Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Beschluss vom 24.11.2005; Aktenzeichen L 9 B 259/05 SO PKH) |
SG Schleswig (Beschluss vom 15.08.2005; Aktenzeichen S 17 SO 232/05) |
Tenor
Die Beschlüsse des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. November 2005 – L 9 B 259/05 SO PKH – und des Sozialgerichts Schleswig vom 15. August 2005 – S 17 SO 232/05 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Sozialgericht Schleswig zurückverwiesen.
Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Ablehnung der Prozesskostenhilfe für ein sozialgerichtliches Verfahren, in dem der Beschwerdeführer einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung gemäß § 30 Abs. 5 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) begehrt.
I.
1. Der im Jahr 1937 geborene Beschwerdeführer bezieht Leistungen der Grundsicherung im Alter gemäß §§ 41 ff. SGB XII. Er leidet an einer Stoffwechselerkrankung (Diabetes mellitus Typ-2). Seinen Antrag auf Anerkennung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung lehnte der Sozialhilfeträger ab, weil bei Diabetes ein solcher Bedarf nicht bestehe.
2. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Klage und beantragte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Klageverfahrens.
a) Das Sozialgericht lehnte seinen Antrag auf Prozesskostenhilfe ab. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung biete keine Aussicht auf Erfolg. Der Beschwerdeführer habe keinen Anspruch auf einen Mehrbedarfszuschlag nach § 30 Abs. 5 SGB XII. Eine kostenaufwändige Ernährung sei bei Diabetes nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht veranlasst. Insofern komme es nicht mehr auf die „Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe” (im Folgenden: Empfehlungen) an, die der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (im Folgenden: Deutscher Verein) im Jahr 1997 erarbeitet habe. Die nach dem Kenntnisstand der Kammer aktuellste fachwissenschaftliche Stellungnahme, die die nationalen und internationalen Forschungsergebnisse zusammenfasse, sei die des Fachausschusses Ernährung der Deutschen Diabetes Gesellschaft aus dem Dezember 2004. Danach sei eine finanzielle Mehrbelastung von Diabetikern durch zusätzliche Kosten bei der Ernährung eindeutig zu verneinen. Erforderlich sei bei Diabetikern nur eine kohlenhydratreduzierte Ernährung. Diese sei nicht aufwändiger als eine durchschnittliche Ernährung.
b) Mit seiner Beschwerde hiergegen trug der Beschwerdeführer vor, die Stellungnahme der Deutschen Diabetes-Gesellschaft sei keine fundierte wissenschaftliche Stellungnahme, die geeignet wäre, Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung zu sein. In der Presse sei zudem wiederholt der Vorwurf laut geworden, die Deutsche Diabetes-Gesellschaft stehe der Pharmaindustrie nahe und werde durch diese größtenteils finanziert. Es überrasche deshalb nicht, dass die Deutsche Diabetes-Gesellschaft eine allein medikamentöse Behandlung der Diabeteserkrankung für ausreichend halte und eine ergänzende Therapie durch Diätprodukte und hochwertige Nahrungsmittel ablehne. Die Empfehlungen des Deutschen Vereins seien demgegenüber eine wissenschaftlich fundierte Studie.
c) Das Landessozialgericht wies die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts zurück und lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten als Rechtsanwalt ab.
aa) Die Beschwerde sei nicht begründet. Die Stellungnahme der Deutschen Diabetes Gesellschaft zum Thema „Mehraufwand für Diabeteskost” stimme mit den neueren gutachtlichen Aussagen zur Erforderlichkeit einer Krankenkostzulage bei Diabetes mellitus überein. Auch nach dem „Rationalisierungsschema 2004 des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM) e.V. und anderen” sowie dem „Begutachtungsleitfaden für den Mehrbedarf bei krankheitsbedingter kostenaufwändiger Ernährung (Krankenkostzulagen) gemäß § 23 Abs. 4 BSHG (jetzt: § 30 Abs. 5 SGB XII)” des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe vom Januar 2002 sei bei Diabetes mellitus eine diabetesorientierte kalorienreduzierte, fettarme und ballaststoffreiche Ernährung gegebenenfalls unter Nutzung der auch in Discountketten angebotenen, speziell für Diabetiker geeigneten Nahrungsmitteln angezeigt, ohne dass ein finanzieller Mehraufwand entstehe.
bb) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers seien nicht ausschließlich die Empfehlungen des Deutschen Vereins heranzuziehen. Zwar würden diese Empfehlungen als antizipiertes Sachverständigengutachten sowohl den Gerichten wie auch den Sozialhilfeämtern verlässliche Informationen zur einheitlichen Verwaltungshandhabung geben. Von diesen solle nur abgewichen werden, wenn die dort zugrunde gelegten Annahmen durch neue Erkenntnisse erschüttert oder die dort festgelegten Mehrbeträge aufgrund der Preisentwicklung überholt seien.
Solche neuen Erkenntnisse enthalte aber der Begutachtungsleitfaden des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe vom Januar 2002 als auch das Rationalisierungsschema 2004. Schon der „Begutachtungsleitfaden für den Mehrbedarf bei krankheitsbedingter kostenaufwändiger Ernährung der Ärzte im öffentlichen Gesundheitswesen” von 1999 gebe einen solchen Grund, von den Empfehlungen” abzuweichen. Dieser Leitfaden, der ebenfalls für Diabetes mellitus keine Mehrkosten mehr vorsehe, sei bereits in enger Anlehnung an die den Empfehlungen vorgelegten medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Gutachten und unter ihrer vollen Würdigung erstellt worden. Er sei von einer Vielzahl von Ärzten aus dem gesamten Bundesgebiet erarbeitet worden. Damit stütze er sich auf eine breitere Basis als die Empfehlungen, indem er zwar von diesen ausgehe, aber durch Beteiligung weiterer Sachverständiger und Einbeziehung neuer Erkenntnisse über diese hinausgehe. Ferner sei zu berücksichtigen, dass – anders als 1991 – Vollwertkost nicht nur in Reformhäusern zu bekommen, sondern auch in anderen Lebensmittelläden und Lebensmittelketten zu geringen Preisen erhältlich sei.
3. Der Beschwerdeführer hat gegen die sein Begehren ablehnenden Beschlüsse Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG. Durch die sozialgerichtlichen Entscheidungen werde einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten Partei die Rechtsverfolgung unverhältnismäßig erschwert. Sein Begehren werde durch die Empfehlungen des Deutschen Vereins gestützt. Diesen komme der Status eines antizipierten Sachverständigengutachtens zu. Über dieses Sachverständigengutachten könnten sich die Fachgerichte nicht mit einem Verweis auf wissenschaftliche Stellungnahmen hinwegsetzen. Dies sei allenfalls dann zulässig, wenn es sich bei diesen Stellungnahmen ebenfalls um antizipierte Sachverständigengutachten handelte. Dies sei nicht der Fall. Seien die Sozialgerichte also von der Richtigkeit der Empfehlungen des Deutschen Vereins nicht überzeugt, müssten sie nach Gewährung von Prozesskostenhilfe einen Sachverständigen beauftragen, der dann mittels seines Fachwissens zu klären habe, ob diesen Empfehlungen zu folgen sei. Die Sozialgerichte könnten dies nicht ohne Sachverständigenbeweis entscheiden, erst recht nicht im Prozesskostenhilfeverfahren. Hierzu fehle ihnen die ernährungswissenschaftliche und medizinische Kompetenz.
4. Das Land Schleswig-Holstein hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an. Die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hierfür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪356 f.≫ m.w.N.). Die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das sozialgerichtliche Verfahren verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
1. Aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für die Rechtsschutzgewährung in Art. 19 Abs. 4 GG besonderen Ausdruck findet, ergibt sich das Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104 ≪117 f.≫; 81, 347 ≪357≫; stRspr). Mit dem Institut der Prozesskostenhilfe hat der Gesetzgeber auch Unbemittelten einen weitgehend gleichen Zugang zu den Gerichten ermöglicht.
a) Zwar ist das Verfahren vor den Sozialgerichten ohne Anwaltszwang und gerichtskostenfrei ausgestaltet. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist hier jedoch insofern von Bedeutung, als der Unbemittelte durch die Beiordnung des Rechtsanwalts von dessen Vergütungsansprüchen freigestellt wird. Dem Unbemittelten ist daher gemäß § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 121 Abs. 2 Satz 1 erste Alternative ZPO ein Rechtsanwalt dann beizuordnen, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint.
b) Das Vorliegen der Voraussetzungen der Beiordnung eines Rechtsanwalts beurteilt sich im Einzelfall insbesondere nach Umfang und Schwierigkeit der Sache (vgl. BVerfGE 63, 380 ≪394≫). Das Gericht muss erwägen, ob ein Bemittelter in der Lage des Unbemittelten vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hätte. Davon ist regelmäßig dann auszugehen, wenn ausschließlich oder schwerpunktmäßig tatsächliche Fragen im Streit sind, die möglicherweise durch eine Beweiserhebung im Wege der Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens geklärt werden müssen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Dezember 2001 – 1 BvR 391/01 –, NZS 2002, S. 420).
2. Diese Maßstäbe haben die Sozialgerichte im vorliegenden Fall verkannt (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪358≫ m.w.N.). Sie haben die Rechtsverfolgung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorverlagert und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357≫).
a) Zwischen den Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist streitig, ob Diabetiker eine kostenaufwändige Ernährung benötigen. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen gehen im Ergebnis davon aus, dass diese umstrittene Frage aufgrund der von ihnen formlos beigezogenen medizinischen und gutachterlichen Stellungnahmen bereits geklärt sei, weil diese überzeugender seien als die Empfehlungen des Deutschen Vereins, auf die der Beschwerdeführer sein Begehren stützt. Sie haben damit eine abschließende Würdigung der widerstreitenden fachlichen Einschätzungen im Prozesskostenhilfeverfahren vorgenommen.
Die Sozialgerichte haben dadurch den Anspruch des Beschwerdeführers auf Rechtsschutzgleichheit verletzt. Denn ihre Entscheidungen haben zur Folge, dass die ablehnenden Verwaltungsentscheidungen zum Mehraufwand für Diabetikerkost bei einer unbemittelten Partei vollumfänglich bereits im Prozesskostenhilfeverfahren, bei einer bemittelten Partei dagegen im Hauptsacheverfahren überprüft werden. Das Prozesskostenhilfeverfahren wird jedoch überlastet und zweckentfremdet, wenn bereits dort eine inhaltliche Auseinandersetzung mit mehreren widerstreitenden medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Gutachten und Stellungnahmen erfolgen soll.
b) Es kann deshalb dahinstehen, ob die Sozialgerichte Verfassungsrecht auch dadurch verletzt haben, dass weder ersichtlich noch von ihnen dargelegt worden ist, woher sie ihre Sachkunde zur eigenständigen Beantwortung der streitigen Frage bezogen haben. Auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins greifen sowohl die Gesetzesbegründung (vgl. BTDrucks 15/1516, S. 57 zu § 21 Abs. 5 SGB II) als auch nach wie vor die Literatur – soweit ersichtlich einhellig – zurück (vgl. Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2005, § 30 Rn. 47; Falterbaum, in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: Januar 2006, § 30 Rn. 18; Hofmann, in: LPK-SGB XII, 7. Aufl. 2005, § 30 Rn.29; zu § 21 Abs. 5 SGB II vgl. Lang, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2005, § 21 Rn. 64; Kalhorn, in: Hauck/Noftz, SGB II, 2005, § 21 Rn. 26; Behrend, in: Radüge, jurisPK-SGB II, 2005, § 21 Rn. 42 f.; Herold-Tews, in: Löns/Herold-Tews, SGB II, 2005, § 21 Rn. 26 f.). Ein Abweichen von den Empfehlungen ist unabhängig von ihrer Rechtsnatur jedenfalls begründungsbedürftig und setzt entsprechende Fachkompetenz voraus, die im sozialgerichtlichen Verfahren entweder einzuholen oder – im Falle eigener Sachkunde des Gerichts – darzulegen ist.
3. Die angefochtenen Beschlüsse sind demnach aufzuheben; die Sache ist an das Sozialgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Es ist nicht auszuschließen, dass das Sozialgericht bei Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts zu einer für den Beschwerdeführer günstigen Entscheidung gelangt.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Gaier
Fundstellen
Haufe-Index 1974837 |
info-also 2006, 279 |