zu gelangen. Eine derartige Ausbildung fällt unter § 1267 Satz 2 RVO.

Der Senat ist nicht der Auffassung, wie aus dem oben wiedergegebenen Begriff des Berufs im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO (BSG 23, 231) entnommen werden könnte, daß Berufsausbildung nur dann gegeben wäre, wenn bereits durch die Ausbildung allein eine höhere Stufe des Berufs erreicht wird, die dann als Ausgangspunkt für die Bewährung in der Praxis und den beruflichen Aufstieg dient. Es genügt vielmehr, wenn die Ausbildung Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, die erst später zusammen mit Bewährung in der praktischen Tätigkeit zum Aufstieg in eine höhere berufliche Stufe als die schon vor Beginn der Ausbildung erreichte führen.

Der Fachschulbesuch im vorliegenden Fall ist anderer Art als eine solche berufliche Fortbildung, die nur mit dem Ziel durchgeführt wird, in dem erlernten Beruf auf der erreichten Stufe zu bleiben, mit der technischen und fachlichen Entwicklung voranzuschreiten und ein Zurückfallen im Beruf zu verhindern, und die nicht als Berufsausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO zu betrachten sein mag. Die Ausbildung des Klägers in der Fachschule ging über dieses Ziel hinaus. Deshalb hat das LSG zu Recht "verlängerte" Waisenrente zugesprochen.

Bei dieser Rechtslage kann offenbleiben, ob der Besuch einer Fachschule wie im vorliegenden Fall auch unter den Begriff der Schulausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO zu bringen wäre. Der Begriff der Schulausbildung wird überwiegend dahin verstanden, daß er nur die Ausbildung an allgemeinbildendende Schulen und allenfalls noch an Hochschulen umfaßt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 690 a und ff des 28. Nachtrags; Verwaltungsvorschriften Nr. 6 zu § 18 des Bundesbesoldungsgesetzes). Es hätte erwogen werden können, ob die Ausbildung an Schulen, die von der Schulgesetzgebung des Landes Nordrhein-Westfalen als "Schulen" erfaßt und geregelt werden (§ 4 des Schulverwaltungsgesetzes vom 3. August 1958 - GVBl NRW 1958, 241 -), unter den Begriff der Schulausbildung fällt. Doch war dies hier, da jedenfalls Berufsausbildung vorliegt, nicht weiter zu prüfen.

Die Revision ist somit nicht begründet und zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380228

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge