Leitsatz (redaktionell)
Der Unfallversicherungsschutz wird nicht generell dadurch ausgeschlossen, daß der Versicherte für seine Wege nach und von der Arbeitsstätte wegen besonderer Verkehrsverhältnisse nicht die kürzeste Wegstrecke benutzt.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. Oktober 1960 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der im April 1895 geborene, in Güls bei Koblenz wohnhafte Kläger begehrt Entschädigung wegen seines am 11. April 1957 erlittenen Verkehrsunfalls, bei dem er Verletzungen davontrug, die ihn bis zum 27. Juli 1957 arbeitsunfähig machten.
Der Kläger war seit 1946 als Lagerarbeiter bei der Stadtverwaltung Koblenz beschäftigt. Zwischen seiner Arbeitsstätte in der H.-straße und seiner Wohnung führte die kürzeste Verbindung durch den Stadtteil Moselweiß über die mit einem Fußgängersteg versehene Eisenbahnbrücke nach Güls; insgesamt waren das 3,5 km. Der Kläger hatte diese Strecke jedoch nie benutzt. Vielmehr hatte er seit Beginn seiner Beschäftigung stets mit seinem Fahrrad eine Strecke befahren, die zunächst durch die Bardelebenstraße in entgegengesetzter Richtung zu seiner Wohnung verlief und dann in weitem Bogen über den Moselring durch die Stadtteile Lützel und Metternich auf eine nach Güls führende Landstraße mündete; hierbei legte er eine Entfernung von 6,4 km zurück. Am 11. April 1957 um 17 Uhr, als der Kläger nach Arbeitsschluß die Bardelebenstraße passierte, fuhr ihn ein anderer Radfahrer an und der Kläger stürzte. Bei seiner amtlichen Vernehmung gab der Kläger an, sein Sohn wohne in Koblenz-Metternich und auf den Fahrten nach und von der Arbeitsstätte besuche er diesen des öfteren. Es sei ganz klar, daß es sich bei dem Weg über Koblenz-Metternich um einen Umweg handele. Er habe jedoch morgens und abends nichts zu versäumen und deshalb immer den längeren Weg benutzt.
Mit Bescheid vom 26. September 1957 lehnte der Beklagte den Entschädigungsanspruch ab mit der Begründung, wegen des rein eigenwirtschaftlichen Zwecken dienenden Umwegs sei der Versicherungsschutz nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF entfallen.
Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) Koblenz hat der Kläger vorgetragen, bei Benutzung des kürzeren Weges über Koblenz-Moselweiß hätte er an der Gülser Eisenbahnbrücke eine Gebühr entrichten müssen, womit dieser Weg zu dem teuersten und umständlichsten werde. Außerdem sei der Weg über Metternich schon aus technischen Gründen der zweckmäßigste. Bei der Fahrt zur Gülser Brücke müsse nämlich das Fahrrad ein beträchtliches Stück bergauf und dann über die Brücke geschoben werden, was bei der Fahrt über Metternich nicht der Fall sei. Das SG hat am 29. Mai 1959 den Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids zur Entschädigungsleistung verurteilt: Der vom Kläger benutzte Weg über Koblenz-Metternich habe die kürzeste zumutbare Verbindung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung dargestellt. Die Benutzung der an sich kürzeren Strecke über Moselweiß sei nicht als zumutbar anzusehen, weil dort für die Überquerung der Brücke eine Gebühr hätte entrichtet werden müssen. Auf die Höhe dieser Gebühr komme es nicht an.
Mit seiner Berufung hat der Beklagte geltend gemacht, die Entrichtung eines Brückenzolls von zweimal 5 Pfg. je Arbeitstag sei für den Kläger bei seinem damaligen Arbeitsverdienst von monatlich rd. 300,- DM nicht ins Gewicht gefallen. Der vom Kläger eingeschlagene Umweg habe zudem gerade durch die verkehrsreichsten Straßen von Koblenz geführt. Der Kläger hat entgegnet, der Versicherungsschutz könne nicht entfallen, wenn zwecks Einsparung von Brückengebühr ein Umweg gemacht werde; denn sonst müßte folgerichtig die Benutzung von Fahrrädern - an Stelle von verfügbaren öffentlichen Verkehrsmitteln - wegen der stärkeren Verkehrsgefährdung der Radfahrer schlechthin den Versicherungsschutz ausschließen. Da aber dem Versicherten die Wahl des Verkehrsmittels freigestellt sei, behalte er den Versicherungsschutz auch, wenn er durch einen Umweg finanzielle Einbußen vermeiden wolle. Der ohne finanzielle Nachteile mögliche Weg stehe als der zumutbar kürzeste Weg unter Versicherungsschutz.
Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 21. Oktober 1960 die Entscheidung des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen: Der vom Kläger am Unfalltag benutzte Heimweg habe nicht den zumutbar kürzesten Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung dargestellt. Bei der Prüfung der Erheblichkeit eines Umwegs seien allerdings nicht bloß die Längen der zu vergleichenden Wegstrecken, sondern alle nach der Verkehrsanschauung maßgebenden Umstände zu berücksichtigen, insbesondere das gewählte Verkehrsmittel sowie die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit, im Hinblick auf dieses Verkehrsmittel einen bestimmten Weg einzuschlagen, um möglichst schnell und sicher die Arbeitsstätte bzw. Wohnung zu erreichen. Der Kläger habe den kürzesten Heimweg von 3,5 km auf 6,4 km, also auf nahezu das Doppelte, verlängert. Daß er diesen Umweg schon jahrelang benutzt habe, begründe den Versicherungsschutz nicht. Die Notwendigkeit, bei Überquerung der Gülser Eisenbahnbrücke arbeitstäglich ein Brückengeld von 0,10 DM zu entrichten, falle nicht maßgeblich ins Gewicht, da dieser Betrag bei dem damaligen Durchschnittseinkommen von monatlich rd. 300,- DM als unerhebliche finanzielle Belastung des Klägers anzusehen sei, der nur für sich und seine Ehefrau zu sorgen hatte. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 10. Januar 1961 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Februar 1961 Revision eingelegt und sie am 9. Februar 1961 wie folgt begründet: Im Tatbestand des angefochtenen Urteils sei der monatliche Bruttolohn des Klägers unzutreffend mit 309,- DM angegeben worden; in Wirklichkeit habe er seinerzeit nur ca. 294,- DM monatlich verdient. In seinem Schriftsatz vom 4. März 1958 an das SG habe der Kläger darauf hingewiesen, daß er bei dem Weg über die Gülser Brücke sein Fahrrad ein beträchtliches Stück bergauf und dann über die Brücke hätte schieben müssen. Für die Beurteilung der Rechtslage könnte es darauf ankommen, ob das Schieben des Fahrrads für den Kläger zumutbar gewesen sei, wenn die Steigungen durch Einschlagen eines Umwegs vermieden werden konnten; einem 62 Jahren alten Mann könne man eine so erhebliche Anstrengung und damit verbundene Gesundheitsgefährdung nicht zumuten, sondern müsse ihm die Wahl eines großen Umwegs von 2,9 km gestatten, zumal wenn dieser glatt und eben verlaufe. Auf die unzumutbare Überwindung einer Steigung komme es indessen gar nicht entscheidend an, weil bei den hier in Frage stehenden Unterschieden der örtlichen Wegelängen ein meßbarer zeitlicher Unterschied kaum vorhanden sei. Nach der Verkehrsanschauung sei der Kläger nicht genötigt gewesen, den kürzeren Weg über die Gülser Brücke einzuschlagen; denn die Ausgaben von monatlich 2,50 DM für Brückengeld seien bei seinem Einkommen als erheblich anzusehen. Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des LSG-Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 29. Mai 1959 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Er pflichtet dem angefochtenen Urteil bei und trägt außerdem vor, bei der Steigung an der Gülser Brücke handele es sich um eine Strecke von nur 80 bis 100 m. Auch einem 62-jährigen Mann sei das Schieben des Fahrrads auf einer so kurzen Strecke zuzumuten; im übrigen bestehe auch der vom Kläger benutzte Weg über Metternich keineswegs nur aus ebener Fahrbahn, sondern habe sogar eine Steigung von viel größerer Länge, nämlich 600 bis 700 m, auf welcher das Fahrrad ebenfalls zu schieben sei. Eine Einsparung von Brückengeld komme niemals als ausreichende Begründung für die Wahl eines erheblichen Umwegs in Betracht.
II
Die Revision ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte auch Erfolg.
Wie der erkennende Senat schon mehrmals entschieden hat, beschränkt sich der Versicherungsschutz nach § 543 RVO aF für Wege nach und von der Arbeitsstätte nicht auf die kürzeste Verbindung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung; grundsätzlich ist vielmehr der Versicherte frei in der Wahl nicht nur des von ihm benutzten Verkehrsmittels, sondern auch des Weges; die Wahl eines längeren Heimwegs stellt den Versicherungsschutz allerdings in Frage, wenn hierfür andere Gründe maßgebend sind als lediglich die Absicht, die Wohnung möglichst schnell und sicher zu erreichen, und die dadurch bedingte Verlängerung der Wegstrecke unter Berücksichtigung der nach der Verkehrsanschauung bedeutsamen Umstände als erheblich anzusehen ist (vgl. BSG 4, 219, 222; SozR RVO § 543 aF Nr. 21 Nr. 33).
Von diesen Grundsätzen ausgehend hat das LSG angenommen, beim Zurücklegen des 6,4 km langen Heimwegs - an Stelle der nur 3,5 km langen kürzesten Verbindung durch Moselweiß - habe sich der Kläger im Unfallzeitpunkt auf einem erheblichen Umweg befunden; das für die Wahl dieses Umwegs vom Kläger vorgetragene Argument, er habe die Entrichtung des Brückengeldes vermeiden wollen, falle nach der Verkehrsanschauung nicht maßgeblich ins Gewicht.
Das hierauf bezügliche Revisionsvorbringen greift nach Ansicht des Senats nicht durch.
Es kann dahingestellt bleiben, ob - wie der Beklagte in seiner Revisionserwiderung ausgeführt hat - der Gesichtspunkt der Ausgabenersparnis bei der versicherungsrechtlichen Beurteilung eines Umwegs niemals zu berücksichtigen ist. In dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit erlaubt jedenfalls die Abwägung zwischen der verhältnismäßig ganz geringen Höhe des Brückengeldes (dessen Entrichtung zudem noch für Dauerbenutzer durch die Ausgabe von Verbilligungskarten erheblich vereinfacht war), dem vom LSG bedenkenfrei mit rd. 300,- DM veranschlagten Monatseinkommen des Klägers und der bedeutenden Verlängerung des Weges auf fast die doppelte Entfernung nicht den Schluß, daß die vom Kläger gewählte Wegstrecke für ihn der zumutbar kürzeste Heimweg war, der Versicherungsschutz aus § 543 RVO aF deshalb erhalten blieb. Der Auffassung des Klägers, es komme nicht auf die örtliche Verlängerung des Heimwegs, sondern lediglich auf den - bei Benutzung eines Fahrrades unerheblichen - zeitlichen Unterschied an, pflichtet der Senat nicht bei.
Das LSG hat jedoch in den Gründen des angefochtenen Urteils nicht sämtliche Umstände berücksichtigt und gegeneinander abgewogen, die nach der Verkehrsanschauung für die Bestimmung des zumutbar kürzesten Weges ins Gewicht fallen können. Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß der Kläger bereits im Verfahren des ersten Rechtszuges behauptet hatte, der Weg über Moselweiß sei dadurch erschwert, daß bei der Gülser Eisenbahnbrücke eine Steigung bestehe, deretwegen das Fahrrad ein beträchtliches Stück bergauf geschoben werden müsse; bei der Fahrt über Metternich entfalle dieses Hindernis. Das SG ist auf diese Behauptung nicht eingegangen, da es den Klaganspruch schon unter anderen Gesichtspunkten als gerechtfertigt erachtet hat. Das LSG hätte sich hiermit auseinandersetzen müssen; denn unter den Umständen, die einen Radfahrer, zumal im vorgerückten Lebensalter, bei der Wahl einer bestimmten Fahrstrecke beeinflussen, können längere Steigungen, die zum Absteigen und zum Schieben des Rades zwingen, ganz erheblich ins Gewicht fallen. Dieses Vorbringen des Klägers war an sich als geeignet, den Umweg über Metternich als die kürzeste zumutbare Verbindung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung zu kennzeichnen. Daneben kann es auch entscheidend darauf ankommen, wie die Verkehrsverhältnisse auf den beiden miteinander zu vergleichenden Strecken beschaffen sind; auch hiermit hat sich das LSG nicht befaßt.
Zu diesen entscheidungserheblichen Fragen enthalten die Gründe des angefochtenen Urteils keine Feststellungen. Das neue Tatsachenvorbringen des Beklagten in der Revisionserwiderung hinsichtlich der Steigung an der Eisenbahnbrücke kann vom erkennenden Senat nicht berücksichtigt werden. Eine Entscheidung in der Sache selbst ist dem Senat mithin nicht möglich, so daß die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Diesem obliegt auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens.
Fundstellen