Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorverfahren bei Vornahmeklage. Nachholung des Vorverfahrens. Umdeutung der (unzulässigen) Klage in (zulässigen) Widerspruch
Orientierungssatz
1. Einer Vornahmeklage muß ein Vorverfahren vorausgehen. Die Durchführung des Vorverfahrens und dessen Abschluß mit dem Widerspruchsbescheid ist eine Prozeßvoraussetzung, die, solange sie nicht erfüllt ist, den Erlaß eines Urteils in der Sache selbst ausschließt. Dieser Mangel kann auch nicht durch - ausdrücklichen oder stillschweigenden - Verzicht der Beteiligten geheilt werden; er ist, da er die Zulässigkeit des Rechtsweges betrifft, bei der zugelassenen Revision auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu berücksichtigen (vgl BSG 1961-11-30 4 RJ 183/59 = BSGE 16, 21). Allerdings genügt es, wenn das Vorverfahren bis zur letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanzen nachgeholt wird.
2. In der (unzulässigen) Klage ist hilfsweise zugleich der Widerspruch als das gegebene Rechtsmittel enthalten (vgl BSG 1966-06-22 3 RK 64/62 = BSGE 25, 66); das gilt insbesondere dann, wenn dem angefochtenen Verwaltungsakt die unrichtige Belehrung angefügt ist, es könne - fakultativ - Klage oder Widerspruch erhoben werden.
Normenkette
SGG § 78 Abs. 3 Fassung: 1974-07-30, Abs. 1 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 22.06.1976; Aktenzeichen L 1 19/76) |
SG Bremen (Entscheidung vom 17.02.1976; Aktenzeichen S J 305/75) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 22. Juni 1976 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte verpflichtet ist, im Wege der Neufeststellung der Rente auch Beitragszeiten von 1935 bis 1942 zu berücksichtigen (§ 1300 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Als die Klägerin im März 1974 Rente beantragte, gab sie an, ihr seien bei der Heirat (1. Eheschließung: 24. September 1942) Beiträge erstattet worden; in dem Anschreiben der von ihr beauftragten Sozialarbeiterin sind in diesem Zusammenhang Beiträge für die Jahre von 1935 bis 1942 genannt. Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 11. Oktober 1974 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Dieser Bescheid, dem Beiträge ab 1950 zugrundeliegen, ist nicht angefochten worden.
Im April 1975 beantragte die Klägerin die Neufestsetzung ihrer Rente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten ab 1935. Die Beklagte lehnte dies ab, da auf Antrag vom 26. September 1942 gemäß Bescheid vom 3. November 1942 die Beiträge aus den Versicherungskarten Nr 1 bis 7 für die Jahre von 1935 bis 1942 anläßlich der Heirat im Betrage von 87,70 RM erstattet worden seien (Bescheid vom 29. September 1975 mit der Rechtsmittelbelehrung, es könne entweder Widerspruch oder unmittelbar Klage erhoben werden).
Die von der Klägerin hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Bremen abgewiesen (Urteil vom 17. Februar 1976), die Berufung das Landessozialgericht (LSG) Bremen durch Urteil vom 22. Juni 1976 zurückgewiesen: Die Voraussetzungen für die Rentenneufeststellung nach § 1300 RVO lägen nicht vor, weil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles davon ausgegangen werden müsse, daß die von 1935 bis 1942 entrichteten Beiträge erstattet worden seien. Der Wirksamkeit der Erstattung gegenüber der Klägerin stehe nicht entgegen, daß deren damaliger Ehemann den Antrag unterzeichnet habe; dies sei in rechtsgeschäftlicher Vertretung geschehen.
Die Klägerin hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie bestreitet weiterhin, ihren damaligen Ehemann zur Antragstellung bevollmächtigt und den Betrag von 87,70 RM erhalten zu haben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 22. Juni 1976 aufzuheben, die Beklagte zu verurteilen, ihre in der Zeit von 1935 bis 1942 geleisteten Beiträge rentensteigernd zu berücksichtigen und darüber einen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als sie zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreites an das LSG führt.
Das Berufungsgericht hätte (ebenso wie die erste Instanz) nicht in der Sache entscheiden dürfen, wenn und solange kein Vorverfahren durchgeführt, dh mit dem Widerspruchsbescheid beendet worden ist.
Mit dem Bescheid vom 29. September 1975 hat die Beklagte nicht nur die "Anerkennung" einer Beitragszeit abgelehnt, sondern - da bereits Rente gewährt wird - über den Wortlaut des Bescheides hinaus die Neufeststellung einer (höheren) Leistung iS des § 1300 RVO. Davon ist auch das LSG ausgegangen und hat ausgeführt, der Rentenbescheid vom 11. Oktober 1974 sei gemäß § 77 SGG bindend geworden. Das Klagebegehren umfaßt demnach die Behauptung, die Beklagte habe zu Unrecht an der Bindungswirkung des Rentenbewilligungsbescheides festgehalten und die Neufeststellung der Rente abgelehnt, anstatt sich davon zu überzeugen, daß diese "zu niedrig festgestellt worden" sei, da weitere Beitragszeiten zugrundegelegt werden müßten. Eine solche Klage stellt sich als (mit der Anfechtungsklage verbundene) Verpflichtungsklage iS des § 54 Abs 1 S. 1 SGG dar, gerichtet auf den "Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes" (vgl hierzu und zu § 79 Angestelltenversicherungsgesetz = § 1300 RVO BSGE 20, 199, 200 = SozR Nr 11 zu § 79 SGG). Dagegen handelt es sich hierbei nicht um eine kombinierte Anfechtungs- und (unechte) Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG. In BSGE 20, 199, 200 ist diese Klageart schon deshalb verneint worden, weil das prozessuale Ziel die Neufeststellung der Rente und damit die Bescheiderteilung sei. Dem kann hinzugefügt werden, daß auch die nach § 1300 RVO erforderliche - wenngleich vom Gericht unter bestimmten Voraussetzungen zu fingierende - "Überzeugungsbildung" des Versicherungsträgers von der Unrichtigkeit des früheren Bescheides der unmittelbaren Verurteilung zur Leistung im Wege steht. Im Rahmen des § 1300 RVO hat der Neufeststellungsbescheid konstitutive Bedeutung, weswegen es der Verpflichtungsklage (hier: Vornahmeklage zum Erlaß eines bestimmten Verwaltungsaktes) bedarf; beim Rechtsanspruch auf eine Leistung dagegen hat der Bescheid des Versicherungsträgers nur feststellende Wirkung, so daß sich die entsprechende Klage direkt auf die Gewährung einer Leistung richtet.
Der Vornahmeklage muß ein Vorverfahren vorausgehen. Das ergibt sich aus § 78 Abs 3 SGG iVm Abs 1 dieser Vorschrift in der seit dem 1. Januar 1975 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625). Ausnahmen hiervon enthalten lediglich die in § 78 Abs 1 Nr 1 bis 3 enthaltenen Fallgruppen; davon kommt aber vorliegend keine in Betracht. Diese Regelung entspricht der bisher in §§ 78, 79 Nr 2 SGG aF enthaltenen. Die Wahlmöglichkeit zwischen (zunächst durchzuführendem) Vorverfahren und (unmittelbarer) Klage ist in den Bereichen der Renten- und Unfallversicherung sowie der Kriegsopferversorgung nur hinsichtlich der Anfechtungs- und Leistungsklage eingeräumt worden (vgl § 78 Abs 2 SGG); sie scheidet also hier aus.
Die Vorinstanzen haben die Klage auch als Vornahmeklage aufgefaßt; das Urteil des LSG ist als Verpflichtungsurteil anzusehen. Dabei hat das Berufungsgericht jedoch unbeachtet gelassen, daß die Durchführung des Vorverfahrens und dessen Abschluß mit dem Widerspruchsbescheid eine Prozeßvoraussetzung ist, die, solange sie nicht erfüllt ist, den Erlaß eines Urteils in der Sache selbst ausschließt. Dieser Mangel kann auch nicht durch - ausdrücklichen oder stillschweigenden - Verzicht der Beteiligten geheilt werden; er ist, da er die Zulässigkeit des Rechtsweges betrifft, bei der zugelassenen Revision auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu berücksichtigen (BSGE 4, 246; 8, 3, 9; 16, 21, 23).
Allerdings genügt es, wenn das Vorverfahren bis zur letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanzen nachgeholt wird. Da dies hier bisher in Form der Erteilung eines Widerspruchsbescheides nicht geschehen ist, stellt sich die Frage, ob in dem Klageabweisungsantrag der Beklagten zugleich ein Widerspruchsbescheid gesehen, also insoweit eine Umdeutung vorgenommen werden kann. Ob generell aufgrund der Neugestaltung des § 78 SGG durch das Änderungsgesetz vom 30. Juli 1974 die Umdeutung einer Prozeßerklärung in einen Verwaltungsakt ermöglicht oder erleichtert worden ist (bejahend anscheinend SozR 1500 § 78 Nr 8 S. 15), kann hier auf sich beruhen; denn vorliegend besteht die Besonderheit, daß Versicherungsträger und Widerspruchsstelle nicht identisch sind, so daß deshalb eine Konversion entfällt (BSGE 20, 199, 200; Meyer-Ladewig, SGG, § 78 Anm 3; derselbe aber in Die Sgb 1978, 160, 162). Die Entscheidung der Widerspruchsstelle kann nicht durch das Festhalten (der Verwaltung) des Versicherungsträgers am "Erstbescheid" ersetzt werden. An diesem Ergebnis vermag auch nichts zu ändern, wenn nach der Sach- und Rechtslage keine andere Entscheidung der Widerspruchsstelle zu erwarten ist.
In der (unzulässigen) Klage ist zugleich der Widerspruch als das gegebene Rechtsmittel enthalten (vgl BSGE 20, 199, 201; 25, 66, 68); das muß jedenfalls und erst recht hier gelten, wo dem angefochtenen Verwaltungsakt die unrichtige Belehrung angefügt ist, es könne - fakultativ - Klage oder Widerspruch erhoben werden.
Um den fehlenden Widerspruchsbescheid in das Verfahren einbeziehen und eine gerichtliche Entscheidung in der Sache selbst herbeiführen zu können, war es sinnvoll und prozeßökonomisch geboten, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 S. 2 SGG), das seinerseits zunächst die Beendigung des Vorverfahrens wird abwarten müssen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen