Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfall aus innerer Ursache. ursächlicher Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Unfall. mitwirkende betriebliche Umstände

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes bei Unfällen aus innerer Ursache.

 

Orientierungssatz

1. Die Tatsache, daß der Sturz einer Versicherten durch die bei ihr bestehende Kreislaufhypotonie verursacht worden ist, also auf einer inneren Ursache beruht, schließt nicht schon ohne weiteres einen Arbeitsunfall aus. Denn auch bei einem derartigen Unfall könnte der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) und dem Unfall gegeben sein, wenn betriebsbedingte Umstände (zB Überanstrengung, Arbeit bei drückender Hitze) die Kreislaufhypotonie beeinflußt haben und deshalb zwei Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn in Betracht zu ziehen sind (vgl BSG 27.11.1980 8a RU 12/79 = SozR 2200 § 548 Nr 51).

2. Es wird von der Rechtsprechung des BSG nicht gefordert, daß bei Unfällen aus innerer Ursache als mitwirkende betriebliche Umstände nur solche in Betracht kommen, die den Versicherten einer Gefährdung aussetzen, die um ein Mehrfaches die im privaten Lebensbereich des Versicherten bestehende Gefährdung übersteigen.

3. Die Möglichkeit, daß die Versicherte durch ihre Kreislaufhypotonie auch an anderer Stelle bei einer nichtversicherten Tätigkeit auf einer Treppe hätte stürzen und sich verletzen können, schließt allein als hypothetische Ursache den Versicherungsschutz bei einer versicherten Tätigkeit nicht aus.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.09.1984; Aktenzeichen S 17 U 130/83)

SG Köln (Entscheidung vom 25.04.1984; Aktenzeichen S 21 (18) U 56/82)

 

Tatbestand

Die bei der beklagten Krankenkasse für den Fall der Krankheit versicherte Frau D. (D.) war als Buchhalterin bei der Firma S. in E. beschäftigt. Am 20. Oktober 1980 fiel sie nach der Unfallanzeige des Beschäftigungsunternehmens infolge einer Kreislaufschwäche in Ohnmacht und stürzte auf einer Treppe. Gegenüber der klagenden Berufsgenossenschaft gab Frau D. an, sie sei im Gebäude der Zentralverwaltung der Firma S. auf dem Weg zur Abklärung einer Gutschrift beim Einkauf im ersten Stock eine Treppe heruntergefallen. Nach dem Durchgangsarztbericht des Privatdozenten Dr. H. vom 23. Oktober 1980 hatte Frau D. eine Schädel- und Rückenprellung erlitten. Der hinzugezogene Facharzt für Neurologie und Psychiatrie berichtete am 22. Oktober 1980, daß bei Frau D. infolge des Sturzes ein Zustand nach leichter Kopfprellung frontal rechts sowie ein Zustand nach leichter Commotio cerebri bestehe. Die Klägerin wendete für die Heilbehandlung von Frau D. 1.188,55 DM auf.

Mit Schreiben vom 9. Dezember 1980 verlangte die Klägerin von der Beklagten gemäß § 1509a der Reichsversicherungsordnung (RVO) den Ersatz ihrer Aufwendungen für Frau D., da die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls nicht erfüllt gewesen seien. Die Beklagte lehnte eine Zahlung ab.

Die beim Sozialgericht (SG) Köln erhobene Klage der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 25. April 1983). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin den Betrag zu erstatten, den sie nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung aus Anlaß des Unfalls der Frau D. am 20. Oktober 1980 hätte leisten müssen (Urteil vom 9. September 1984). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Frau D. habe keinen Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO erlitten. Da die bei ihr bestehende Erkrankung (Kreislaufhypotonie) die wesentliche Ursache ihres Unfalls gewesen sei, fehle es an einem ursächlichen Zusammenhang zwischen ihrer versicherten Tätigkeit und dem Unfall. Ein ursächlicher Zusammenhang, der zur Annahme eines entschädigungspflichtigen Wegeunfalls führen könnte, wäre nur dann anzunehmen, wenn neben der inneren Ursache auch äußere Momente - im vorliegenden Fall die Benutzung der Treppe - eine wesentliche Mitursache für den Unfall von Frau D. bzw dessen Auswirkungen gesetzt hätten. Das werde immer dann anzunehmen sein, wenn der Versicherte auf seinem Weg Gefährdungen ausgesetzt gewesen sei, die um ein Mehrfaches die im privaten Leben bestehende Gefährdung überstiegen habe. Denn von einer besonderen Betriebsgefahr könne regelmäßig nur dann ausgegangen werden, wenn sie typische Merkmale des Betriebes aufweise und wegen ihrer Beschaffenheit als in besonderem Maße gefahrenträchtige Einrichtung gelte. Die von Frau D. zur Zeit des Unfalls benutzte Treppe habe jedoch keine besondere Gefahr verursacht. Treppen dieser Art seien überall, auch im privaten Lebensbereich, vorhanden. Da die von Frau D. benutzte Treppe nicht im Sinne einer allgemeinen Verkehrsgefahr wesentliche Mitursache des Unfalls gewesen sei, der Unfall sich vielmehr aus innerer Ursache ereignet habe, sei die Beklagte zum Ersatz der der Klägerin entstandenen Kosten zu verurteilen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und trägt vor, daß Frau D. zur Unfallzeit einen mit ihrer versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg zurückgelegt habe. Auch wenn sie dabei aus innerer Ursache gestürzt sein sollte, sei doch die Treppe als eine gefahrenträchtige Betriebseinrichtung eine wesentliche Mitursache für den Unfall, zumindest für die Schwere der erlittenen Verletzungen.

Die Beklagte beantragt dem Sinne nach, das Urteil des LSG vom 19. September 1984 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 25. April 1983 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, daß als rechtlich allein wesentliche Ursache für das Zustandekommen des Unfalls nur der dem unversicherten Lebensbereich von Frau D. zugehörende Gesundheitszustand in Betracht komme. Die Beschaffenheit der Unfallstelle sei keine rechtlich wesentliche Bedingung für die Art und Schwere der Verletzungen gewesen. Sie hätten auch zu ebener Erde und bei normaler Beschaffenheit des Bodens auftreten können. Daher könne es auch offen bleiben, ob eine normale Treppe überhaupt als eine gefahrenträchtige Unfallstelle anzusehen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.

Der auf § 105 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) gegründete Erstattungsanspruch der Klägerin hängt ua davon ab, daß der Unfall, von dem Frau D. am 20. Oktober 1980 betroffen worden war, kein von der Klägerin zu entschädigender Arbeitsunfall gewesen ist, die Klägerin also für die Heilbehandlung der Frau D. aus Anlaß ihres Unfalls der unzuständige Leistungsträger ist, die Heilbehandlung vielmehr von der Beklagten zu gewähren gewesen wäre.

Der vom LSG festgestellte Sachverhalt reicht nicht für die Entscheidung aus, daß Frau D. keinen Arbeitsunfall erlitten hat. Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet. Die Tatsache, daß der Sturz von Frau D. durch die bei ihr bestehende Kreislaufhypotonie verursacht worden ist, also auf einer inneren Ursache beruht, schließt nicht schon ohne weiteres einen Arbeitsunfall aus. Denn auch bei einem derartigen Unfall könnte der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit der Frau D. als Buchhalterin (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) und dem Unfall gegeben sein, wenn betriebsbedingte Umstände (zB Überanstrengung, Arbeit bei drückender Hitze) die Kreislaufhypotonie beeinflußt haben und deshalb zwei Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn in Betracht zu ziehen sind (vgl BSG SozR 2200 § 548 Nr 51). Ob im vorliegenden Fall betriebsbedingte Umstände, die Einfluß auf die Kreislaufhypotonie der Frau D. hätten haben können, ursächlich für den Unfall gewesen sind, ist nicht aufgeklärt worden. Frau D. ist dazu weder von den beiden Versicherungsträgern noch von den vorinstanzlichen Gerichten gehört worden.

Sollte sich nicht feststellen lassen, daß die Kreislaufhypotonie von Frau D. am Unfalltag auch durch betriebliche Umstände beeinflußt worden war, kann der ursächliche Zusammenhang zwischen ihrer versicherten Tätigkeit und dem Unfall auch dadurch gegeben gewesen sein, daß Frau D. der Gefahr, der sie erlegen ist, infolge ihrer durch die Tätigkeit bedingten Anwesenheit auf der Unfallstätte ausgesetzt und der Unfall in seiner Art oder Schwere wahrscheinlich durch die versicherte Tätigkeit bedingt war und sonach ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der Unfallstelle und den Verletzungen oder ihrer Schwere bestanden hat (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 480 o I mit Nachweisen ua der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts und des Bundessozialgerichts, insbesondere RVA EuM 33, 15; BSG SozR Nr 18 zu § 543 RVO aF; BSG Urteile vom 30. Oktober 1964 - 2 RU 38/64 - und vom 29. März 1984 - 2 RU 21/83 -). Daß nach Meinung des LSG als mitwirkende betriebliche Umstände nur solche in Betracht kommen, die den Versicherten einer Gefährdung aussetzen, die um ein Mehrfaches die im privaten Lebensbereich des Versicherten bestehende Gefährdung übersteigen, wird von der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts nicht gefordert. Das vom LSG angeführte Urteil des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Mai 1984 (5a RKnU 3/83) und das in diesem Urteil zitierte Urteil des 8. Senats vom 22. Juni 1976 (SozR 2200 § 548 Nr 20) gehen davon aus, daß der Verletzte bei einer dem privaten Bereich dienenden sogenannten eigenwirtschaftlichen Tätigkeit verunglückt sei. Im hier zu entscheidenden Fall ist Frau D. dagegen bei einer der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Verrichtung gestürzt. Zudem ist diesen beiden Urteilen auch nicht zu entnehmen, daß von nach Art oder Schwere des Unfalls wesentlich mitwirkenden betrieblichen Umständen regelmäßig nur dann gesprochen werden könne, wenn sie typische Merkmale des Betriebes aufweisen und wegen ihrer Beschaffenheit als in besonderem Maße gefährliche Einrichtung gelten. Der 5. Senat hat den erforderlichen Kausalzusammenhang als gegeben angesehen, weil eine objektiv gefährliche Betriebseinrichtung (Bahngleise, über die der Versicherte gesprungen und dabei gestürzt war) den Unfall wesentlich verursacht habe. Auch der jetzt nicht mehr für Angelegenheiten der Unfallversicherung zuständige 8. Senats hat es für ausreichend gehalten, daß bei einer an sich unversicherten Tätigkeit (Einnahme des Mittagessens in der Kantine) Versicherungsschutz gegeben sein könne, wenn eine Betriebseinrichtung den Unfall wesentlich mitverursacht hat. Er erwähnt lediglich beiläufig, daß in dem von ihm entschiedenen Fall (Einklemmen in die Drehtür beim Verlassen der Kantine) die Drehtür nicht nur eine betriebliche, sondern dazu auch noch im besonderen Maße gefahrenträchtige Einrichtung gewesen sei.

In dem jetzt hier zu entscheidenden Fall befand sich Frau D., wie bereits dargelegt, im Zeitpunkt des Unfalls auf einem mit ihrer versicherten Tätigkeit als Buchhalterin zurückgelegten Weg, auf dem sie ua eine mehrstufige Treppe zu begehen hatte. Unter den gegebenen Umständen wäre vom LSG zu prüfen gewesen, ob Art oder Schwere des Unfalls durch die von ihr ausgeübte versicherte Tätigkeit (Zurücklegung eines über die Treppe führenden Weges) verursacht worden ist. Das LSG erwähnt im angefochtenen Urteil zwar die von Frau D. erlittenen Verletzungen und hat Frau D. auch um eine Auskunft über den Hergang ihres Unfalls gebeten. Jedoch hat es nicht dazu Stellung genommen, inwieweit ein Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der Unfallstelle (Treppe) und den erlittenen Verletzungen oder ihrer Schwere besteht. Ein medizinischer Sachverständiger ist dazu nicht gehört worden. Die von Frau D. am 4. Juni 1984 gegebene Auskunft wird nicht erwähnt.

Wenn festgestellt ist, daß als Ursachen für den Unfall von Frau D. und dessen Folgen neben der nicht betrieblich bedingten Kreislaufhypotonie auch betriebliche Umstände als Ursachen in naturwissenschaftlich-philosophischem Sinn in Betracht kommen, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles (s BSG SozR Nr 28 zu § 548 RVO) die Wertentscheidung zu treffen, ob beide Ursachen etwa in gleichem Maße wesentlich für den Unfall waren und beide Ursachen dann auch als Ursachen im Rechtssinn anzusehen sind oder ob die Kreislaufhypotonie gegenüber den betriebsbedingten Umständen von so überragender Bedeutung war, daß sie allein als wesentliche Ursache im Rechtssinn für den Unfall anzusehen ist, die betriebsbedingten Umstände dagegen als - unwesentliche - Gelegenheitsursache außer Betracht zu bleiben haben (vgl Brackmann aaO S 480 k). Bei der Wertentscheidung befindet das Gericht über die Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz reichen soll (vgl Brackmann aaO S 480 i, 487 o I). Die Möglichkeit, daß die Klägerin durch ihre Kreislaufhypotonie auch an anderer Stelle bei einer nichtversicherten Tätigkeit auf einer Treppe hätte stürzen und sich verletzen können, schließt allein als hypothetische Ursache den Versicherungsschutz bei einer versicherten Tätigkeit nicht aus. Hätte die Klägerin den Unfall durch Stolpern auf der Treppe erlitten, wäre der ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit auch nicht deshalb infrage gestellt, daß sie auch zB zu Hause auf einer Treppe hätte stolpern können. Der Senat hat zwar die gewöhnliche Härte des Straßenpflasters oder des Fußbodens auf der Betriebsstätte für sich allein nicht als eine Beschaffenheit des Weges oder der Betriebsstätte angesehen, die als wesentliche Bedingung in dem oa Sinne gewertet werden kann, sofern nicht besondere Umstände hinzutreten (BSG SozR Nr 18 zu § 543 RVO aF und Nr 28 zu § 548 RVO; Brackmann aaO Seite 480 o I/oII). Der vorliegende Fall unterscheidet sich hiervon hinsichtlich seiner besonderen Umstände schon dadurch, daß Frau D. den Sturz durch ihre Kreislaufhypotonie bei einer ihrer versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Verrichtung erlitten hat. Eine durch eine Ohnmacht bei einer der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Verrichtung auf einer Treppe erlittene Körperverletzung unterscheidet sich aber auch in der rechtlichen Wertung des ursächlichen Zusammenhangs von einem Körperschaden, der zwangsläufig mit dem Zusammenbrechen aus Anlaß einer Ohnmacht hervorgerufen wurde.

Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664963

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