Orientierungssatz
Zur Frage der Verweisbarkeit einer gelernten Friseuse.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 16.03.1972) |
SG Darmstadt (Entscheidung vom 10.03.1969) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. März 1972 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die - 1935 geborene - Klägerin hat das Friseurhandwerk erlernt und ausgeübt. Ihr mußte nach einer Tbc-Erkrankung die linke Niere entfernt werden. Sie leidet an den Folgen dieser Operation und an einer rechtsseitigen Wanderniere. Ihre Erwerbsfähigkeit wird dahin beurteilt, daß sie nur noch körperlich leichte, im Sitzen auszuübende Arbeiten in normal temperierten Räumen verrichten könne.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Bewilligung der Rente wegen Berufsunfähigkeit ab (Bescheid vom 12. Juni 1968).
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Darmstadt durch Urteil vom 10. März 1969 abgewiesen; das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat ihr mit Urteil vom 16. März 1972 stattgegeben. Es hat die Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) der Klägerin bejaht. In ihrem Friseurberuf - so hat das Berufungsgericht ausgeführt - müßte die Klägerin stehend arbeiten, was ihr Gesundheitszustand nicht erlaube. Für Manikürtätigkeiten allein dürfte keine ausreichende Arbeitsnachfrage bestehen. Auf dem Gebiet der Herstellung von Perücken und Haarteilen fände sich für eine gelernte Friseuse keine angemessene Arbeitsgelegenheit, Perücken und Haarteile würden in aller Regel fabrikmäßig mit angelernten Kräften produziert. Dabei werde zudem überwiegend ein Stehen bei der Arbeit gefordert.
Die Beklagte hat die - von dem LSG nicht zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen. An dem angefochtenen Urteil hat sie auszusetzen, daß das Berufungsgericht sich über die Nachfrage nach und den Umfang der Manikürtätigkeiten eine unzutreffende Vorstellung gebildet habe, ferner, daß es ohne eigenes Fachwissen unterstellt habe, die Herstellung von Perücken und Haarteilen geschehe überwiegend im Stehen und werde nicht von gelernten Friseusen vorgenommen.
Die Revision ist zulässig. Mit ihr hat die Beklagte wesentliche Verfahrensmängel formgerecht geltend gemacht (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Beklagte beanstandet zutreffend den Satz in dem Berufungsurteil, daß "es kaum Arbeitsplätze geben dürfte, diese jedenfalls nicht in ausreichendem Umfange vorhanden sind, bei denen die Klägerin ... nur mit dem Maniküren beschäftigt werden könnte". Die Beklagte vermißt für diese Annahme den Hinweis auf einen Beleg. Demgegenüber macht sie zu Recht auf die Bekundung des im ersten Rechtszuge vernommenen Sachverständigen Friseurmeister R aufmerksam, der erklärte, in größeren Geschäften würden Friseusen ausschließlich mit Manikürarbeiten beschäftigt. Der Beklagten ist ferner darin zu folgen, daß entsprechende Arbeitsplätze möglicherweise in Kosmetiksalons zu finden sind und daß sich das LSG über Einzelheiten hierzu durch Anfragen an eine Handwerkskammer oder eine Friseurinnung hätte erkundigen sollen. Die Ermittlungen in diesen Richtungen hätte das LSG von seiner Auffassung her insbesondere auch darauf erstrecken sollen, ob von der Klägerin das Erlernen und Ausüben weiterer Arbeitsaufgaben, z. B. von Fußpflege, erwartet werden könnten. Gerade dann, wenn die Klägerin bei ihrer jetzigen gesundheitlichen Verfassung und den zur Zeit von ihr beherrschten Fertigkeiten nur solche Teilfunktionen erfüllen kann, die ihr Arbeitsangebot nicht allgemein als interessant erscheinen lassen, müßten sich die Nachforschungen des Tatsachenrichters auf zusätzliche unschwer erreichbare Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten erstrecken.
Des weiteren wendet sich die Beklagte mit Grund gegen die Feststellungen in dem Berufungsurteil, daß in Haarfabriken nur angelernte Arbeitskräfte beschäftigt würden und daß von diesen überwiegendes Stehen verlangt werde. Für beides fehlt die Angabe der Beweisgrundlage. In bezug auf das Erfordernis der stehenden Körperhaltung bei der Arbeit steht der Feststellung des Berufungsgerichts sogar die anders lautende Aussage des Sachverständigen R entgegen. Das Berufungsgericht hätte den Nachweis für sein besseres Wissen erbringen müssen.
Da nicht auszuschließen ist, daß das Berufungsurteil ohne die angeführten Mängel anders ausgefallen wäre, ist die Revision auch begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, damit die geboten erscheinenden Beweiserhebungen nachgeholt werden können.
Für die neue Verhandlung und Entscheidung wird zusätzlich bemerkt, daß der Kreis der Tätigkeiten, die der Versicherten zumutbar sind, nicht allein und nicht zu eng nach dem Dreistufenschema - gelernt, angelernt, ungelernt - bestimmt werden darf (BSG 29, 96; Urteil vom 16. März 1971 - 4 RJ 405/70 -, 11. August 1972 - 4 RJ 95/72 -). Gegen den Inhalt des angefochtenen Urteils erhebt sich das Bedenken, daß der beruflichen Ausbildung für das Merkmal der sozialen Zumutbarkeit entgegen der Vorschrift des § 1246 Abs. 2 RVO ein überhöhtes Gewicht beigemessen worden ist. Die Vor- und Ausbildung der Versicherten ist nur eines von mehreren in diesem Zusammenhang maßgeblichen Kriterien.
Die Entscheidung über die Pflicht zur Kostenerstattung für das Revisionsverfahren bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen