Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch bei Bezug von Sozialleistungen. Erfüllungsfiktion. Doppelleistung. Informationspflicht des Sozialleistungsträgers
Leitsatz (redaktionell)
1. Besteht ein Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X, tritt die Erfüllungsfiktion sogar bei einer sogenannten Doppelleistung ein, insbesondere auch dann, wenn der vorrangig verpflichtete Leistungsträger – hier die Familienkasse – bereits geleistet hat, bevor der Träger der Sozialleistungen seinerseits Leistungen an den Berechtigten erbracht hat. Das bloße Erheben eines Erstattungsanspruches, der tatsächlich nicht besteht, löst die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X dagegen nicht aus.
2. § 102 Abs. 1 SGB X gilt nur für solche vorläufigen Leistungen, die ihre Grundlage in einer Ungewissheit über die Leistungszuständigkeit des angegangenen Leistungsträgers haben.
3. Der Sozialleistungsträger muss die Familienkasse über die Gewährung ungekürzter Sozialleistungen informieren, wenn er vermeiden will, dass ein Leistungsempfänger und Kindergeldberechtigter durch Kindergeld einerseits und ungekürzte Sozialleistungen andererseits doppelt begünstigt wird.
4. Bloße Vermutungen zu den wesentlichen Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch nach den §§ 102 ff. SGB X – selbst wenn diese lebensnah erscheinen und sich im Nachhinein deren Richtigkeit herausstellt – genügen nicht, um der Familienkasse die positive Kenntnis von dem Erstattungsanspruch des Sozialleistungsträgers mit der notwendigen Sicherheit zu verschaffen.
Normenkette
AO § 37 Abs. 2 S. 1; EStG § 31 S. 3, § 74 Abs. 2; SGB X § 102 Abs. 1, § 104 Abs. 1 S. 1, § 107 Abs. 1
Tenor
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Rückforderung des für die Monate Oktober 2017 und November 2017 gezahlten Kindergeldes in Höhe von insgesamt 396,00 Euro Streitgegenstand war.
Der Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 02. Mai 2018 wird in der Gestalt, die dieser durch die Einspruchsentscheidung der Beklagten vom 20. Juli 2018 und den hierzu ergangenen Änderungsbescheid vom 27. August 2019 gefunden hat, aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Davon ausgenommen sind die der Beigeladenen ggf. entstandenen Aufwendungen, die nicht erstattet werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rückforderung von Kindergeld, das in den Monaten Oktober 2017 und November 2017 sowie Februar 2018 und März 2018 für das Kind B zur Auszahlung gekommen ist.
Die Klägerin ist Mutter des am 08. April 2005 geborenen Kindes C, des am 25. Mai 2009 geborenen Kindes D, des am 29. Juli 2013 geborenen Kindes E sowie des am 23. Oktober 2017 geborenen Kindes B.
Mit Bescheid vom 15. August 2013 setzte die Familienkasse für das Kind C für den Zeitraum von August 2013 bis April 2023 und für das Kind D für den Zeitraum von August 2013 bis Mai 2027 Kindergeld fest.
Für das Kind D hob die Familienkasse die zuvor erfolgte Festsetzung von Kindergeld mit Bescheid vom 26. November 2015 für den Zeitraum ab Dezember 2015 nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes auf mit der Begründung, dass das Kind im Haushalt des Kindesvaters lebe.
Für das Kind E hob die Familienkasse die zuvor erfolgte Festsetzung von Kindergeld mit Bescheid vom 16. Februar 2016 für den Zeitraum ab März 2016 nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes auf mit der Begründung, dass das Kind im Haushalt des Kindesvaters lebe.
Mit Schreiben vom 15. Dezember 2017 zeigte die Beigeladene der Familienkasse an, dass die Klägerin Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches beziehe und der Erstattungsanspruch nach § 104 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches geltend gemacht werde, weil die Klägerin möglicherweise Anspruch auf Kindergeld für das Kind B habe. Genauere Angaben zum Zahlungszeitraum oder Betrag der Leistungen oder zum Personenkreis der Leistungsbezieher erfolgten dabei nicht.
Mit Bescheid vom 10. Januar 2018 setzte die Familienkasse – neben dem Kindergeld für das Kind C – Kindergeld für das Kind B für den Zeitraum Oktober 2017 bis Dezember 2017 in Höhe von monatlich 198,00 Euro und für den Zeitraum ab Januar 2018 in Höhe von monatlich 200,00 Euro fest und veranlasste die entsprechenden Zahlungen.
Unter dem 26. April 2018 meldete das Jobcenter bei der Familienkasse einen Erstattungsanspruch für den Zeitraum vom 01. Oktober 2017 bis zum 30. November 2017 in Höhe von 396,00 Euro und für den Zeitraum vom 01. Februar 2018 bis zum 31. März 2018 in Höhe von weiteren 400,00 Euro – d.h. für insgesamt 796,00 Euro – an.
Mit Bescheid vom 02. Mai 2018 forderte die Familienkasse von der Klägerin unter Hinweis auf § 218 Abs. 2 der Abgabenordnung in Verbindung mit § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung die Erstattung von 796,00 Euro. Zur Begründung führte sie aus, da...