Entscheidungsstichwort (Thema)

Verpflichtung des Leistungsträgers zur vorläufigen Gewährung uneingeschränkter Leistungen nach § 3 AsylbLG durch einstweiligen Rechtsschutz. Im Einzelfall unabweisbar gebotene Leistungen. Verfassungskonforme Auslegung. Existenzminimum. Dauer der Leistungskürzung. Aufforderung zur Mitwirkung

 

Orientierungssatz

1. Nach der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 (Az.: 1 Bvl 10/10, 1 BvL 2/11) muss das Existenzminimum eines Asylbewerbers in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein. Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau vermeiden zu können, rechtfertigen danach kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum.

2. Auch im Rahmen des § 1 a AsylbLG darf der Leistungsumfang des menschenwürdigen Existenzminimums nicht unterschritten werden.

3. Mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG ist es unvereinbar, betroffenen Ausländern ohne zeitliche Begrenzung über Jahre hinweg eingeschränkte Leistungen nach § 1 a Nr. 1 AsylbLG zu gewähren, vor allem dann nicht, wenn diese es nicht in der Hand haben, durch eigenes Verhalten die Gewährung ungekürzter Leistungen herbeizuführen.

4. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 1 a AsylbLG steht einer dauerhaften Leistungsminderung entgegen. Einschränkungen der Grundleistungen wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens sind dann unverhältnismäßig, wenn bereits über mehrere Jahre hinweg eingeschränkte Leistungen nach § 1 a Nr. 2 AsylbLG bezogen wurden und durch die Leistungseinschränkung die bezweckte Mitwirkungshandlung des Ausländers nicht erreicht werden konnte.

 

Normenkette

AsylbLG § 1a Nr. 2, § 2 Abs. 1, § 3; AufenthG § 82; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 10. September 2013 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin, mit der diese beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 10. September 2013 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen,

ist gem. § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Sie ist insbesondere nicht gem. § 173 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Maßgebend ist, ob im Hauptsacheverfahren die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 SGG für eine zulassungsfreie Berufung vorliegen. Der danach maßgebliche Beschwerdewert von 750,00 € ist hier erreicht. Der nominale Regelungsgehalt des Bescheids vom 27. Mai 2013 mit dem ab 1. Juni 2013 bis 30.Juni 2013 Leistungen nur noch in Höhe von 217,00 €, d.h. ohne den Geldbetrag von 137,00 € zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums bewilligt wurden, ist zwar zeitlich auf den Monat Juni 2013 beschränkt, die Bewilligung für die Folgemonate erfolgt jedoch (zeitlich unbegrenzt) jeweils konkludent durch Weiterzahlung bzw. Überweisung (vgl. zu dieser Gestaltung BSG, Urteil vom 17. Juni 2008, B 8/9b AY 1/07 R, Juris RdNr. 11 ff.). Bei unveränderten Verhältnissen erlangt der Bescheid vom 27. Mai 2013 somit Bedeutung auch für die Folgemonate und damit Dauerwirkung. Aufgrund der auf diese Weise unbefristeten Bewilligung der Leistungen ist der Beschwerdegegenstand nicht auf den Monat Juni 2013 beschränkt. Der Antragsteller begehrt ungekürzte Leistungen jedenfalls ab Antragstellung am 6. August 2013. Der maßgebliche Beschwerdewert wird bereits durch Leistungseinschränkungen für 6 Monate (einschließlich Januar 2014) überschritten.

Die Beschwerde nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Nach § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.

Der Anordnungsgrund folgt aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen (vgl. auch Oppermann in jurisPK-SGB II, Stand 13. November 2013, RdNr. 103 zu § 1a AsylbLG).

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, dieser beruht auf § 3 AsylbLG in Verbindung mit der Übergangsregelung aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Der Antragsteller hat hiernach Anspruch auf die vorläufige Gewährung uneingeschränkter Leistungen nach § 3 AsylbLG nach den geltenden Bestimmungen bis zur Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache. Die in dem...

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