Leitsatz (redaktionell)
Beginnt die Verjährungsfrist des RVO § 29 Abs 3 bei Rentenansprüchen aus der Arbeiterrentenversicherung grundsätzlich mit der Entstehung des Rentenanspruchs oder erst mit der Antragstellung"
Normenkette
RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15
Tenor
In dem Rechtsstreit D. ./. Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz wird gemäß § 42 des Sozialgerichtsgesetzes dem Großen Senat des Bundessozialgerichts folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Beginnt die Verjährungsfrist des § 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung bei Rentenansprüchen aus der Rentenversicherung der Arbeiter grundsätzlich mit der Entstehung des Rentenanspruchs oder erst mit der Antragstellung?
Gründe
Der Senat hat über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:
Die im Jahre 1913 geborene Klägerin ist die Witwe des im Jahre 1943 verstorbenen Versicherten D. . Sie beantragte im Dezember 1967 die Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes. Die Rente wurde ihr mit Bescheid vom 28. März 1968 vom 1. Dezember 1963 an gewährt, für die Zeit davor dagegen wegen Verwirkung des Anspruchs abgelehnt. Die dagegen erhobene Klage, mit der die Klägerin Rentenzahlung bereits für die Zeit vom 1. Januar 1957 an begehrt, hatte vor dem Sozialgericht (SG). Düsseldorf Erfolg. Während des Berufungsverfahrens erhob die Beklagte gegen die mit der Klage geltend gemachte Forderung zusätzlich die Einrede der Verjährung. Sie führte ein Vorverfahren durch und erließ am 15. Juli 1969 einen für die Klägerin negativen Widerspruchsbescheid. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte unter entsprechender teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 28. März 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juli 1969 verurteilt, der Klägerin einen neuen Bescheid über den Anspruch auf Gewährung von Witwenrente für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 30. November 1963 zu erteilen. Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Lauf der Verjährungsfrist nicht erst mit der Antragstellung, sondern bereits vorher mit der Entstehung des Anspruchs begonnen hat. Die Erhebung der Verjährungseinrede stehe zwar im Ermessen der Beklagten, die vorgebrachten Gründe rechtfertigten jedoch die Erhebung der Verjährungseinrede nicht. Da aber nicht feststehe, ob die Beklagte sämtliche für die Ermessensentscheidung zu berücksichtigenden Gesichtspunkte beachtet und bewertet habe, sei der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif; die Beklagte müsse vielmehr der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid erteilen. Mit der vom DSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, sie habe ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt, wenn sie im vorliegenden Fall die Verjährungseinrede erhoben habe.
Der erkennende Senat möchte im vorliegenden Fall entscheiden, daß der streitige Rentenanspruch für eine Zeit vor der Antragstellung verjährt ist, weil die Verjährungsfrist nicht erst mit der Antragstellung, sondern grundsätzlich bereits mit dem Eintritt der materiellen Anspruchsvoraussetzungen beginnt. An dieser Entscheidung ist er durch die entgegenstehenden Urteile des 4. Senats vom 25. Juni 1964 - 4 RJ 151/63 - und vom 2. Dezember 1964 - 4 RJ 185/61 - sowie durch das Urteil des 11. Senats vom 4. Mai 1965 - 11 RA 356/64 - gehindert. Der 4. und 11. Senat haben in diesen Urteilen die Ansicht vertreten, die Verjährungsfrist des § 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beginne stets erst mit der Antragstellung.
Der 5. Senat ist der Auffassung, daß die Verjährung grundsätzlich mit dem Eintritt der materiellen Anspruchsvoraussetzungen, d.h. mit dem Entstehen des materiellen Anspruchs beginnt. Die Verjährung beginnt daher bei solchen Pflichtleistungen, bei denen der Antrag keine materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung ist, grundsätzlich nicht mit dem Antrag, sondern mit dem Vorliegen der gesetzlich besonders normierten materiellen Anspruchsvoraussetzungen. Bei Pflichtleistungen, bei denen der Antrag materielle Anspruchsvoraussetzung ist, beginnt die Verjährung dagegen grundsätzlich mit dem Rentenantrag, oder, falls durch den Antrag der hiervon abweichende Anfang des Anspruchs bestimmt wird (z.B. § 1290 Abs. 2 RVO), mit diesem Anfangszeitpunkt. Bei Ermessensleistungen beginnt die Verjährung mit dem Feststellungsbescheid, da erst in diesem Zeitpunkt der Leistungsanspruch entsteht.
Vorliegend ist nur zu prüfen, wann die Verjährung bei Pflichtleistungen eintritt, bei welchen der Antrag keine materielle Anspruchsvoraussetzung ist:
Nach § 29 Abs. 2 RVO verjährt der Anspruch auf Leistungen der Versicherungsträger in vier Jahren nach der Fälligkeit. Nähere Vorschriften über das Rechtsinstitut der Verjährung, insbesondere über die Wirkungen, die Art der Geltendmachung, die Unterbrechung, den Zeitpunkt der Fälligkeit usw. enthält die RVO nicht. Daher sind insoweit die Vorschriften und Grundsätze des bürgerlichen Rechts entsprechend anzuwenden, soweit nicht die Besonderheiten des sozialrechtlichen Anspruchs dem entgegenstehen.
Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) geht in § 198 nur scheinbar abweichend von § 29 Abs. 3 RVO davon aus, daß die Verjährung mit der Entstehung des Anspruchs und nicht mit der Fälligkeit beginnt. Das ist darauf zurückzuführen, daß nach der Grundkonzeption des BGB Entstehung und Fälligkeit eines Anspruchs zusammenfallen. Wird der Anspruch aber ausnahmsweise erst nach seiner Entstehung fällig, so beginnt die Verjährung auch im bürgerlichen Recht nicht schon mit der Entstehung, sondern erst mit der Fälligkeit des Anspruchs (vgl. Enneccerus/Nipperdey, "Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts", 15. Aufl., 1960, 2. Halbband S. 1404; Staudinger, "Kommentar zum BGB", 11. Aufl., 1957, Anm. 5 zu § 198 Randziffer 13; Palandt, BGB, 29. Aufl., 1970, Anm. 1 zu § 198). Das gilt für die aufschiebend bedingten, die betagten und für die in der Rentenversicherung besonders bedeutsamen Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen - Renten - (vgl. Soergel/Siebert, BGB. 10. Aufl., 1967, Anm. 2 d zu § 198 Randziffer 8; Ermann, "Handkommentar zum BGB", 4. Aufl., 1967, Anm. 1 zu § 198; Palandt, aaO, Anm. 1 zu § 198). Der Beginn der Verjährung ist im BGB also nur scheinbar anders geregelt als in der RVO. In Wirklichkeit entsprechen sich diese Regelungen:
Die Verjährung beginnt, da ein Anspruch nicht vor seiner Entstehung fällig werden kann, nie vor seiner Entstehung. In der Regel beginnt er, weil ein Anspruch grundsätzlich, mit seiner Entstehung fällig wird, in diesem Zeitpunkt. Nur wenn die Fälligkeit ausnahmsweise erst zu einem nach der Entstehung liegenden Zeitpunkt eintritt, beginnt die Verjährung erst mit dem letzteren Zeitpunkt. Diese Klärung erleichtert die entsprechende Anwendung der Vorschriften und Grundsätze des BGB über die Verjährung auf die Leistungsansprüche der gesetzlichen Rentenversicherung.
Während die Bestimmung der Anspruchsentstehung keine Schwierigkeiten macht, da der Anspruch entsteht, wenn seine materiellen Voraussetzungen eintreten, gibt das bürgerliche Recht nur wenige Anhaltspunkte dafür her, wann die Fälligkeit eines Anspruchs eintritt. Man kann aber dem § 271 BGB entnehmen, daß ein Anspruch fällig wird, wenn der Gläubiger die Leistung "sofort" verlangen kann. Dies ist die im bürgerlichen Recht anerkannte Definition dieses Begriffs (vgl. Staudinger, Kommentar zum BGB, Anm., 1 Abs. 4 zu § 271 und Anm. 1 zu § 284). Da nur Leistungen verlangt werden können, die durch Klage geltend gemacht werden können, trifft dies nur für einklagbare Ansprüche zu (Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 32 I). Die Möglichkeit, den Anspruch sofort durch Klage geltend machen zu können, ist untrennbar mit seiner Fälligkeit verbunden, so daß beide gleichzeitig eintreten (vgl. dazu Soergel/Siebert, Kommentar zum BGB, Anm. 1 zu § 198 Ziff. 3). Allerdings kann ausnahmsweise auch ein noch nicht fälliger Anspruch eingeklagt werden, jedoch nur mit der Maßgabe, daß die Leistung erst mit dem Fälligkeitstermin zu erbringen ist (§§ 257 his 259 der Zivilprozeßordnung - ZPO-). Hierunter fallen u.a. die nicht von einer Gegenleistung ab hängenden Geld- und die wiederkehrenden Leistungen. Da mit einer solchen Klage aber nicht die "sofortige" Leistung, sondern nur die Leistung zu einem späteren Zeitpunkt verlangt werden kann, beginnt die Verjährung in diesen Ausnahmefällen nicht schon mit der Möglichkeit der Klage, sondern erst mit dem Zeitpunkt, zu welchem die Leistung "sofort" verlangt werden kann.
Die Verjährung wird nach § 209 BGB normalerweise durch Erhebung der Klage unterbrochen. Nach § 211 BGB endet die Unterbrechung der Verjährung mit der Rechtskraft des Urteils. Wird die Klage abgewiesen, so beginnt mit diesem Zeitpunkt nach § 217 BGB eine neue - normale - Verjährungsfrist. Wird der Klage dagegen stattgegeben, so beginnt nach § 218 BGB eine neue Verjährungsfrist von - grundsätzlich - 30 Jahren.
Diese Rechtsgrundsätze des BGB gelten auch im öffentlichen Recht. Allerdings können sie nur entsprechend, d.h. unter Berücksichtigung der Besonderheiten des öffentlichen Rechts angewendet werden. Die in diesem Rahmen bedeutsamste Besonderheit des öffentlichen Rechts besteht darin, daß Leistungen - meist - erst erbracht werden dürfen, wenn der Anspruch positiv festgestellt ist.
Auch im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung darf, im Unterschied zum bürgerlichen Recht, die Leistung erst nach - positiver - Feststellung des Leistungsanspruchs erbracht werden. Der Feststellungsbescheid hat jedoch nur deklaratorische Bedeutung. In diesem Punkt hat sich dadurch, daß der Bescheid mit dem Inkrafttreten des SGG seinen urteilsähnlichen Charakter verloren hat, nichts geändert. Der Umstand, daß der Versicherungsträger die Leistung nicht erbringen darf, solange der Anspruch nicht positiv festgestellt ist, hat nur die Bedeutung einer Auszahlungssperre und berührt den materiellen Anspruch einschließlich seiner Fälligkeit ebenso wenig wie etwa ein bei Devisenbewirtschaftung erlassenes gesetzliches Verbot, vertraglich im Ausland zu erfüllende Leistungen im Ausland zu erbringen. Für diese Auffassung spricht auch, daß ein vor dem Zeitpunkt, in welchem der Anspruch entstanden ist oder von dem an er gesetzlich beginnt, zugestellter Feststellungsbescheid zwar diese Sperrwirkung hat, aber nicht die Fälligkeit herbeiführen kann, weil diese erst in dem späteren Zeitpunkt eintreten kann, in welchem die Rente gesetzlich beginnt. Der Anspruch besteht also trotz dieser Auszahlungssperre erst von dem Zeitpunkt an, in welchem seine Voraussetzungen erfüllt sind und wird in diesem Zeitpunkt oder, falls die Rente ausnahmsweise erst in einem späteren Zeitpunkt beginnt, in diesem späteren Zeitpunkt fällig, weil der Berechtigte von diesem Zeitpunkt an die Leistung "sofort" verlangen kann. In diesen Fällen, die praktisch allerdings nur beim Altersruhegeld vorkommen können, steht m.a.W. die Auszahlungssperre der Zahlung nicht entgegen, weil die Sperre bereits vor (oder in) dem Zeitpunkt, in welchem die Rente gesetzlich beginnt, weggefallen ist.
In den Fällen aber, in denen der Feststellungsbescheid erst in einem späteren Zeitpunkt zugestellt wird, weil der Antrag erst nach dem Eintritt des Versicherungsfalls gestellt und der Feststellungsbescheid erst danach erlassen und zugestellt wird, kann nichts anderes gelten. Zwar greift die Auszahlungssperre in diesen Fällen noch für eine beschränkte Zeit ein, doch darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Rentenanspruch schon vorher entstanden ist und die Zahlung - dem Zweck der Renten gemäß - für die Zeit erfolgt, für die die Rentenleistung dem Unterhalt des Berechtigten zu dienen bestimmt ist. Es würde der Systematik des Rechtsinstituts der Verjährung grundlegend widersprechen, wenn durch eine spätere Geltendmachung des Anspruchs - die im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren nur durch Antragstellung erfolgen kann - der Beginn der Verjährung zeitlich hinausgeschoben werden könnte. Ebenso aber würde es grundlegend dieser Systematik widersprechen, wenn durch den Schuldner, hier durch den Erlaß des Feststellungsbescheids, der Zeitpunkt des Beginns der Verjährung bestimmt werden könnte. Da die Verjährung, wie oben nachgewiesen, zwingend in demselben Zeitpunkt eintritt, in welchem die Fälligkeit eintritt, kann der bürgerlich-rechtliche Fälligkeitsbegriff auf die öffentlich-rechtlichen Ansprüche, bei denen gesetzlich ein Feststellungsverfahren der Zahlung vorgeschaltet ist, daher nicht schematisch, sondern nur entsprechend, d.h. unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten angewandt werden; er muß so angewandt werden, daß die grundlegende Systematik des Verjährungsbegriffs nicht verletzt wird. Das kann aber nur dadurch geschehen, daß die Fälligkeit i.S. des § 29 Abs. 3 RVO auch in diesen Fällen, in welchen die Zustellung des Feststellungsbescheids erst nach dem Zeitpunkt, in welchem die Leistung gesetzlich beginnt, erfolgt, in dem Zeitpunkt eintritt, in welchem die Leistung gesetzlich beginnt. Man muß bedenken, daß vor der Zustellung des Feststellungsbescheids wegen der Auszahlungssperre das "Verlangenkönnen sofortiger Leistung" im Sinne des bürgerlich-rechtlichen Fälligkeitsbegriffs gesetzlich - temporär - generell ausgeschlossen ist. Das bedeutet, daß der bürgerlich-rechtliche Fälligkeitsbegriff eine diesen Verhältnissen entsprechende Anwendung dahingehend findet, daß an die Stelle des "Verlangenkönnens sofortiger Leistung" die temporär alleinige Möglichkeit "sofortige Geltendmachung" des Anspruchs tritt. Denn es handelt sich hier nicht darum, daß die Voraussetzung des "Verlangenkönnens sofortiger Leistung" im Einzelfall nicht vorliegen, sondern darum, daß dieses Rechtsinstitut insoweit temporär überhaupt unanwendbar ist und daher entsprechend abgewandelt angewandt werden muß. Im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren kann der Anspruch allerdings nicht durch Klage, sondern nur durch Antrag geltend gemacht werden. Es kann daher hier nicht auf die Möglichkeit der Geltendmachung des Anspruchs durch Klageerhebung, sondern nur auf die durch Antragstellung ankommen. Entscheidend ist also im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren, von welchem Zeitpunkt an der Berechtigte die Möglichkeit hat, den Antrag auf Feststellung der gesetzlich in demselben Zeitpunkt oder später beginnenden Leistung zu stellen. Auch insoweit bedarf die Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Grundsätze auf das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren also einer Anpassung an die Besonderheiten dieses Verfahrens. Daß es im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren nicht auf die Möglichkeit der Klageerhebung ankommen kann, ergibt auch noch folgende Überlegung: Erst nach Erlaß des Feststellungsbescheides könnte eine Klage (§ 54 Abs. 4 SGG) erhoben werden. Sie ist jedoch nur gegen einen ablehnenden Bescheid zulässig und kann zudem nur innerhalb der Klagefrist von einem Monat nach Zustellung des Bescheides erhoben werden. Die hiernach bestehende sehr beschränkte Klagemöglichkeit kann jedoch keine Verjährungsfrist in Lauf setzen, weil die mit der Antragstellung eingetretene Unterbrechung der Verjährung nach § 220 i.V.m. dem entsprechend anwendbaren § 211 BGB bis zur Rechtskraft des Bescheides weiterwirkt, nach Rechtskraft des Bescheides aber eine Klage nicht mehr möglich ist. Die dargestellten Grundsätze passen sich im übrigen zwanglos in die Systematik des BGB ein, nach welcher die Verjährung in den Fällen, in denen der Anspruch vor einer Verwaltungsbehörde geltend zu machen ist, auf Grund des nach § 220 BGB entsprechend anzuwendenden § 209 BGB durch das für das betreffende Verwaltungsverfahren vorgeschriebene Gesuch oder den vorgeschriebenen Antrag unterbrochen wird. Dasselbe gilt nach § 220 BGB, der auch das sozialgerichtliche Verfahren erfaßt und durch den § 210 BGB für anwendbar erklärt wird. Der Umstand, daß in diesen Fällen die Verjährung nicht durch die Klage, sondern durch den Antrag unterbrochen wird, spricht ebenfalls dafür, daß die Verjährung nicht mit der Möglichkeit der Klageerhebung, sondern mit der Möglichkeit der Antragstellung beginnt. Ebenso wie im bürgerlichen Recht der Zeitpunkt, von welchem an Klage auf Verurteilung zur Leistung von diesem Zeitpunkt an möglich ist, mit dem Zeitpunkt der Fälligkeit übereinstimmt, fällt auch im sozial-rechtlichen Verwaltungsverfahren der Zeitpunkt, von welchem an Antrag auf Feststellung für die mit diesem Zeitpunkt beginnende Rente gestellt werden kann, mit dem entsprechenden Fälligkeitszeitpunkt (s.o.) zusammen. Eine solche Antragstellung ist möglich, sobald der Anspruch entstanden ist oder, falls die Leistung gesetzlich erst von einem späteren Zeitpunkt an zu beginnen hat, von diesem späteren Zeitpunkt an. Ein verfrühter Antrag aber hat hier ebenso wenig wie eine Klage etwas mit der Fälligkeit zu tun, weil zu diesem Zeitpunkt noch kein Antrag auf "sofortige" Leistung möglich ist.
Es geht also nach alledem nicht an, den Begriff der Fälligkeit des bürgerlichen Rechts unverändert auf öffentlich-rechtliche Ansprüche, bei denen erst nach Erlaß eines Feststellungsbescheides Zahlung erfolgen darf, zu übertragen. Die entsprechende Anwendung dieses Begriffs führt vielmehr zu dem Ergebnis, daß in den Fällen, in denen die Feststellung nur deklaratorische Bedeutung hat, die Fälligkeit und damit die Verjährung selbst in den Fällen, in denen der Feststellungsbescheid vor dem Zeitpunkt des gesetzlichen Beginns der Rente zugestellt wird, in diesem letzteren Zeitpunkt beginnt. Das ist der Zeitpunkt, in welchem der Anspruch entsteht, d.h. dessen materielle Anspruchsvoraussetzungen vorliegen und, falls die Rente - ausnahmsweise gesetzlich erst später beginnt, dieser Zeitpunkt. Bei wiederkehrenden Leistungen (Renten), bei denen die Einzelleistungen gesetzlich zu einem späteren Zeitpunkt als dem Zeitpunkt des Entstehens des Gesamtanspruchs beginnen, tritt die Fälligkeit im Sinne des § 29 Abs. 3 RVO und damit die Verjährung erst mit diesem Zeitpunkt ein (so auch im Ergebnis Soergel, BGB 10./11. Aufl., Anm. 1 Abs. 4 zu § 271).
Der Rentenantrag kann die Fälligkeit eines Anspruchs dagegen nicht herbeiführen, weil er den materiellen Anspruch unberührt läßt. In den hier untersuchten Fällen, in denen der Antrag keine materielle Anspruchsvoraussetzung ist, kann der Anspruch daher durch die Antragstellung nicht entstehen. Aber auch die Fälligkeit des Anspruchs - ein materiell-rechtlicher Vorgang - kann deshalb durch die Antragstellung nicht eintreten, weil dieser nur eine verwaltungsverfahrensrechtliche und keine materiell-rechtliche Bedeutung hat. Falls der Berechtigte bis zur Antragstellung die Leistung nicht verlangen könnte, würde auch der Antrag nicht bewirken können, daß er nunmehr die Leistung verlangen kann. Ein etwa dem prozeßrechtlichen Rechtsschutzanspruch - der im übrigen selbst im Prozeßrecht überwiegend abgelehnt wird - ähnlicher Anspruch auf eine dem Berechtigten günstige Feststellung, der ohnedies auch nur verwaltungsverfahrensrechtlicher Natur sein und daher die Fälligkeit nicht herbeiführen könnte, ist dem Verwaltungsrecht unbekannt. Der Antrag ist lediglich Voraussetzung für das Tätigwerden der Verwaltung, die nach Stellung des Antrags auf Grund ihres sich aus § 1545 RVO ergebenden Auftrags durch Erlaß eines Feststellungsbescheides tätig werden muß. Wird sie innerhalb von sechs Monaten nicht tätig, so kann Untätigkeitsklage erhoben werden (§ 88 SGG), die aber lediglich auf Verurteilung zum Erlaß eines Feststellungsbescheids überhaupt, d.h. gleich welchen Inhalts, ergeht. Wollte man insofern einen Anspruch auf Tätigwerden der Verwaltung überhaupt anerkennen, so würde dieser doch erst sechs Monate nach Antragstellung entstehen und seinerseits ohne jeden Zweifel rein verfahrensrechtlicher Natur ohne Möglichkeit sein, materiell-rechtliche Veränderungen (Fälligkeit) zu bewirken.
Gegen die Ansicht, daß der Rentenantrag die Verjährungsfrist in Lauf setzt, spricht auch, daß bei einer solchen Annahme die Verjährung in den Fällen, in denen der Antrag bereits vor dem gesetzlichen Beginn der Leistung gestellt wird, die Fälligkeit früher eintreten würde als diese nach den Gesetz beginnt. Dies kann aber nicht zutreffend sein. Gegen die Annahme, daß die Verjährung mit der Antragstellung beginnt, spricht weiter, daß der Beginn der Verjährung und der Eintritt der Unterbrechung der Verjährung stets zusammenfallen würden. Dies wäre nicht nur merkwürdig, sondern kann auch deshalb nicht zutreffen, weil es dann, abgesehen von dem Sonderfall der Verjährung festgestellter Ansprüche, keine Verjährung von Rentenansprüchen gäbe. Die Systematik der Verjährungsvorschriften des BGB - vgl. § 220 i.V.m. den danach entsprechend anwendbaren anderen Vorschriften - zeigt aber, daß der Gesetzgeber gerade davon ausgeht, daß es auch bei den in Verwaltungsverfahren festzustellenden Ansprüche eine Verjährung nicht nur der festgestellten, sondern auch der noch nicht festgestellten Ansprüche gibt. Dagegen bestehen keine systematischen Bedenken, wenn nur ausnahmsweise, wie z.B. beim vorgezogenen Altersruhegeld, bei welchem der Anspruch materielle Anspruchsvoraussetzung ist, der Beginn der Verjährung und deren Unterbrechung zusammenfallen.
Nach § 220 i.V.m. § 211 Abs. 1 BGB endet die Unterbrechung der Verjährung mit dem Eintritt der Bindungswirkung des Bescheides. Soweit gegen einen Bescheid vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit Klage erhoben wird, endet die Unterbrechung der Verjährung nach denselben Vorschriften mit dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils. In beiden Fällen beginnt eine neue Verjährungsfrist.
Gegen die hier vertretene Ansicht wird eingewandt, der Berechtigte könne die Leistung nicht vor der Antragstellung verlangen, weil der Versicherungsträger sie bis dahin verweigern könne. Das Rechtsinstitut des zivilrechtlichen materiellen Leistungsverweigerungsrechts kann man aber nicht auf das sozialrechtliche Feststellungsverfahren übertragen. Hier gilt die Vorschrift des § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO, wonach der Rentenantrag das Verwaltungsverfahren einleitet, so daß der Versicherungsträger vorher nicht tätig werden kann. Es handelt sich überhaupt nicht um ein Leistungsverweigerungsrecht, sondern um eine darüber hinausgehende gesetzliche Auszahlungssperre, die auch das Verbot umfaßt Leistungen zu erbringen, bevor sie positiv festgestellt sind. Wenn ein Leistungsverweigerungsrecht hier überhaupt anerkannt werden könnte, müßte es zudem bis zur Zustellung des Feststellungsbescheides angenommen werden. Dann aber wäre die Verjährung nach dem entsprechend anwendbaren § 202 BGB bis zum Erlaß des Feststellungsbescheides gehemmt, so daß die Verjährungsfrist nicht mit dem Rentenantrag beginnen könnte, sondern erst mit dem Bescheid beginnen würde. Es wurde aber schon oben nachgewiesen, daß auch dies nicht zutreffend sein kann. Letztlich könnten die Versicherungsträger zudem die Leistung selbst dann, wenn deren Voraussetzung erfüllt ist, ablehnen, weil ihnen das Leistungsverweigerungsrecht bis zur Zustellung des Bescheides zustehen würde. Dies bestätigt, daß diese Auffassung nicht zutreffend sein kann.
Wollte man den Beginn der Verjährung von der Antragstellung abhängig machen, so käme man zudem in der gesetzlichen Rentenversicherung zu einem anderen Ergebnis als in der gesetzlichen Unfallversicherung und in der gesetzlichen Krankenversicherung. In der gesetzlichen Unfallversicherung sind nach § 1545 Abs. 1 Nr. 1 RVO die Leistungen unabhängig von einem Antrag festzustellen. Auf diesem Rechtsgebiet beginnt die Verjährung also unabhängig von einem Antrag schon mit der Entstehung des Anspruchs. Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung kommt man zu diesem Ergebnis, weil nach § 223 RVO die Verjährung für Leistungsansprüche, gegen die Krankenkassen mit der Entstehung des Anspruchs beginnt. Es kann aber nicht richtig sein, daß die Verjährungsvorschriften für die in der RVO geregelten Rechtsgebiete zu grundsätzlich unterschiedlichen Ergebnissen führen würden, indem sie in der Rentenversicherung abweichend von den übrigen Zweigen der Sozialversicherung nicht schon mit der Entstehung des Anspruchs, sondern erst mit der Antragstellung beginnen und damit für noch nicht festgestellte Ansprüche überhaupt ausgeschlossen wäre.
Man muß im übrigen berücksichtigen, daß die Verjährung ganz allgemein dem Rechtsfrieden dient, indem sie den Schuldner davor schützt, wegen weit in der Vergangenheit liegender Forderungen in Anspruch genommen zu werden und noch mit entsprechenden Rechtsstreitigkeiten, bei denen natürlich besonders große Beweisschwierigkeiten auftreten würden, überzogen zu werden, gleichzeitig aber den Gläubiger zwingt, seine Ansprüche ohne Verzögerung geltend zu machen. Es wäre nicht recht verständlich, wenn dieser allgemeine Grundsatz allein in der Rentenversicherung bei noch nicht festgestellten Ansprüchen nicht gelten sollte; ein Grund für eine solche Ausnahmeregelung ist nicht ersichtlich.
Das hier gefundene Ergebnis wird auch in der Literatur überwiegend vertreten (Brackmann, "Handbuch der Sozialversicherung", 1. bis 7. Aufl., 1970, Band III S. 742 g; Koch/Hartmann, AVG, 2. und 3. Aufl., 1970, Band V, § 29 RVO Anm. IV, 2 b S. K 57/58; Dapprich, Kompaß, 1969, S. 223 ff; Niemann in SGb 1961, S. 234, 236; Liebe in SozVers 1963, s. 355 ff; Kluge in NJW 1965, S. 463; Bauer in DRV 1965, S. 86 ff., Barnewitz, "Kompaß", 1965, S. 301 ff; Casselmann in SGb 1970, S. 45, 46; a.A.: Haueisen in DOK 1965. S. 201 ff; Malkewitz in DRV 1963, S. 10, 18, 19; Barth in SozVers 1962, S. 289, 291; Schwankhart in SGb 1962, S. 193, 195; Söchting in SozVers 1963, S. 230 ff).
Durch die Entscheidung des 4. und 11. Senats ist kein Richterrecht im Sinne des Gewohnheitsrechts geschaffen worden, das für ähnliche Fälle und für andere Richter bindend wäre und das nur noch durch Gesetz geändert werden könnte. Vielmehr sind diese Urteile nur Rechtserkenntnisse, die für den entschiedenen Fall wirken. Auch höchstrichterliche Entscheidungen werden nur dann zur Rechtsquelle, wenn sie unwidersprochen hingenommen worden und dadurch Gewohnheitsrecht geworden sind (vgl. dazu Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., 1959, 1. Halbband, § 39 II 3 S. 267 ff, § 42 I 1 S. 274 und § 58 VI S. 344). Die Entscheidungen des 4. und 11. Senats zur Frage der Verjährung sind aber nicht nur stets von der Beklagten bekämpft worden, sondern auch in Rechtsprechung und Literatur auf Widerspruch gestoßen.
Eine andere Frage ist die, ob eine rückwirkende Änderung der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes grundsätzlich möglich ist (vgl. Grunsky, "Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung, Karlsruhe 1970). Wie der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts (vgl. Beschluß vom 21. April 1971 - GS 1/68 -) und der Bundesfinanzhof (vgl. Beschluß vom 25. März 1971 - II B 55-56/70 - teilweise abgedruckt in Der Betrieb 1971 S. 1287) jedoch bereits zutreffend entschieden haben, kann einer gerichtlichen Entscheidung jedenfalls dann nicht die Rückwirkung auf einen in der Vergangenheit liegenden Tatbestand versagt werden, wenn - wie im vorliegenden Fall - eine der beiden Parteien eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung erstrebt hat. Das durch das Grundgesetz geschützte Vertrauen dieses Beteiligten auf die wirkliche Gesetzeslage muß einen stärkeren Schutz genießen als das Vertrauen des anderen Beteiligten, wenn man einen solchen Schutz überhaupt für möglich halten würde, in die bloße Rechtsprechung eines Gerichts, die geändert werden soll (vgl. dazu auch Leibholz/Rinck, Grundgesetz, 3. Aufl. D Abs. 3 zu Art. 20).
Erst nach der positiven Beantwortung der Frage nach der Verjährung ergibt sich die Frage, ob sich der Versicherungsträger auf eine eingetretene Verjährung berufen darf. Die Erhebung der Verjährungseinrede unterliegt nämlich seinem pflichtgemäßen Ermessen. Es hängt von den Besonderheiten des Einzelfalles ab, ob der Versicherungsträger gegen Treu und Glauben verstößt, wenn er die Einrede der Verjährung erhebt. Härtefälle, z.B. diejenigen, in welchen der Versicherte im Vertrauen auf die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Verjährungsfrage vorläufig von der Antragstellung abgesehen hat, können hiernach sachgerecht entschieden werden.
Da der erkennende Senat nach § 42 SGG nicht ohne Anrufung des Großen Senats von den Urteilen des 4. und 11. Senats abweichen darf, muß die streitige Rechtsfrage dem Großen Senat vorgelegt werden.
Fundstellen