Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruchsüberleitung bei vor Sozialhilfebezug entstandenen Ansprüchen. Gleichzeitigkeit als Voraussetzung der Anspruchsüberleitung. Sozialhilfe, Überleitung von vor Bezug von – entstandenen Ansprüchen. Überleitung von vor Sozialhilfebezug entstandenen Ansprüchen
Leitsatz (amtlich)
§ 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG ermöglicht auch die Überleitung von Ansprüchen, die schon vor der Leistung von Sozialhilfe fällig geworden, aber im Zeitpunkt der Überleitung noch nicht erfüllt sind.
Normenkette
BSHG § 90 Abs. 1 S. 1, § 91
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Entscheidung vom 28.04.1998; Aktenzeichen 12 B 96.667) |
VG Augsburg (Entscheidung vom 06.02.1996; Aktenzeichen Au 3 K 95.1703) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. April 1998 und das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 6. Februar 1996 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
I.
Der Kläger hatte 1975 von seiner Mutter deren landwirtschaftliches Anwesen übernommen und als Gegenleistung mit ihr ein Leibgedinge vereinbart. Am 22. Oktober 1990 wurde die Mutter des Klägers in ein Pflegeheim aufgenommen. Am 23. November 1990 vereinbarte sie, vertreten durch den Bruder des Klägers als ihren Betreuer, mit dem Kläger, daß dieser zur Abgeltung seiner Verpflichtungen aus dem Leibgedingsvertrag ab dem 1. November 1990 monatlich 250 DM an sie zahlen solle. Diese Vereinbarung wurde vormundschaftsgerichtlich genehmigt.
Ab dem 1. Juni 1993 trug der Beklagte die Pflegeheimkosten im Rahmen der Hilfe zur Pflege. Durch Bescheid vom 28. Juli 1994 leitete er in der Annahme, der Wert der Befreiung des Klägers von seiner Verpflichtung aus dem Leibgedinge übersteige den vereinbarten Betrag von monatlich 250 DM, den Abgeltungsanspruch der Mutter des Klägers aus dem Übergabevertrag für die Zeit vom 22. Oktober 1990 (Heimaufnahme) bis zum 31. Mai 1993 (Tag vor Beginn des Zeitraums der Gewährung von Hilfe zur Pflege) auf sich über.
Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid vom 28. Juli 1994 und den dazu ergangenen Widerspruchsbescheid des Beklagten aufgehoben, der Verwaltungsgerichtshof die dagegen eingelegte Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Beide Vorinstanzen sind der Auffassung, daß die Überleitung von jeweils monatlich vor dem Zeitraum der Sozialhilfebewilligung fällig gewordenen Ansprüchen wegen des Grundsatzes der Gleichzeitigkeit nach § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG nicht möglich sei.
Der Beklagte hat gegen das Berufungsurteil Revision eingelegt. Er rügt Verletzung von § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG.
Der Kläger tritt der Revision entgegen, indem er die Rechtsauffassung der Vorinstanzen verteidigt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Beklagten ist begründet. Die vorinstanzlichen Entscheidungen, durch die der Klage stattgegeben worden ist, sind mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) nicht vereinbar, so daß sie auf die Revision des Beklagten aufzuheben sind und die Klage abzuweisen ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts ermöglicht § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG auch die Überleitung von Ansprüchen auf laufende Leistungen, die schon vor der Leistung von Sozialhilfe fällig geworden, aber im Zeitpunkt der Überleitung noch nicht erfüllt sind. Der Bescheid vom 28. Juli 1994, mit dem der Beklagte für die Zeit von der Heimaufnahme der Mutter des Klägers bis zur Gewährung der Sozialhilfe Geldleistungen aus dem Leibgeding über die Vereinbarung vom 23. November 1990 hinaus verlangt, ist daher rechtmäßig.
Im Ausgangspunkt zutreffend haben die Vorinstanzen den vom Kläger angefochtenen Überleitungsbescheid nach § 90 BSHG beurteilt. Zwar sind aus dessen Anwendungsbereich Ansprüche gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen durch § 91 BSHG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms – FKPG – vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944) herausgenommen worden. Der vom Beklagten übergeleitete Anspruch – mag er dem Berufungsgericht auch „unterhaltsrechtsähnlich” erscheinen – ist jedoch kein „Unterhaltsanspruch” im Sinne dieser Vorschrift (vgl. BVerwGE 92, 281 ≪285≫).
Den Vorinstanzen ist auch darin zu folgen, daß die Überleitungsbefugnis nach § 90 BSHG dem Erfordernis der Gleichzeitigkeit des überzuleitenden Anspruchs des Hilfeempfängers und der Sozialhilfeleistung unterliegt. Doch entspricht es nicht dem Gesetz, daß das Berufungsgericht diese Voraussetzung einschränkend dahin versteht, „die Überleitung (könne) sich bei laufenden monatlichen Ansprüchen … nur auf die Ansprüche beziehen, die für den Zeitraum (zeitabschnittsweise) fällig werden, für den auch Sozialhilfe geleistet wird”. Die vom Verwaltungsgerichtshof für erforderlich gehaltene „Identität der Verrechnungszeiträume”, die ohnehin nur im Verhältnis zwischen laufenden Sozialhilfeleistungen und Ansprüchen auf wiederkehrende Leistungen (vgl. S. 5 Mitte des Berufungsurteils: „… jeweils – unterhaltsrechtsähnlich – … fällig gewordene … Abgeltungsansprüche aus dem Leibgedingsvertrag”) bestehen kann, mag vor Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes Voraussetzung für eine Überleitung gewesen sein, als außer der Gleichzeitigkeit der dem Hilfebedürftigen von einem anderen geschuldeten Leistungen mit den Fürsorgeleistungen auch die Gleichartigkeit dieser Ansprüche rechtlich verlangt war; denn der Überleitung unterlagen nur „Rechtsansprüche gegen einen Dritten auf Leistungen zur Deckung des Lebensbedarfs” (vgl. § 21 a Abs. 1 Satz 1 RVF). Der Gesetzgeber hat sich jedoch schon in der ursprünglichen Fassung von § 90 BSHG vom 30. Juni 1961 (BGBl I S. 815) für eine umfassendere Regelung entschieden, indem er, an dem Grundsatz der Gleichzeitigkeit festhaltend, ohne aber auch den Grundsatz der Gleichartigkeit zu übernehmen, (jedweden) „Anspruch gegen einen anderen … für die Zeit, für die … Hilfe … gewährt wird”, zur Überleitung vorgesehen hat. Dementsprechend hat der Anwendungsbereich des § 90 BSHG stets auch Ansprüche gegen Dritte auf einmalige Leistungen umfaßt (vgl. z.B. BVerwGE 66, 82 ≪87 f.≫: Anspruch auf Rückzahlung eines Darlehens, Anspruch auf Rückgewähr einer Schenkung nach § 528 BGB).
Die von den Vorinstanzen vertretene enge Auslegung des Merkmals der Gleichzeitigkeit findet auch in dem Gesetzeszweck des § 90 BSHG keine Stütze. Diese Vorschrift dient, wie der Senat bereits in BVerwGE 85, 136 (137 f.) ausgeführt hat, der Durchsetzung des Grundsatzes des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 BSHG), indem sie den Träger der Sozialhilfe in die Lage setzt, durch Eintritt in die Gläubigerposition des Hilfeempfängers den Zustand nachträglich herzustellen, der dem vom Gesetz gewollten Vorrang der Verpflichtung anderer entspricht, die dem Hilfeempfänger die erforderliche Hilfe hätten gewähren müssen. Die Überleitungsermächtigung zielt also auf die Herstellung derjenigen Haushaltslage beim Sozialhilfeträger, die bestünde, wenn der Anspruch des Hilfeempfängers schon früher erfüllt worden wäre. Dabei kommt dem Tatbestandsmerkmal „Hilfeempfänger” in § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG in Zusammenhang mit dem Prinzip der Gleichzeitigkeit, dem „Haben eines Anspruchs für die Zeit, für die Hilfe gewährt wird”, (lediglich) die Funktion zu, den Anspruch zu identifizieren, dessen Erfüllung unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit die Hilfegewährung entbehrlich gemacht hätte und der deshalb nunmehr zur Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe übergeleitet werden soll (s. BVerwG, a.a.O., S. 138).
Aus der Sicht des Nachranggrundsatzes hängt die Anwendbarkeit des § 90 BSHG somit nur davon ab, ob und inwieweit infolge der Nichterfüllung der in Rede stehenden Verpflichtung eines Dritten Sozialhilfe zur Abwendung der Notlage hat geleistet werden müssen. Das Merkmal der Gleichzeitigkeit verweist insoweit mithin auf einen (hypothetischen) Kausalzusammenhang zwischen Sozialhilfeleistung und Nichterfüllung des Anspruchs des Hilfeempfängers gegen einen Dritten. Auf Entstehungsgrund und Beschaffenheit dieses Anspruchs (als Anspruch auf einmalige Leistung oder auf wiederkehrende Leistungen) kommt es – anders als im Rahmen von § 91 BSHG – nicht an. In zeitlicher Hinsicht wird lediglich vorausgesetzt, daß der Anspruch gegen den Dritten im Zeitpunkt der Sozialhilfeleistung fällig und seinem Gegenstand nach geeignet gewesen sein muß, die Notlage abzuwenden bzw. den Hilfebedürftigen zur Selbsthilfe (§ 2 Abs. 1 BSHG) zu befähigen. Dies entspricht dem „Bezug zur Bedarfszeit” als einer gemeinsamen Voraussetzung für die Einsetzbarkeit von Einkommen und Vermögen, die nach der Rechtsprechung des Senats ebenfalls „Zeitraumidentität” nur in dem Sinne erfordert, daß Einkommen und/oder Vermögen in der Zeit des sozialhilferechtlichen Bedarfs zur Bedarfsdeckung verfügbar sein müssen, während es nicht darauf ankommt, ob diese Mittel für einen mit dem Bedarfszeitraum identischen Zeitraum „bestimmt” sind (vgl. BVerwGE 108, 296 ≪298≫). Deshalb sind auch in der Vergangenheit entstandene Ansprüche überleitungsfähig, wenn und soweit sie im Zeitpunkt der Hilfegewährung noch nicht erfüllt sind.
Nach diesen Grundsätzen sind die vom Beklagten behaupteten Ansprüche der Mutter des Klägers aus Art. 18 BayAGBGB, die über die unter dem 23. November 1990 vereinbarten Beträge hinausgehen, nach § 90 BSHG überleitungsfähig: Diese Ansprüche waren noch nicht erfüllt und bestanden – sofern höhere als die vereinbarten Leistungen denn vom Kläger überhaupt geschuldet waren – im Zeitpunkt der Gewährung von Hilfe zur Pflege (ab 1. Juni 1993) noch als Anspruch auf Nachentrichtung von Geldrentenleistungen fort.
Der vom Kläger mit dem Verwirkungseinwand geltend gemachte Vertrauensschutz gegenüber einer unerwarteten nachträglichen Heranziehung zu über die Vereinbarung vom 23. November 1990 hinausgehenden Zahlungen betrifft ebensowenig wie die Frage der Wirksamkeit dieser Vereinbarung und der Tragweite ihrer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung die Überleitungsfähigkeit eines entsprechenden Nachzahlungsanspruchs, sondern die Frage, ob ein solcher Anspruch überhaupt besteht. Diese Frage fällt aber – da der vom Beklagten behauptete Anspruch auch unter diesen Gesichtspunkten nicht offensichtlich ausscheidet (Negativevidenz, vgl. dazu z.B. BVerwGE 92, 281 ≪283 f.≫) – in die Prüfungszuständigkeit der Zivilgerichte.
Aus diesen Gründen war der Revision des Beklagten mit der Kostenfolge für den Kläger aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Säcker, Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 28.10.1999 durch Müller Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 558304 |
NJW 2000, 601 |
BVerwGE, 5 |
NVwZ 2000, 325 |
DÖV 2000, 250 |
FEVS 2000, 164 |
NDV-RD 2000, 10 |
ZfSH/SGB 2000, 105 |
BayVBl. 2000, 351 |
DVBl. 2000, 641 |
GV/RP 2000, 180 |
KomVerw 2000, 187 |
FSt 2000, 452 |
FuBW 2000, 343 |
FuHe 2000, 531 |
FuNds 2000, 472 |
info-also 2000, 93 |