Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. MdE. Bewertung
Orientierungssatz
Selbst wenn der Verletzte infolge eines Arbeitsunfalles seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann, hat dies nicht zwangsläufig eine höhere Bewertung der MdE nach § 581 Abs 2 RVO zur Folge (vgl BSG 1965-08-25 2 RU 52/64 = BSGE 23, 253).
Normenkette
RVO § 581 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 24.09.1979) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 11.11.1969) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. September 1970 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der im Jahre 1924 geborene Kläger hat eine Lehre als Metallflugzeugbauer abgeschlossen. Nach dem Kriege war er zunächst als Dreher und Schlosser und seit dem Jahre 1964 als technischer Angestellter in einem Konstruktionsbüro beschäftigt.
Im Jahre 1953 erlitt er bei einem Motorradunfall in Australien eine schwere Kopfverletzung mit doppeltem Schädelbruch und Schädigung des linken Auges.
Am 19. Dezember 1966 verunglückte er auf dem Heimweg von der Arbeit. Er stieß dabei mit der Stirn gegen den linken vorderen Fensterholm seines Pkw. Kurz darauf trat eine stärkere Okulomotoriusparese auf dem linken Auge mit Doppelbildern auf.
Der Kläger war nach dem Unfall arbeitsunfähig und erhielt Krankengeld bis zum 19. Juni 1968. Sein Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 1967. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) leitete Umschulungsmaßnahmen ein. Der Kläger besuchte vom 1. November 1968 bis zum 31. Oktober 1969 mit Erfolg eine private Berufsfachschule für Wirtschaft und Verwaltung. Anschließend nahm er eine Tätigkeit bei einer amerikanischen Firma auf.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28. März 1968 die Zahlung von Verletztenrente ab, weil die Erkrankung des linken Auges keine Unfallfolge sei und der Arbeitsunfall im übrigen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Grade über die 13. Woche hinaus nicht hinterlassen habe.
Der Kläger hat Klage erhoben.
Aufgrund der Beweiserhebungen des Sozialgerichts (SG) hat die Beklagte beim Kläger Doppelsehen als unfallbedingte Verschlimmerung einer bereits vor dem Unfall bestehenden Okulomotoriusparese anerkannt. Der Kläger hat das Anerkenntnis angenommen. Die Beklagte hat jedoch die Gewährung der Verletztenrente abgelehnt, da die unfallbedingte MdE nur 15 v. H. betrage. Der Kläger hat gemäß § 581 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v. H. begehrt, da er seine beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten durch den Unfall nicht mehr ausüben könne.
Das SG hat mit Urteil vom 11. November 1969 die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 20. Juni 1968 bis zum 31. Oktober 1969 eine Dauerrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente zu gewähren; im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das SG hat ausgeführt: Der Kläger habe als technischer Angestellter besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen besessen. Diese Tätigkeit könne er aufgrund des Arbeitsunfalles nicht mehr verrichten. Der Kläger sei nach der Umschulung aber wieder in der Lage, einen auch sozial gleichwertigen Beruf auszuüben. Nach dem 31. Oktober 1969 müsse daher bei der Feststellung der MdE die Berücksichtigung der früheren Berufstätigkeit entfallen.
Die Beklagte hat die vom SG zugelassene Berufung eingelegt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 24. September 1970 das Urteil des SG geändert und die Klage in vollem Umfange abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt:
Es trete der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei, nach der die unfallbedingte Aufgabe des erlernten Berufs nicht zwangsläufig eine über die Grundsätze der abstrakten Schadensberechnung hinausgehende Höherbewertung der MdE zur Folge habe. Nachteile im Sinne des § 581 Abs. 2 RVO lägen im allgemeinen nur vor, wenn die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf des Verletzten bei der Bewertung der MdE zu einer unbilligen Härte führen würde. Eine solche unbillige Härte würde aber nur angenommen werden können, wenn der Kläger bis zu dem Arbeitsunfall ein volles Arbeitsleben in einem bestimmten Beruf verbracht hätte und durch eine einseitige Berufsausübung, verbunden mit einem höheren Lebensalter, eine Umstellung auf eine andere Tätigkeit mit besonderen Schwierigkeiten verbunden wäre. Davon sei auch das SG ausgegangen. Soweit es für den Zeitraum vor und während der Umschulung die MdE des Klägers unter Anwendung des § 581 Abs. 2 RVO dennoch höher bewertet habe, weil der Kläger in dieser Zeit finanzielle Nachteile gehabt habe, könne dem nicht beigetreten werden. Der Kläger habe außerdem von der BfA ein Übergangsgeld in Höhe von 26,90 DM täglich erhalten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Er führt aus: Er könne, was das LSG unter Verstoß gegen § 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ebenfalls nicht ausreichend berücksichtigt habe, infolge des Arbeitsunfalles nicht mehr als technischer Zeichner, Metallflugzeugbauer, Dreher, Schlosser oder Fräser tätig sein. Es entspräche allgemeiner Erfahrung, daß in der heutigen Zeit bereits Vierzigjährige bei nötigem Berufswechsel erheblichen Schwierigkeiten bei der Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes und der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß ausgesetzt seien. Die durch den Unfall bedingten offenkundigen beruflichen Nachteile seien erst durch den erfolgreichen Abschluß der Umschulung ausgeglichen worden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 24. September 1970 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Oldenburg vom 11. November 1969 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II.
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 SGG liegen vor.
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Nach den von der Revision insoweit nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG beträgt die unfallbedingte MdE des Klägers im Rahmen der nach § 581 Abs. 1 RVO vorzunehmenden Schätzung weniger als 20 v. H. Die Revision meint, ein Rentenanspruch des Klägers bestehe für die Zeit vom 20. Juni 1968 bis zum 31. Oktober 1969, weil während dieser Zeit die Voraussetzungen des § 581 Abs. 2 RVO erfüllt seien. Dies hat das LSG zu Recht verneint.
Es kann dahinstehen, ob der Kläger - was den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen ist - als "technischer Angestellter in einem Konstruktionsbüro" eine Tätigkeit ausgeübt hat, die der eines Lehrberufs gleichsteht. Ebenso kann der Senat zugunsten des Klägers davon ausgehen, daß er wegen der Folgen des Arbeitsunfalles nicht mehr in der Lage ist, als Dreher, Schlosser, Fräser und Flugzeugbauer tätig zu sein.
Nach § 581 Abs. 1 RVO ist dem Verletzten Rente entsprechend dem Ausmaß der MdE zu gewähren. § 581 Abs. 2 RVO verdeutlicht diese Vorschrift dahin, daß bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen sind, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalles nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten ausgeglichen werden, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (s. BSG 23, 253, 255; 28, 227, 229; BSG SozR Nr. 9 und 10 zu § 581 RVO; BSG Breithaupt 1966, 392) hat § 581 Abs. 2 RVO die frühere vom Senat weiterentwickelte Rechtsprechung über die Beurteilung der MdE in Fällen besonderer Härte im wesentlichen normiert. Danach kann eine angemessene, nicht etwa die ausschlaggebende Berücksichtigung eines Lebensberufs (BSG 4, 294, 299) bei der Beurteilung der MdE nach den Umständen des Einzelfalles zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt sein. Selbst wenn der Verletzte infolge eines Arbeitsunfalles seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann, hat dies jedoch nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht zwangsläufig eine höhere Bewertung der MdE nach § 581 Abs. 2 RVO zur Folge (BSG 23, 253, 256; BSG SozR aaO). Die Verletzung, die der Versicherte sich durch den Unfall zugezogen hat, muß sich vielmehr spezifisch auf die Fähigkeit zum Erwerb auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens auswirken (BSG 23, 253, 255; BSG SozR Nr. 9 zu § 581 RVO). Schon deshalb verweist die Revision hier zu Unrecht darauf, die Minderung des Sehvermögens des Klägers könne nicht anders beurteilt werden als z. B. der Verlust einer Hand bei einem Friseur, Bäcker oder Maurer. Die in diesen Fällen mit dem Verlust der Hand verbundene Aufgabe des Berufs rechtfertigt für sich allein nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ebenfalls nicht eine höhere Bewertung der unfallbedingten MdE gemäß § 581 Abs. 2 RVO.
Die gesundheitlichen Folgen des Arbeitsunfalls wirken sich beim Kläger nicht spezifisch auf die Fähigkeit zum Erwerb auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens aus.
Der Kläger hat eine Lehre als Metallflugzeugbauer abgeschlossen. Nach dem Kriege war er zunächst als Dreher und Schlosser tätig. Seit 1964, und somit höchstens knapp drei Jahre vor dem Arbeitsunfall am 19. Dezember 1966, war er als technischer Angestellter beschäftigt. Seine beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen sind, wie das LSG mit Recht ausgeführt hat, nicht einseitig auf eine bestimmte, in ihrem Erfahrungs- und Wirkungsbereich eng begrenzte Tätigkeit ausgerichtet. Der Kläger ist allerdings, wie die Revision vorträgt, durch den Arbeitsunfall "aus seiner beruflichen Laufbahn geworfen worden". Entgegen der Auffassung der Revision ist das LSG aber zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger den Arbeitsunfall mit nicht ganz 43 Jahren in einem Alter erlitten hat, in welchem ihm eine berufliche Anpassung zumutbar ist. Die Zumutbarkeit der beruflichen Anpassung schließt eine Umschulung nicht aus, selbst wenn für den Verletzten damit, worauf die Revision besonders hinweist, erhebliche Schwierigkeiten und damit auch persönliche Opfer verbunden sind. Ob die Ansicht der Revision zutrifft, es entspräche entgegen der Ansicht des LSG allgemeiner Erfahrung, daß bereits vierzigjährige Verletzte bei einem Berufswechsel erhebliche Schwierigkeiten hätten, einen neuen Arbeitsplatz zu erlangen, kann hier schon deshalb dahinstehen, weil der Kläger eine neue Beschäftigung unmittelbar nach seiner Umschulung gefunden hat. Allein darin, daß nur bei Anwendung des § 581 Abs. 2 RVO ein Rentenanspruch bestehen würde, liegt aber noch keine unbillige Härte. Das LSG hat schließlich zu Recht entschieden, daß nicht allein wegen der finanziellen Einbuße des Klägers während der Umschulungsmaßnahmen unter Berücksichtigung dieser Vorschrift ein Anspruch auf Verletztenrente besteht.
Die Revision des Klägers war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen