Entscheidungsstichwort (Thema)
Verrechnung von Kindergeld mit Sozialhilfe
Leitsatz (redaktionell)
1) Das Entstehen eines Erstattungsanspruchs des Sozialleistungsträgers gegen die Familienkasse nach § 74 Abs. 2 EStG i.V. mit §§ 104 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 SGB X setzt voraus, dass die Familienkasse Kenntnis von den Leistungen des Sozialleistungsträgers bezüglich der Zeiträume und der Höhe der Leistungen des Sozialleistungsträgers hat.
2) Ein „Kennenmüssen” dieser Umstände genügt nicht.
3) Ist der sozialhilferechtliche Erstattungsanspruch im Zeitpunkt der Auszahlung des Kindergelds für die Familienkasse noch nicht entsprechend konkretisiert, ist der Kindergeldanspruch noch nicht erfüllt (§ 47 AO) und die Kindergeldzahlung führt nicht zu einem Rückforderungsanspruch i.S. des § 37 Abs. 2 AO.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 2; SGB X §§ 104, 107; AO §§ 47, 37 Abs. 2
Nachgehend
BFH (Aktenzeichen III B 141/20) |
Tatbestand
Streitig ist die Rückforderung von Kindergeld in Höhe von 8616,39 €, das die Beklagte für die Kinder P, Q und R an die Klägerin gezahlt hat.
Die Klägerin stellte am 10.12.2015 auf Veranlassung der Beigeladenen einen Antrag auf Kindergeld für ihre Kinder P (geb. ….08.2003), Q (geb. ….06.2007), R (geb. ….04.2009) und S (geb. ….12.2014). Mit Schreiben vom 16.12.2015 (Bl. 46 der Kindergeldakte) teilte die Beigeladene der Beklagten mit, dass sie einen Erstattungsanspruch nach § 102 ff. SGB X für seit dem 01.12.2015 nach dem SGB II erbrachte Leistungen für die Kinder der Klägerin geltend mache. Da die Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II Schwankungen unterworfen seien, werde gebeten über die Bewilligung von Leistungen zu informieren und die Nachzahlung zunächst einzubehalten. Sie, die Beigeladene, werde sodann mitteilen, inwieweit ein Erstattungsbetrag bestehe und diesen Erstattungsbetrag bei der Beklagten einfordern. Dieses Schreiben blieb bei der Beklagten unberücksichtigt.
Mit Bescheid vom 16.02.2016 setzte die Beklagte das Kindergeld für die Kinder P, Q und R ab November 2015 fest, wobei sie in dem Bescheid darauf hinwies, dass der Anspruch für November 2015 i.H.v. 570 € im Hinblick auf die Leistung der Sozialhilfeverwaltung der Stadt G, die ebenfalls einen Erstattungsanspruch geltend gemacht und mit Schreiben vom 23.12.2015 nach Zeitraum und Höhe der Leistung spezifiziert hatte, als erfüllt gilt. Eine Auszahlung des darüber hinaus festgesetzten Kindergeldes erfolgte sodann – nach Übersendung weiterer Unterlagen durch die Klägerin – im April 2016. Mit Kassenanordnung vom 13.04.2016 (Bl 80 f. d. Kindergeldakte) wurde der Klägerin das Kindergeld für den Zeitraum Dezember 2015 bis April 2016 nach- und ab Mai 2016 laufend gezahlt. Eine Mitteilung der Beklagten an die Beigeladene ist nach Aktenlage nicht erfolgt.
Erst mit Schreiben vom 23.06.2017 wandte sich die Beigeladene erneut an die Beklagte (Bl. 106 der Kindergeldakte). Sie habe bereits mit Schreiben vom 16.12.2015 einen Erstattungsanspruch für die Kinder der Klägerin angemeldet. Für die Kinder P, Q und R sei ab Dezember 2015 Kindergeld gezahlt, jedoch von ihr – der Beigeladenen – erst ab März 2017 angerechnet worden. Es werde um Mitteilung gebeten, warum der Erstattungsanspruch nicht berücksichtigt worden sei. Nachdem die Beklagte der Beigeladenen mit Schreiben vom 14.07.2017 mitgeteilt hatte, dass der Erstattungsanspruch nicht beachtet worden sei und das Kindergeld von der Klägerin zurückgefordert werde, bat sie die Beigeladene mit Schreiben vom 12.09.2017 das Kind S betreffend (Bl. 118 ff d. Kindergeldakte), ihren etwaigen Anspruch für die Kinder P, Q und R zu beziffern. Nach Höhe und Zeitraum der Zahlungen im Einzelnen spezifiziert wurde der Erstattungsanspruch sodann für die Kinder jeweils getrennt mit Schreiben vom 26.3.2018 (Bl. 173 ff d. Kindergeldakte) in Höhe von insgesamt 8616,39 €.
Mit Bescheid vom 22.06.2018 forderte die Beklagte daraufhin diesen Betrag von der Klägerin zurück. Die Kindergeldzahlungen für den Zeitraum Dezember 2015 bis Februar 2017 seien zu Unrecht erfolgt, da der Kindergeldanspruch durch die Vorleistungen des Jobcenters der Stadt G bereits erfüllt gewesen sei. Der Betrag sei daher nach § 37 Abs. 2 AO zu erstatten.
Nach erfolglos geführtem Einspruchsverfahren begehrt die Klägerin mit ihrer Klage weiterhin die Aufhebung des Rückforderungsbescheides vom 22.06.2018. Sie habe gegenüber dem Jobcenter immer wahrheitsgemäße Angaben gemacht, das Jobcenter sei über den Bezug des Kindergeldes von Anfang an informiert gewesen. Sie habe daher auf die Richtigkeit der Verwaltungsakte vertrauen können. Der Klägerin sei zu Recht Kindergeld bewilligt worden. Sofern das Jobcenter den Bedarf der Klägerin und ihrer Kinder ohne Berücksichtigung von Kindergeld kalkuliert habe, handle es sich um einen Fehler, der von der Klägerin nicht verschuldet worden sei. Die Klägerin stamme aus Afrika und sei der deutschen Sprache kaum mächtig. Für sie sei nicht erkennbar gewesen dass sie von irgendeiner Stelle zu viel Geld bekommen habe. Sie beziehe nach ...