Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 07.11.2006; Aktenzeichen OVG 11 S 75.06) |
VG Berlin (Beschluss vom 25.09.2006; Aktenzeichen VG 15 A 78.06) |
Tenor
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 25. September 2006 – VG 15 A 78.06 – und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. November 2006 – OVG 11 S 75.06 – verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Berlin zurückverwiesen.
Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Bedeutung von Art. 6 GG und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach der Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis.
1. Der 1978 geborene Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Er heiratete im März 2002 eine türkische Staatsangehörige, die mit drei aus einer früheren Beziehung stammenden Kindern seit längerem in Deutschland lebt und eine Niederlassungserlaubnis besitzt. Im Dezember 2002 reiste der Beschwerdeführer mit einem Visum zum Zwecke des Familiennachzugs nach Deutschland ein. Seither lebt er mit seiner Ehefrau in ehelicher Lebensgemeinschaft. Zuletzt wurde ihm im Dezember 2004 eine bis zum 19. Dezember 2005 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Der Beschwerdeführer und seine Ehefrau bezogen seinerzeit Sozialleistungen; die Aufenthaltserlaubnis wurde verlängert, um dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, eine ausreichende Erwerbstätigkeit zu finden.
Seit Oktober 2005 ist der Beschwerdeführer bei einem Friseur angestellt. Er erzielt dort ein monatliches Nettoeinkommen von rund 680 EUR. Seine Ehefrau bezog in der Zeit von November 2005 bis April 2006 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von rund 145 EUR monatlich, da das Einkommen des Beschwerdeführers nicht ausreichte, den Bedarf der aus dem Beschwerdeführer und dessen Ehefrau bestehenden Bedarfsgemeinschaft zu decken. Seit Januar 2006 ging die Ehefrau des Beschwerdeführers einer Erwerbstätigkeit als Verkäuferin nach. Sie verdiente rund 550 EUR brutto im Monat.
2. Die Ausländerbehörde lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 25. Januar 2006 ab und drohte ihm die Abschiebung an. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Lebensunterhalt des Beschwerdeführers nicht gesichert sei. Die von ihm bezogenen Leistungen nach dem SGB II seien öffentliche Mittel. Es bestehe angesichts der angespannten Finanzlage des Landes Berlin ein überragendes öffentliches Interesse an einer sparsamen Haushaltsmittelbewirtschaftung, so dass ein weiterer Bezug von Sozialleistungen nicht mehr hingenommen werden könne.
3. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid Klage, über die noch nicht entschieden worden ist. Gleichzeitig beantragte er die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Er verwies darauf, dass seine Ehefrau und er seit Mai 2006 keine Sozialleistungen mehr bezögen.
4. Mit Beschluss vom 25. September 2006 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab: Der Beschwerdeführer habe mangels Sicherung des Lebensunterhalts keinen Anspruch auf die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Der monatliche Bedarf des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau betrage rund 997 EUR. Das Einkommen des Beschwerdeführers decke den Bedarf nicht. Die Einkünfte der Ehefrau könnten bei der Prognose über eine zukünftige dauerhafte Sicherung des Lebensunterhalts nicht berücksichtigt werden, da aufgrund der bisherigen Entwicklung ihrer Arbeitsverhältnisse ein dauerhafter Fortbestand des augenblicklichen Arbeitsverhältnisses zumindest zweifelhaft erscheine. Ohne Ermessensfehler sei auch zu Lasten des Beschwerdeführers über das Absehen von dem Erfordernis eines gesicherten Lebensunterhalts nach § 30 Abs. 3 AufenthG entschieden worden. Es sei zutreffend auf das überragende öffentliche Interesse an der Sicherung des Lebensunterhalts ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel abgestellt worden. Die Entscheidung sei auch deswegen ermessensfehlerfrei, weil das Ermessen bereits 2004 einmal zugunsten des Beschwerdeführers ausgeübt worden sei.
5. Mit seiner Beschwerde gegen diese Entscheidung machte der Beschwerdeführer unter anderem geltend, dass das Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts es nicht fordere, dass er das Familieneinkommen sichere. Es sei lediglich zu prüfen, ob er seinen eigenen Lebensunterhalt sichern könne. Wenn er sich von seiner Ehefrau trennen würde, könnte er seinen Lebensunterhalt sichern und hätte einen Anspruch aus § 31 AufenthG auf einen Aufenthaltstitel. Die Lösung des Verwaltungsgerichts verstoße daher elementar gegen Art. 6 Abs. 1 GG. Kehrte er in die Türkei zurück, falle sein Beitrag zum Familieneinkommen weg, was zur Folge hätte, dass sich die staatlichen Leistungen an seine Ehefrau erhöhten. Das sei bei der Entscheidung nicht berücksichtigt worden.
6. Mit Beschluss vom 7. November 2006 wies das Oberverwaltungsgericht die Beschwerde zurück: Das Eingreifen von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sei unstreitig. Ebenso sei unstreitig, dass der Beschwerdeführer nicht für den gesamten Familienunterhalt aufkommen könne. Der Unterhaltssicherung komme besondere Bedeutung zu. Deren Probleme mit Blick auf den engen Arbeitsmarkt und die offensichtlich nicht gegebene besondere berufliche Qualifikation der Eheleute habe die Ausländerbehörde in Ausübung ihres Ermessens mit der einmaligen Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr Rechnung getragen. Dass sich der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers für die Unterhaltssicherung seiner Ehefrau in gewissem Umfang auch für die öffentlichen Kassen entlastend auswirken könne, lasse die Ermessensausübung nicht sachwidrig erscheinen. Dies gelte mit Blick auf die rein ausländische Ehe insbesondere auch deshalb, weil den Eheleuten zur Wahrung ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft grundsätzlich die Fortsetzung der Ehe in ihrem Heimatland zumutbar sei.
7. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG. Die Fachgerichte hätten § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG fehlerhaft angewendet und damit gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoßen. Dies zeige sich schon daran, dass im Falle der Ausreise des Beschwerdeführers dessen Einkünfte nicht mehr für die Sicherung des Lebensunterhalts seiner Ehefrau zur Verfügung stünden. Diese müsste dann höhere Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Würde sich der Beschwerdeführer von seiner Ehefrau trennen, so stünde ihm zweifelsfrei ein Aufenthaltsrecht zu. Dies zeige, dass die Entscheidungen gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstießen.
8. Das Bundesverfassungsgericht untersagte im Wege der einstweiligen Anordnung der Ausländerbehörde, bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde die angedrohte Abschiebung zu vollziehen (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 2006 – 2 BvQ 64/06 –).
9. Die Senatsverwaltung für Justiz des Landes Berlin hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Sie hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG.
1. Der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Der Beschwerdeführer hat deutlich gemacht, dass er bereits durch die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes in verfassungsmäßigen Rechten verletzt ist (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 35, 382 ≪397 f.≫; 53, 30 ≪53 f.≫; 59, 63 ≪83 f.≫; 76, 1 ≪40≫). Dies ergibt sich schon daraus, dass für den Beschwerdeführer mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes die Aufgabe seiner Erwerbstätigkeit und die Trennung von seiner Ehefrau bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verbunden sind. Darüber hinaus treffen beide Entscheidungen Aussagen zur Rechtmäßigkeit der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Beschwerdeführer war daher nicht gehalten, vor der Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts zunächst den Rechtsweg in der Hauptsache zu durchlaufen.
2. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zum Schutz der Ehe und zum effektiven Rechtsschutz bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
3. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG. Ausgehend von dem rechtlichen Ansatz der Gerichte, dass es für die Begründetheit des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO im Wesentlichen auf die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren und damit im Fall des Beschwerdeführers auf einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ankommt, ist festzustellen, dass die angegriffenen Entscheidungen Bedeutung und Tragweite von Art. 6 Abs. 1 GG im Rahmen der Prüfung dieses Anspruchs verkennen.
a) Art. 6 Abs. 1 GG verbietet es, Ehegatten im Vergleich zu Ledigen allein deshalb schlechter zu stellen, weil sie verheiratet sind (vgl. BVerfGE 69, 188 ≪205≫; 114, 316 ≪333≫; stRspr). Die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft kann zwar zum Anknüpfungspunkt (wirtschaftlicher) Rechtsfolgen genommen werden. Jedoch müssen sich für eine Differenzierung zu Lasten Verheirateter aus der Natur des geregelten Lebensverhältnisses einleuchtende Sachgründe ergeben (BVerfGE 28, 324 ≪347≫). Die Berücksichtigung der durch die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft gekennzeichneten besonderen Lage der Ehegatten darf gerade bei der konkreten Maßnahme die Ehe nicht diskriminieren (BVerfGE 114, 316 ≪333≫).
Indes gewährt Art. 6 GG nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (vgl. BVerfGE 51, 386 ≪396 f.≫; 76, 1 ≪47≫; 80, 81 ≪93≫). Das Grundgesetz überantwortet die Entscheidung, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht werden soll, weitgehend der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt (vgl. BVerfGE 76, 1 ≪47 f., 51 f.≫; 80, 81 ≪92≫). Dem Ziel der Begrenzung des Zuzugs von Ausländern darf von Verfassungs wegen erhebliches Gewicht beigemessen werden (vgl. BVerfGE 76, 1 ≪68≫).
Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 ≪49 ff.≫; 80, 81 ≪93≫).
Aus dem Zusammenwirken der verfassungsrechtlichen Vorgabe aus Art. 6 Abs. 1 GG, grundsätzlich keine Differenzierung zu Lasten Verheirateter zu treffen – es sei denn, diese ist durch einen einleuchtenden Sachgrund gerechtfertigt –, einerseits und der Offenheit der Verfassung gegenüber Regelungen des Gesetzgebers und der vollziehenden Gewalt zum Aufenthaltsrecht von Fremden im Bundesgebiet andererseits folgt zunächst, dass der Gesetzgeber und die vollziehende Gewalt zwar trotz Bestehens einer von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Beziehung unter Beachtung der familiären Bindungen im Einzelfall nicht von Verfassungs wegen zur Gewährung eines Aufenthaltsrechts gezwungen sein müssen. Jedoch verbietet es das aus Art. 6 Abs. 1 GG folgende Diskriminierungsverbot, ein Aufenthaltsrecht allein deswegen zu versagen, weil eine geschützte eheliche Lebensgemeinschaft besteht. Ein Rechtfertigungsgrund für eine solche Diskriminierung ist nicht vorstellbar.
b) Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Erwägungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts, mit denen ein Anspruch des Beschwerdeführers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis verneint worden ist, einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Art. 6 Abs. 1 GG ist bei der Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt, das aus dieser Norm folgende Diskriminierungsverbot nicht beachtet worden.
Die Rechtsanwendung der Gerichte hat zur Folge, dass der Beschwerdeführer im Falle der Aufgabe der ehelichen Lebensgemeinschaft einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hätte und er allein wegen des Bestehens der ehelichen Lebensgemeinschaft kein Recht auf Aufenthalt in Deutschland haben soll. Diese Differenzierung ist nicht zu rechtfertigen.
aa) Aus den Behördenakten und den Feststellungen der Gerichte ergibt sich, dass der Beschwerdeführer im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG hätte, da er zur Zeit des Antrags auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis über zwei Jahre in ehelicher Lebensgemeinschaft rechtmäßig im Bundesgebiet gelebt hatte. Sein Einkommen reichte zumindest seit November 2005 aus, seinen eigenen Bedarf – gemessen an den Maßstäben des SGB II – zu decken, so dass – unbeschadet des § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG – die Regelvoraussetzungen aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG erfüllt gewesen sind. Hinweise darauf, dass die Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen zu versagen wäre, lassen sich den vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen.
Das Aufenthaltsrecht der Ehefrau des Beschwerdeführers ist nach den Feststellungen der Gerichte ebenfalls unabhängig vom Bestand der Ehe. Sie ist nämlich im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und kann daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AufenthG), so dass eine Ausweisung wegen Sozialhilfebezugs in Anwendung von § 55 Abs. 2 Nr. 6
AufenthG nicht in Betracht kommen kann.
Die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegende Auffassung, wonach die Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 AufenthG) die Deckung des Bedarfs einer bestehenden Bedarfsgemeinschaft nach den Bestimmungen des SGB II zur Voraussetzung haben und zugunsten des Beschwerdeführers auch keine Ausnahme von der Regelvoraussetzung der so verstandenen Sicherung des Lebensunterhalts greifen soll, führt zu einer Schlechterstellung des Beschwerdeführers. Gerade weil er mit seiner Ehefrau in ehelicher Lebensgemeinschaft lebt, soll ihm kein Aufenthaltsrecht zustehen mit der Folge, dass seine Ehefrau und er die Ehe nur in der Türkei fortsetzen können, obwohl beide – jeweils für sich genommen – den Aufenthalt im Bundesgebiet beanspruchen können.
bb) Über den bereits festgestellten Umstand hinaus, dass die Schlechterbehandlung des Beschwerdeführers allein auf der von ihm geführten Ehe beruht, die Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis aber auch deswegen nicht gerechtfertigt, weil sie zur Erreichung des von der Ausländerbehörde und den Fachgerichten angenommenen Ziels – nämlich zur Entlastung des Sozialhaushaltes – ungeeignet ist. Der Beschwerdeführer selbst hat keinen Anspruch auf Sozialleistungen und erhält solche auch nicht. Das Aufenthaltsrecht seiner Ehefrau, die zumindest zum Zeitpunkt des Antrags des Beschwerdeführers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis Leistungen nach dem SGB II bezog, besteht – wie dargelegt – unabhängig von dem Bezug dieser Leistungen. Damit führt die Anwesenheit des Beschwerdeführers nicht zu einer Belastung, sondern allenfalls zu einer Entlastung der Sozialkassen, da der Beschwerdeführer – wenn auch in geringem Umfang – zur Deckung des Lebensunterhalts seiner Ehefrau beitragen kann. Die Beendigung seines Aufenthalts vermag die Sozialkassen daher offensichtlich nicht zu entlasten.
cc) Das Aufenthaltsgesetz bietet auch hinreichend Möglichkeiten, der Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 GG in der vorliegenden Fallgestaltung Rechnung zu tragen.
(1) Stellt man sich auf den in den angegriffenen Entscheidungen vertretenen Standpunkt, wonach sich die Sicherung des Lebensunterhalts auf die Bedarfsgemeinschaft erstreckt (so auch HessVGH, Beschluss vom 14. März 2006 – 9 TG 512/06 –, ZAR 2006, S. 145 ≪146≫ –; VG Stuttgart, Urteil vom 23. Januar 2006 – 4 K 3852/05 –, juris; Zeitler, HTK-AuslR / § 2 AufenthG / zu Abs. 3 – Lebensunterhalt 03/2007 Nr. 2), so kann die Behörde gemäß § 30 Abs. 3 AufenthG von dem Vorliegen dieser Regelvoraussetzung absehen. Ihr Ermessen reduziert sich dann auf Null, wenn anders eine verfassungswidrige, allein an das Bestehen einer Ehe anknüpfende Diskriminierung des Beschwerdeführers nicht vermieden werden kann und andere – im Fall des Beschwerdeführers derzeit nicht ersichtliche – Umstände, die gegen eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sprechen, nicht vorliegen.
(2) Es gibt aber auch gewichtige Stimmen in der Literatur, welche die Sicherung des Lebensunterhalts allein auf den einen Aufenthaltstitel begehrenden Ausländer beziehen (Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum AufenthG, Stand: Mai 2006, § 2 Rn. 43.3; Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 2 AufenthG Rn. 17; Hailbronner, AuslR, Stand: Januar 2005, § 2 AufenthG Rn. 23). Sollte diese Auffassung zutreffend sein, stellte sich die Frage einer Entscheidung nach § 30 Abs. 3 AufenthG hier nicht.
(3) Auch das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) kann der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Beschwerdeführers nicht entgegenstehen. Dahingestellt bleiben kann, ob der Umstand, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers Leistungen nach dem SGB II bezogen hat oder bezieht, überhaupt gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG einen Ausweisungsgrund in der Person des Beschwerdeführers begründet. Jedenfalls wäre die in § 5 Abs. 1 AufenthG eröffnete Möglichkeit, von den Regelvoraussetzungen der Erteilung eines Aufenthaltstitels abzusehen, zu nutzen, um ein mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbares Ergebnis zu vermeiden.
4. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer auch in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG. Der Beschwerdeführer hat zwar den Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG nicht ausdrücklich gerügt, dies hindert das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht, im Rahmen der Verfassungsbeschwerde seine Prüfung hierauf zu erstrecken (vgl. BVerfGE 6, 376 ≪385≫; 54, 117 ≪124≫; 58, 163 ≪167≫; 71, 202 ≪204≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. September 2005 – 2 BvR 2441/04 –, BVerfGK 6, 239 ≪241≫; stRspr).
a) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes kommt wesentliche Bedeutung bereits für den vorläufigen Rechtsschutz zu, dessen Versagung vielfach irreparable Folgen hat. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie (vgl. BVerfGE 37, 150 ≪153≫). Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes ist daher nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪401 f.≫; 69, 220 ≪227 f.≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Januar 1996 – 2 BvR 2718/95 –, AuAS 1996, S. 62 ≪63≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni 2005 – 2 BvR 485/05 –, BVerfGK 5, 328 ≪334≫).
Geltung und Inhalt dieser Leitlinien sind nicht davon abhängig, ob der Sofortvollzug eines Verwaltungsakts einer gesetzlichen (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 VwGO) oder einer behördlichen Anordnung (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) entspringt (vgl. BVerfGE 69, 220 ≪228 f.≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2003 – 1 BvR 2025/03 –, NVwZ 2004, S. 93 ≪94≫). Es gibt daher Fälle, in welchen trotz des grundsätzlichen Vorrangs des Vollziehungsinteresses bei kraft Gesetzes angeordneten Sofortvollzugs (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2003, a.a.O.) das Suspensivinteresse des Betroffenen überwiegt. Ein solches überwiegendes Suspensivinteresse steht jedenfalls dann im Raum, wenn der Vollzug eines Verwaltungsakts vor einer Entscheidung in der Hauptsache mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zunichte macht und die Rechtsfragen, welche bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des sofort vollziehbaren Verwaltungsakts zu beantworten sind, weder höchstrichterlich entschieden noch in Rechtsprechung und Literatur weitgehend einheitlich beantwortet worden sind. Liegt ein solcher Fall vor, bedarf es, soll der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung keinen Erfolg haben, eines besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Nur eine solche Abwägung des Suspensivinteresses gegen das Vollzugsinteresse vermag dem in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Anspruch auf umfassenden Rechtsschutz gerade bei drohenden unabänderlichen und endgültigen Folgen (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪401 f.≫) gerecht zu werden.
b) Gemessen an diesen Grundsätzen halten die angegriffenen Entscheidungen einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Auch dann, wenn man hier den grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses in Rechnung stellt und daraus folgert, dass die Gerichte – neben der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache – zu einer Einzelfallbetrachtung grundsätzlich nur im Hinblick auf solche Umstände angehalten sind, welche die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2003, a.a.O.), werden die angegriffenen Entscheidungen den aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht, weil mit der Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz vollendete Tatsachen auch für die Entscheidung in der Hauptsache geschaffen werden können, obschon die dabei zu beantwortenden Rechtsfragen umstritten und nicht höchstrichterlich geklärt sind.
Die angegriffenen Entscheidungen befassen sich bereits nicht damit, dass die Rechtsfrage, ob der Bedarf eines Ehegatten bei der Frage nach der Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG zu berücksichtigen ist, umstritten ist (zum Streitstand s. oben II. 3. b) cc) und eine höchstrichterliche Klärung noch aussteht. Vor allem aber übergehen sie, dass mit einer negativen Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz zu Lasten des Beschwerdeführers vollendete Tatsachen geschaffen werden.
Wenn der Beschwerdeführer nach einer negativen Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und vor einer Entscheidung über seine Klage die Bundesrepublik Deutschland verlassen müsste, scheiterte die Klage voraussichtlich daran, dass nach den maßgeblichen Verhältnissen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen die künftige Sicherung des Lebensunterhalts nicht prognostiziert werden könnte. Der Beschwerdeführer hätte nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand nämlich von der Türkei aus kaum eine realistische Aussicht auf eine hinreichend entlohnte Erwerbstätigkeit. Damit würde eine negative Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in tatsächlicher Hinsicht spürbar die Erfolgsaussichten in der Hauptsache beeinträchtigen. Dies verstößt jedenfalls dann gegen das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes, wenn keine weiteren, deutlich überwiegenden öffentlichen Interessen eine sofortige Aufenthaltsbeendigung fordern. Solche Interessen sind derzeit nicht zu erkennen. Dabei kommt es hier nicht darauf an, welches Gewicht fiskalischen Belangen bei der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in Fällen unterbliebener Verlängerung von Aufenthaltstiteln wegen fehlender Sicherung des Lebensunterhalts im Verhältnis zu Beeinträchtigungen von Ehe und Familie generell zukommen kann, weil der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers, wie dargelegt, die öffentlichen Kassen nicht belastet.
5. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf den festgestellten Verfassungsverstößen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Vorgaben zu einer dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG die angegriffenen Beschlüsse auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück.
III.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Broß, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1974868 |
NVwZ 2007, 1302 |
InfAuslR 2007, 336 |
AuAS 2007, 182 |