Orientierungssatz
Erhöhung der Teilrente nach RVO § 587 bei Arbeitslosigkeit:
1. Die Voraussetzungen des RVO § 587 Abs 1 sind auch erfüllt, wenn der Verletzte seinen Arbeitsplatz zwar wesentlich allein aus unfallunabhängigen Gründen verliert, aber infolge des Arbeitsunfalles keinen Arbeitsplatz findet.
2. Ist es bei einem Arbeitsplatzmangel nicht möglich, als Verletzter einen Arbeitsplatz zu erhalten, so ist nicht nur die Lage des Arbeitsmarktes, sondern auch der Arbeitsunfall eine wesentliche Ursache dafür, daß der Verletzte ohne Arbeitseinkommen ist.
Normenkette
RVO § 587 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.04.1978; Aktenzeichen L 3 U 152/77) |
SG Osnabrück (Entscheidung vom 04.11.1977; Aktenzeichen S 5 U 191/76) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. April 1978 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahre 1919 geborene Kläger ist gelernter Kaufmann. Während seines Erwerbslebens übte er verschiedene Berufe aus. Zuletzt war er seit dem Jahre 1973 als Verkaufsfahrer beschäftigt. Am 31. Januar 1974 erlitt er einen Arbeitsunfall, bei dem er sich einen Bruch der Kniescheibe links zuzog. Er war bis zum 30. September 1974 arbeitsunfähig.
Die Beklagte gewährte dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalles Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH und vom 1. September 1975 an um 40 vH. Als Unfallfolgen stellte sie beim Kläger zunächst fest: "Bewegungseinschränkung im linken Kniegelenk, Umfangsverschmächtigung des linken Ober- und Unterschenkels, Schwellneigung am linken Kniegelenk und linken Unterschenkel, Gangbehinderung sowie Belastungsbeschwerden linkes Bein".
Das Arbeitsverhältnis des Klägers als Verkaufsfahrer wurde durch Vergleich vor dem Arbeitsgericht mit ordnungsgemäßer Kündigung zum 30. September 1974 aus betriebsbedingten Gründen und wegen des Gesundheitszustandes des Klägers beendet.
Nach Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit am 1. Oktober 1974 war der Kläger vom 23. Mai bis zum 5. Juli 1975 als Fahrstuhlführer und vom 7. Oktober 1975 bis zum 31. Januar 1976 als Pförtner beschäftigt. Seitdem ist er als nicht vollbeschäftigter Trichinenbeschauer tätig. In der Zeit vom 2. Oktober 1974 bis zum 22. Mai 1975 und vom 14. Juli 1975 bis zum 5. Oktober 1975 bezog er Arbeitslosengeld bzw. Leistungen aus der Arbeitslosenhilfe.
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung der Vollrente gemäß § 587 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab, da diese Vorschrift nur solche Fälle erfasse, in denen der Versicherte ausschließlich wegen der Unfallfolgen und nicht - wie hier - durch Rationalisierungsmaßnahmen und die besondere Arbeitsmarktsituation vorübergehend ohne Arbeitseinkommen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom 4. November 1977 verurteilt, dem Kläger die Vollrente anstelle der Teilrente nach § 587 RVO vom 1. Oktober 1974 bis zum 22. Mai 1975 und vom 14. Juli bis zum 5. Oktober 1975 zu zahlen, da der Kläger allein wegen des Arbeitsunfalles in die Lage versetzt worden sei, unter den nun für ihn ungünstigen Bedingungen des Arbeitsmarktes eine Beschäftigung zu finden.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten durch Urteil vom 14. April 1978 zurückgewiesen und ua ausgeführt: Der Beklagten sei allerdings einzuräumen, daß der Kläger seinen Arbeitsplatz wahrscheinlich auch ohne Arbeitsunfall verloren hätte. Die Gründe für den Verlust des Arbeitsplatzes seien jedoch nicht mit denjenigen für die Arbeitslosigkeit und damit für das Fehlen von Arbeitseinkommen gleichzusetzen. Daß der Kläger bei seinem Arbeitsunfall am 31. Januar 1974 schwerwiegende Gesundheitsstörungen davongetragen habe, sei eine wesentliche Bedingung dafür gewesen, daß er mit Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit am 1. Oktober 1974 nicht sogleich wieder in das Arbeitsleben einzugliedern gewesen sei. Dies ergebe sich aus dem Gutachten von Dr. K vom 12. März 1975 und aus den Schreiben des Arbeitsamtes vom 10. Februar 1975 und 26. Februar 1976, wo neben dem fortgeschrittenen Alter des Klägers die Folgen des Unfalleidens ausdrücklich als Ursache für die Arbeitslosigkeit hervorgehoben wurden. Auch die wirtschaftliche Entwicklung in den Jahren 1974/1975 und die sich daraus ergebende Arbeitsmarktlage drängten die Unfallfolgen als wesentlich mitwirkende Ursache für das Fehlen von Arbeitseinkommen nicht zurück.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie trägt vor: Das LSG sei zu der Auffassung gelangt, daß der Kläger wahrscheinlich auch ohne die Unfallverletzungen seinen Arbeitsplatz verloren hätte. Insoweit weiche der den vom LSG zitierten Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) zugrunde liegende Sachverhalt entscheidend von dem für die Beurteilung dieses Rechtsstreits maßgeblichen ab. Wesentliche Ursache für die vorübergehende Nichtbeschäftigung des Verletzten seien vielmehr die generelle wirtschaftliche Entwicklung seit dem Jahre 1974 und die Arbeitsmarktsituation gewesen. Nicht hinreichend berücksichtigt habe das LSG auch das Vorliegen unfallunabhängiger krankheitsbedingter Faktoren. Selbst wenn man grundsätzlich zu der Auffassung tendiere, daß die Unfallfolgen gegenüber der Arbeitsmarktlage mit ihren Auswirkungen nicht als unwesentlich in den Hintergrund treten sollten, könnte darüber mangels konkreter Angaben über die Bedeutung der Arbeitsmarktlage für die vorübergehende Zeit des Fehlens des Arbeitseinkommens des Verletzten nicht abschließend entschieden werden.
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Die Beklagte beantragt, |
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die Urteile des LSG Niedersachsen vom 14. April 1978 und des SG Osnabrück vom 4. November 1977 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 14. Juni 1976 abzuweisen, |
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hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. |
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die Revision zurückzuweisen. |
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Solange der Verletzte infolge des Arbeitsunfalles ohne Arbeitseinkommen ist, hat der Träger der Unfallversicherung die Teilrente auf die Vollrente zu erhöhen (§ 587 Abs 1 RVO).
Der Kläger bezog in den hier streitigen zwei Zeiträumen wegen der Folgen des Arbeitsunfalles eine Teilrente und war ohne Arbeitseinkommen. Der Kläger war in dieser Zeit auch infolge des Arbeitsunfalles ohne Arbeitseinkommen. Dabei ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, daß der Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem fehlenden Arbeitseinkommen nicht ausgeschlossen ist, weil der Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG wahrscheinlich auch ohne den Arbeitsunfall seinen Arbeitsplatz verloren hätte. Das Berufungsgericht hat zutreffend entschieden, daß die Voraussetzungen des § 587 Abs 1 RVO auch erfüllt sind, wenn der Verletzte seinen Arbeitsplatz zwar wesentlich allein aus unfallunabhängigen Gründen verliert, aber infolge des Arbeitsunfalles keinen Arbeitsplatz findet. Auch in diesem Fall ist der Verletzte infolge des Arbeitsunfalles ohne Arbeitseinkommen. Dem steht die von der Revision zitierte Entscheidung des 8. Senats des BSG vom 23. Juni 1977 (SozR 2200 § 587 Nr 2) schon deshalb nicht entgegen, weil der ihr zugrundeliegende Sachverhalt insoweit auf einer anderen Fallgestaltung beruht, so daß die hier wesentliche Frage sich nicht gestellt hat. Für den nach § 587 Abs 1 RVO erforderlichen Ursachenzusammenhang ist ebenfalls die für das Gebiet der Unfallversicherung allgemein geltende Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung maßgebend (BSGE 30, 64, 65; BSG SozR aaO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl, S 578 i). Der Arbeitsunfall braucht somit nicht die alleinige oder die allein wesentliche Ursache dafür zu sein, daß der Verletzte ohne Arbeitseinkommen ist (s Brackmann aaO und S 480 k II). Der Kausalzusammenhang ist auch gegeben, wenn der Arbeitsunfall eine von mehreren wesentlichen Ursachen dafür bildet, daß der Verletzte ohne Arbeitseinkommen ist (s BSG SozR aaO; Hessisches LSG Breithaupt 1966, 837 und 1970, 121; Brackmann aaO S 587 i; Schimanski, Soziale Sicherheit 1967, 269; Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften Rundschreiben VB 130/64 vom 19. August 1964). Ist es - wie hier - bei einem Arbeitsplatzmangel nicht möglich, als Verletzter einen Arbeitsplatz zu erhalten, so ist nicht nur die Lage des Arbeitsmarktes, sondern auch der Arbeitsunfall eine wesentliche Ursache dafür, daß der Verletzte ohne Arbeitseinkommen ist.
Das LSG hat bei seiner Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens berücksichtigt, daß die Arbeitsmarktlage eine Ursache dafür war, daß der Kläger in den hier strittigen Zeiträumen ohne Arbeitseinkommen war. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG waren aber auch die Folgen des Unfalles eine wesentliche Bedingung hierfür. Dies ergibt sich sowohl aus den ärztlichen Gutachten über die Folgen des Arbeitsunfalles als auch aus den Unterlagen über die Versuche des Arbeitsamtes, dem Kläger eine Arbeitsstelle zu vermitteln (vgl insbesondere die Schreiben des Arbeitsamtes vom 10. Februar 1975 und 26. Februar 1976). Unter Berücksichtigung dieser Unterlagen hat sich das Berufungsgericht entgegen der Auffassung der Revision nicht zu weiteren Ermittlungen hinsichtlich der Arbeitsmarktlage gedrängt fühlen müssen.
Die Beklagte meint zu Unrecht, das LSG habe die unfallunabhängigen Gesundheitsstörungen des Klägers nicht ausreichend beachtet. Das Berufungsgericht hat vielmehr dargelegt, weshalb es diese Gesundheitsstörungen zusammen mit der Arbeitsmarktlage nicht als die allein wesentliche Bedingung dafür angesehen hat, daß der Kläger in den hier maßgebenden Zeiträumen ohne Arbeitseinkommen war. Bei dieser Wertung hat das LSG mit Recht beachtet, daß der Kläger vor dem Unfall gerade die Tätigkeiten noch verrichten konnte, die für eine Vermittlung in die für den Kläger in Betracht kommenden Tätigkeiten besonders wesentlich waren.
Die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs 1 RVO steht dem Verletzten jedoch nur zu, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die Aussicht besteht, daß er in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird (BSGE 30, 64; 32, 161, 164; BSG SozR aaO; Brackmann aaO S 578 k; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 587 Anm 3; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 480, S 8 b). Auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war der Kläger seit dem Ende der sich an den Unfall anschließenden Arbeitsunfähigkeit vom 1. Oktober 1974 an trotz der Folgen des Arbeitsunfalles gesundheitlich wieder in der Lage, erwerbstätig zu sein. Die Vermittlungsversuche des Arbeitsamtes zeigen, daß auch diese Stelle der Auffassung war, dem Kläger trotz seiner Unfallfolgen und der Arbeitsmarktlage in absehbarer Zeit wieder einen Arbeitsplatz zu vermitteln zu können. Die Tätigkeit des Klägers als Fahrstuhlführer war zwar von vornherein befristet, konnte aber als besonderes Zeichen dafür gewertet werden, daß der Kläger in absehbarer Zeit wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen werde. Dies wurde durch die Entwicklung seit dem 7. Oktober 1975 bestätigt. Schon unter Berücksichtigung dieser besonderen Umstände des Einzelfalles war somit davon auszugehen, daß der Kläger nach Beendigung seiner Arbeitsunfähigkeit in absehbarer Zeit wieder einer Erwerbstätigkeit werde nachgehen können. Der Senat braucht demnach nicht zu entscheiden, welcher Zeitraum ohne Vorliegen weiterer besonderer Umstände grundsätzlich bei erfolglosen Arbeitsvermittlungsversuchen nicht mehr als absehbare Zeit in dem oben angeführten Sinne anzusehen ist. In seinen Urteilen vom 27. August 1969 (BSGE 30, 64, 71 und BG 1970, 276) hat der Senat jedenfalls einen Zeitraum von rund fünf Jahren als nicht mehr absehbare Zeit für eine weitere - seit dem Unfall nicht aufgenommene - Erwerbstätigkeit angesehen. Der 8. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 23. Juni 1977 (SozR aaO) entgegen dem Vortrag der Revision nicht die Auffassung vertreten, als absehbare Zeit könne nur eine solche bis zu einem Jahr angesehen werden. Der 8. Senat hat lediglich dafür, daß eine absehbare Zeit vorgelegen hatte, ua darauf hingewiesen, daß die dort strittige Zeit weniger als ein Jahr betragen habe. Dabei ist außerdem zu beachten, daß sich dieser Hinweis nur auf die noch strittige Zeit bezog, der Verletzte aber erst ein Jahr nach der Umschulung von 13 Monaten und auch mehr als 3 1/2 Jahre nach dem Unfall wieder erwerbstätig wurde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen