Leitsatz (amtlich)
Treffen eine Rente aus eigener Versicherung sowie eine Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusammen, so ist RVO § 1280 Abs 1 vor RVO § 1278 Abs 1 S 1 anzuwenden.
Leitsatz (redaktionell)
Dem Recht der Sozialversicherung ist der Satz, daß bei der Beweiswürdigung im Zweifel zugunsten des Versicherten oder Berechtigten zu entscheiden sei (in dubio pro aegroto), fremd.
Es gibt ferner keine Regel, wonach bei Auslegung sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften allgemein die für den Leistungsberechtigten günstigere Auslegung vorrangig ist, es sei denn, daß ein derartiger Wille des Gesetzgebers der auszulegenden Vorschrift zugrunde liegt.
Normenkette
RVO § 1280 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1278 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. August 1965 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Auszahlungsbetrages der der Klägerin von der Beklagten gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. März bis 2. Dezember 1962.
Die Klägerin bezieht mehrere Renten, und zwar von der Beklagten nach einem Arbeitsunfall im August 1961 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, von der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten eine Verletztenrente und von der Landesversicherungsanstalt (LVA) H eine Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres 1944 verstorbenen Ehemannes.
Die Beklagte berechnete die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für 1962 auf monatlich 125,40 DM, wovon auf eine Zurechnungszeit 32,- DM entfielen; die persönliche Bemessungsgrundlage betrug 3.932,- DM. Die Verletztenrente wurde der Klägerin von Februar 1962, und zwar zunächst vorschußweise, bis zum 2. Dezember 1962 als Vollrente nach einem Jahresarbeitsverdienst von 6.431,- DM in Höhe von 357,30 DM monatlich gezahlt. Vom 14. August 1962 bis zum 27. November 1962 befand sich die Klägerin in Heilanstaltspflege. Seit dem 3. Dezember 1962 wurde die Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 v. H. mit monatlich 214,40 DM und seit dem 1. Januar 1964 mit monatlich 233,70 DM gezahlt, seit dem 1. September 1964 nach einer MdE von 50 v. H. mit monatlich 194,80 DM. Die 1957 umgestellte Witwenrente betrug im Jahre 1962 104,- DM monatlich, wovon 51,50 DM auf eine fiktive Zurechnungszeit entfielen.
Wegen des Bezuges der Verletztenrente kürzte die Beklagte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von monatlich 125,40 DM für die Zeit vom 1. März 1962 an gemäß § 1278 der Reichsversicherungsordnung (RVO) um 27,20 DM auf monatlich 98,20 DM, da um diesen Betrag die Verletzten- und die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zusammen die in § 1278 RVO bestimmte Einkommensgrenze (85 % des Jahresarbeitsverdienstes sowie der für die Berechnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage) überstiegen. Ferner kürzte die Beklagte diese bereits auf 98,20 DM gekürzte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 1280 RVO wegen des Bezuges der Witwenrente um den der Zurechnungszeit entsprechenden Rententeil von 32,- DM, soweit er auf die gekürzte Rente von 98,20 DM entfiel, d. h. um weitere 25,- DM. Daher zahlte die Beklagte der Klägerin vom 1. März 1962 an monatlich 73,20 DM (125,40 DM - 27,20 DM - 25,- DM) (Bescheid vom 19. November 1962).
Die Klägerin ist mit dieser Art der Rentenkürzung nicht einverstanden. Sie meint, die Beklagte hätte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von monatlich 125,40 DM nur nach § 1280 RVO um den der Zurechnungszeit entsprechenden Anteil von 32,- DM auf monatlich 93,40 DM kürzen dürfen, nicht aber auch noch nach § 1278 RVO, weil die auf 93,40 DM gekürzte Rente den Grenzwert des § 1278 RVO von 98,20 DM monatlich nicht mehr erreicht habe. Daher beansprucht die Klägerin statt des gezahlten Monatsbetrages von 73,20 DM die Auszahlung von 93,40 DM vom März 1962 an.
Für die Zeit nach dem 3. Dezember 1962 hat die Beklagte der Klägerin den verlangten Betrag von 93,40 DM gezahlt, weil von diesem Tage an die Unfallrente herabgesetzt und deswegen der genannte Grenzwert nicht mehr erreicht wurde (Bescheid vom 18. Februar 1964).
Für die Zeit vor dem 3. Dezember 1962 hielt die Beklagte die Kürzung der Rente auf 73,20 DM weiterhin für richtig. Es sei entsprechend der Reihenfolge der Kürzungsvorschriften der §§ 1278 und 1280 RVO im Gesetz vorzugehen, so daß zunächst nach § 1278 RVO zu kürzen sei. Dadurch werde auch der Nachteil einer vom Reichsversicherungsamt (RVA) früher für unzulässig gehaltenen Kürzung der Rente vermieden.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von monatlich 93,40 DM auszuzahlen, und die Berufung zugelassen (Urteil vom 4. Dezember 1963). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 18. August 1965).
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung der §§ 1278 und 1280 RVO und hält an ihrer Auffassung fest.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. August 1965 und das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 4. Dezember 1963 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
II.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Im Ergebnis ist dem LSG darin beizustimmen, daß die Beklagte der Klägerin die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. März bis 2. Dezember 1962 mit monatlich 93,40 DM auszuzahlen hat, wobei entgegen der Auffassung der Beklagten zunächst die Vorschrift des § 1280 Abs. 1 RVO und erst dann diejenige des § 1278 Abs. 1 RVO anzuwenden ist.
§ 1280 Abs. 1 RVO bestimmt beim Zusammentreffen einer Rente aus eigener Rentenversicherung mit einer Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung u. a. folgendes: Trifft eine Rente aus eigener Versicherung mit einer Witwenrente zusammen, so wird von zwei Zurechnungszeiten (§ 1260) nur ... die für den Berechtigten günstigere angerechnet; die Rente, bei der die Zurechnungszeit nicht berücksichtigt wird, ruht insoweit.
Demgegenüber behandelt § 1278 Abs. 1 RVO den Fall des Zusammentreffens von u. a. einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Der hier allein in Betracht kommende Satz 1 des § 1278 Abs. 1 RVO - der durch Art. 1 § 1 Nr. 31 des Rentenversicherungsänderungsgesetzes (RVÄndG) dem Abs. 1 des § 1278 RVO mit Wirkung vom 1. Januar 1957 angefügte Satz 2 (Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. a RVÄndG) findet schon deshalb keine Anwendung, weil danach Leistungen frühestens vom 1. Juli 1965 an zu gewähren wären (Art. 5 § 6 RVÄndG), hier aber allein Leistungen für die davor liegende Zeit vom 1. März bis 2. Dezember 1962 streitig sind - lautet, soweit er hier in Betracht kommt: "Trifft eine Rente wegen ... Erwerbsunfähigkeit ... aus der Rentenversicherung der Arbeiter mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusammen, so ruht die Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter insoweit, als sie ohne Kinderzuschuß (§ 1262) zusammen mit der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung sowohl 85 vom Hundert des Jahresarbeitsverdienstes, der der Berechnung der Verletztenrente zugrunde liegt, als auch 85 vom Hundert der für ihre Berechnung maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage (§ 1255 Abs. 1 und 3) übersteigt".
Da die Klägerin sowohl Rente aus eigener Rentenversicherung, nämlich Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, bezieht als auch Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes als auch Verletztenrente aus der Unfallversicherung, kommen in ihrem Falle sowohl § 1278 als auch § 1280 RVO in Betracht.
Das Gesetz enthält aber keine Regelung darüber, in welcher Reihenfolge die genannten Vorschriften der §§ 1278 Abs. 1 Satz 1 und 1280 Abs. 1 RVO anzuwenden sind. Die Beklagte hat in dem streitigen Bescheid die Rente der Klägerin wegen Erwerbsunfähigkeit in der Weise berechnet, daß sie zunächst § 1278 Abs. 1 Satz 1 RVO angewendet hat, so daß die Rente der Klägerin in Höhe von monatlich 27,20 DM ruhen soll. Sodann hat sie § 1280 Abs. 1 RVO mit der Folge herangezogen, daß die so gekürzte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit um den der Zurechnungszeit entsprechenden Rententeil (32,- DM), soweit er auf die gekürzte Rente von monatlich 98,20 DM entfiel, nämlich um weitere 25,- DM monatlich gekürzt werden soll. Dem kann indes nicht gefolgt werden:
Diese Art der Anwendungsfolge, die u. a. auf dem äußeren Merkmal der Reihenfolge der §§ 1278, 1280 RVO im Gesetz beruht, kann deswegen nicht gutgeheißen werden, weil innere Gründe zu einer anderen Reihenfolge nötigen.
Der Gesetzgeber hat erkennbar in den Vorschriften der §§ 1278 Abs. 1 Satz 1 und 1280 Abs. 1 RVO zwei verschiedene Bereiche regeln und auch voneinander abheben wollen. Während § 1280 Abs. 1 RVO allein den Bereich der Rentenversicherung im Auge hat, bestimmt § 1278 Abs. 1 RVO die Folgen des Zusammentreffens einer Rente wegen Berufsunfähigkeit, wegen Erwerbsunfähigkeit oder eines Altersruhegeldes aus der Rentenversicherung der Arbeiter mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Unter diesen Umständen ist es notwendig, zunächst im Rahmen der Rentenversicherung zu bleiben und festzustellen, welcher Zahlbetrag der Rente aus der Rentenversicherung sich aus der allein im Bereich der Rentenversicherung bleibenden Vorschrift des § 1280 RVO ergibt. Erst danach ist es zulässig, aus dem Rahmen der Rentenversicherung hinauszutreten und sich der Vorschrift des § 1278 RVO zuzuwenden, welche die Folgen des Zusammentreffens von Rente aus den Versicherungszweigen der Arbeiterrentenversicherung und der Unfallversicherung regelt und damit voraussetzt, daß die Höhe der zusammentreffenden Renten, d. h. der Rente aus der Rentenversicherung, wie sie vor der Berücksichtigung des Zusammentreffens sich darstellt, ebenso bekannt ist wie die der Rente aus der Unfallversicherung.
Darüber hinaus kommt in Betracht, daß eine Vorschrift wie die des § 1278 RVO, die für den Fall einer Rentenhäufung aus allgemeinen sozialpolitischen Erwägungen eine äußerste Grenze setzt, indem sie die Summe der Renten in Beziehung zu dem Verdienst des Arbeitenden setzt, ihrem Wesen nach an den Schluß der Rentenfeststellung gehört.
Ebensowenig wie danach der Revision zugegeben werden kann, daß der Reihenfolge der §§ 1278 Abs. 1 Satz 1, 1280 Abs. 1 RVO im Gesetz Bedeutung für die Aufeinanderfolge der Anwendung dieser Vorschriften beizumessen ist, geht es auch an, - wofür sich die Revision ebenfalls ausspricht -, maßgebend sein zu lassen, welches Ergebnis in der Mehrzahl der Fälle für den Leistungsberechtigten günstiger ist. Dem Recht der Sozialversicherung ist der Satz, daß im Zweifel bei der Beweiswürdigung zugunsten des Versicherten oder Berechtigten zu entscheiden sei (in dubio pro aegroto), fremd. Genausowenig kann auf diesem Rechtsgebiet der Gedanke Raum beanspruchen, daß bei der Auslegung sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften allgemein die für der Leistungsberechtigten günstigere Auslegung den Vorrang habe, es sei denn, daß ein derartiger Wille des Gesetzgebers der auszulegenden Vorschrift erkennbar wäre. Letzteres ist aber hier, wie dargetan, nicht der Fall.
Nicht haltbar erweist sich von dem oben entwickelten Ergebnis her schließlich die Auffassung des LSG, es sei nicht entscheidend, in welcher Reihenfolge die Vorschriften der §§ 1278 Abs. 1 Satz 1, 1280 Abs. 1 RVO anzuwenden seien. Das LSG hat allein die am weitesten gehende Kürzung für maßgebend gehalten, weil die Vorschriften der §§ 1278 Abs. 1 und 1280 Abs. 1 RVO jeweils für sich allein zu betrachten seien. Für eine derartige Auslegung dieser beiden Vorschriften ist dem Gesetz kein Anhalt zu entnehmen.
Überträgt man das Ergebnis der Erwägungen über die Reihenfolge, in der die genannten Vorschriften anzuwenden sind, auf den Fall der Klägerin, so ergibt sich folgende Berechnung der Rente der Klägerin wegen Erwerbsunfähigkeit: Diese Rente ist zunächst gemäß § 1280 Abs. 1 RVO um die niedrigere Zurechnungszeit auf monatlich 93,40 DM zu kürzen. Da damit die in § 1278 Abs. 1 Satz 1 RVO festgelegte Höchstgrenze nicht überschritten wird, verbleibt es bei dem Betrage von monatlich 93,40 DM.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen