Orientierungssatz
Fehlerhafte Beweiswürdigung - ungenügende Sachaufklärung.
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 14.01.1974; Aktenzeichen L 2 J 20/73) |
SG Speyer (Entscheidung vom 05.10.1972; Aktenzeichen S 17 J 44/70) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. Januar 1974 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beklagte macht mit der nicht zugelassenen Revision ungenügende medizinische Sachaufklärung als wesentlichen Mangel im Verfahren des Landessozialgerichts (LSG) geltend (§§ 103, 162 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
In der Sache ist das Begehren des Klägers, seine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) umzuwandeln, umstritten. Die Beklagte hat die Umwandlung abgelehnt, weil der Kläger nicht erwerbsunfähig sei (Bescheid vom 28. Januar 1970). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Es hat sich auf das von ihm eingeholte innerfachärztliche Gutachten des Prof. Dr. H der I. Medizinischen Universitätsklinik M vom 25. August 1972 gestützt. Dieser hatte eine Fettsucht, eine essentielle Hypertonie mit Schädigung des Herzmuskels, eine Fettleber und einen Gallenblasenstein festgestellt, aber für den Kläger ganztätige leichte körperliche Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, für zumutbar erachtet und eine wesentliche Besserung bei intensiver Therapie als wahrscheinlich angesehen.
Im Berufungsverfahren legte der Kläger ein Attest seines behandelnden Arztes Dr. E vom 23. Februar 1973 über seine Blutdruckwerte vor. Das LSG hörte in der mündlichen Verhandlung am 14. Januar 1974 Medizinaldirektor Dr. H als Sachverständigen. Dieser meinte im Hinblick auf die Blutdruckwerte, daß der Kläger regelmäßig keinen geistigen und körperlichen Belastungen ausgesetzt werden dürfe. Darauf hat das LSG die Beklagte zur Umwandlung der Rente in eine Rente wegen EU ab Dezember 1969 verurteilt. Es hat auf die Blutdruckwerte bis 230/120 und bis 280/140 bei Treppensteigen vom Erdgeschoß zum 1. Stock hingewiesen und ausgeführt, es sei nicht zu verantworten, den Kläger mit leichten körperlichen Arbeiten, auch nicht stundenweise, zu beschäftigen; es schließe sich auch in der von Prof. Dr. H offengelassenen Frage, ob es der Schonungsbedürftigkeit des Klägers angepaßte Arbeitsplätze gebe, "der konkreten Sicht und Darstellungsweise" des Dr. H an. Zwar gebe es auch Arbeitsplätze, auf denen vollschichtig Zeitung gelesen werde, doch handle es sich dabei um vorwiegend geistige Tätigkeiten mit besonderer Verantwortung (Urteil vom 14. Januar 1974).
Die Beklagte hat die nicht zugelassene Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Sie meint, die Auffassung des LSG, der Kläger sei wegen seines Bluthochdruckleidens seit November 1969 erwerbsunfähig, werde durch die eingeholten Gutachten nicht begründet. Der Sachverständige Dr. H, auf dessen Stellungnahme das LSG sich im wesentlichen gestützt habe, habe den Kläger nicht selbst untersucht, sondern sei nur vom den vorhandenen Gutachten ausgegangen. Das LSG hätte das Gutachten der I. Medizinischen Universitätsklinik M vom 25. August 1972 (Prof. Dr. H) als Grundlage für seine Entscheidung heranziehen müssen, wonach der Kläger leichte körperliche Arbeiten vorwiegend im Sitzen ganztätig verrichten könne. Es sei nicht erkennbar, auf welche Befunde Dr. H seine Auffassung gestützt habe, der Kläger könne keinen regelmäßigen geistigen und körperlichen Belastungen ausgesetzt werden. Wenn das LSG dem Gutachten vom 25. August 1972 nicht habe folgen wollen, hätte es ein weiteres innerfachärztliches Gutachten einholen müssen. Es hätte nicht allein aufgrund des Termingutachtens, das lediglich aus den bekannten Befunden andere Schlußfolgerungen gezogen habe, das Leistungsvermögen des Klägers als vollständig aufgehoben ansehen dürfen.
Der Kläger ist nicht vertreten.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist zulässig, dann die Beklagte rügt mit ihren Ausführungen einen tatsächlich vorliegenden wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG (Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs. 1 SGG). Die Revision ist auch begründet, denn das LSG hätte bei ausreichender medizinischer Sachaufklärung möglicherweise anders entschieden.
Die Entscheidung des LSG, der Kläger sei erwerbsunfähig, wird durch die vorliegenden Gutachten nicht gedeckt. Die Ausführungen des Termingutachters Dr. H, der den Kläger nicht innerfachärztlich untersucht hat, reichen nicht aus, um die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers durch Prof. Dr. H, die dieser nach umfangreichen Untersuchungen abgegeben hat, zu widerlegen. Zwar ist das LSG in der Würdigung unterschiedlicher medizinischer Gutachten frei. Doch müssen solche Gutachten vergleichbar sein, d.h. auf etwa gleich umfangreichen und eingehenden Untersuchungen beruhen.
Wenn etwa aus gleichen Befunden sehr unterschiedliche Folgerungen für die Leistungsfähigkeit gezogen werden, werden die Sachverständigen zu den gegenteiligen Auffassungen der anderen Gutachter zu hören sein, damit etwaige fehlerhafte Beurteilungen fachkundig berichtigt werden oder abweichende Beurteilungen unter Kenntnis und unter ausdrücklicher Auseinandersetzung mit der gegenteiligen Auffassung nochmals begründet werden; ggf. ist ein entsprechend qualifizierter weiterer Gutachter zu den unterschiedlichen Beurteilungen der Leistungsfähigkeit des Versicherten durch die schon gehörten Sachverständigen heranzuziehen. Erst dann kann das Gericht in eine abschließende Würdigung unterschiedlicher, aber vergleichbarer Beurteilungen eintreten.
Im vorliegenden Fall hat Dr. H keine Fehler, Unvollständigkeiten, Widersprüche oder sonstige Mängel im Gutachten des Prof. Dr. H aufgezeigt. Er hat nur eine andere Meinung zur gesundheitlichen Belastbarkeit des Klägers geäußert. Es wäre daher notwendig gewesen, daß das LSG etwa Prof. Dr. H zu der Auffassung des Dr. H hätte Stellung nehmen lassen oder daß es ein neues eingehendes Gutachten eines anderen Sachverständigen eingeholt hätte, bevor es sich von dem Ausmaß der dem Kläger verbliebenen gesundheitlichen Leistungsfähigkeit überzeugte, insbesondere nachdem die im Juni 1972 durchgeführten Untersuchungen in der I. Medizinischen Universitätsklinik M zur Zeit der Stellungnahme des Dr. H bereits 1 1/2 Jahre zurücklagen.
Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, da der medizinische Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt ist. Der Rechtsstreit ist daher an das LSG zurückzuverweisen. Im übrigen wird das LSG zu berücksichtigen haben, daß die Rente wegen BU oder EU nicht für Leistungseinschränkungen bestimmt ist, die auf alimentäre Fettsucht und dadurch bedingte Gesundheitsstörungen zurückgehen und durch entsprechende Bekämpfung der Fettsucht beseitigt oder gebessert werden können. In derartigen Fällen dürfte zu erwägen sein, zunächst gezielte Heilmaßnahmen zur Verhinderung und Beseitigung solcher Gesundheitsstörungen, die die Erwerbsfähigkeit bedrohen, durchzuführen (§ 1236 RVO; vgl. auch BSG in SozR Nr. 9 zu § 1236 RVO).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen